17. KAPITEL

Die Sonne drang wie tröpfchenweise ins Zimmer, ihr zitterndes Licht schaffte es kaum, den kleinen Platz zu erhellen, an dem Whitney Connolly wie wild an ihrem Computer tippte. Sie hatte heute Morgen das Protokoll gebrochen, hatte zwar ihre E-Mails durchgeschaut, aber keine davon beantwortet. Die einzige, die wichtig war, die einzige, die sie geöffnet hatte, war die von ihrem mysteriösen Freund mit der nicht nachvollziehbaren Yahoo-Adresse. Die Nachricht war einfach:

So gefangen zu sein,

so beherrscht vom rohen Blut der Luft,

hatte sie sich sein Wissen mit seiner Macht angeeignet,

bevor der gleichgültige Schnabel sie fallen lassen konnte?

Es gab kein PS. Die brauchte sie nun auch nicht mehr. Er hatte erkannt, dass sie es inzwischen herausgefunden hatte, und das wusste sie zu schätzen. Sie hatte keine Ahnung, woher er das wusste, aber es war auch egal.

Nachdem sie die Nachricht gelesen und erkannt hatte, was passiert sein musste, hatte Whitney sich an die Arbeit gemacht. Ein weiteres Mädchen war tot. Also recherchierte sie ein wenig. Das würde schließlich jeder gute Journalist tun, oder? Und wenn sie Nachrichten vom Southern Strangler bekam, musste sie den Hintergrund dazu kennen. Sie musste die Einzelheiten der Fälle zusammensetzen, wie ein guter Cop es tun würde. Sie hatte angefangen, über ihr Bewerbungs-Showreel nachzudenken. Es sollte alles fertig sein, damit sie nur noch diese Sensationsstory und das erste Interview mit dem Strangler würde hinzufügen müssen. Denn warum sonst sollte ihr jemand Nachrichten schicken, wenn nicht aus dem Grund, sich von ihr interviewen zu lassen?

Sie flog durch den Cyberspace, ihre Finger tippten eine schnelle Melodie auf der Tastatur. Sie hatte sich für die super informative Website über Serienmörder von Court TV entschieden. Sie trug die Suchkriterien ein, lehnte sich zurück und wartete darauf, dass die entsprechenden Antworten ausgespuckt würden. Sie suchte weiterhin nach anderen Fällen, in denen der Mörder Gedichte am Tatort zurückgelassen hatte.

Sie hielt eine Sekunde inne. In den Nachrichten war nichts über die Gedichte gesagt worden. Sie nahm an, dass man sie an den Tatorten gefunden hatte. Zumindest hatte ihre Quelle in Louisiana das behauptet. Das Gedicht war in Lerniers Sporttasche gewesen, aber niemand hatte sich etwas dabei gedacht. Aus der gleichen Quelle hatte sie gehört, dass das FBI jetzt die Gedichte besaß und ihre Wichtigkeit erkannte. Was bedeutete, dass sie noch schneller und härter arbeiten musste.

Shauna Davidson war in Georgia gefunden worden, aber der Tatort war immer noch hier in Nashville. Whitney tätigte einen Anruf, um bestätigt zu bekommen, dass es eine Nachricht in Shaunas Hinterlassenschaften gegeben hatte. Doch sie wurde sofort abgewürgt. Niemand sprach mit ihr. Das allein bestätigte schon ihren Verdacht – sie hatte eine enge Beziehung zu ihrer Quelle bei der Metro Police, und wenn die nicht redete, musste es wirklich ernst sein.

Sie wandte sich wieder dem Computer zu. Die Suchergebnisse waren vielfältig und zahlreich – offensichtlich gab es viele Serienmörder, die Gedichte liebten. Einige schrieben eigene, andere kopierten bestehende. Einige schummelten berühmte Dichter in ihre eigenen Werke. Sicherheitshalber fügte sie einen Artikel über den FQT-Mörder aus Wichita, Kansas, zu ihren Favoriten hinzu. Vielleicht stach ihr beim Lesen über Fesseln, Quälen, Töten irgendetwas ins Auge.

Sie lehnte sich zurück und dachte eine Minute nach. Vielleicht könnte sie wenigstens herausfinden, ob es sich bei den Gedichten um Originale oder Kopien handelte. Sie setzte ein Lesezeichen auf die Seite und öffnete ein neues Fenster. Bei Google tippte sie eine Zeile aus dem Gedicht von Susan Palmer ein. Eine perfekte Frau, nobel erdacht, schrieb sie und drückte die Entertaste. Bingo.

Offensichtlich war der Southern Strangler doch nicht so kreativ. Das Gedicht stammte von William Wordsworth und erzielte 4.950 Treffer in der Suchmaschine. Die Zeile stammte aus dem Gedicht “Phantom der Freude sie mir war”. Wie passend.

Whitney spürte, dass sie auf der richtigen Spur war. Sie führte die gleiche Suche für Jeanette Lerniers Nachricht durch. Ein Wesen, nicht zu klug oder zu gut. Wow, dafür gab es 304.000 Treffer. Sie zog sich das Gedicht heran und bemerkte, dass beide Nachrichten einfach nur Strophen aus ein und demselben Gedicht waren. Sie druckte es aus und zog das Papier in der Sekunde aus dem Drucker, als er fertig war. Dann las sie laut:

“Phantom der Freude sie mir war,

als sie anfangs bei meinem Anblick erglühte;

eine liebliche Erscheinung, gesandt,

um die Verzierung des Augenblicks zu sein.

Ihre lieblichen Augen wie Sterne der Dämmerung;

wie die Dämmerung auch ihr dunkles Haar;

aber alles andere von ihr war

aus der Maienzeit und dem heiteren Anbruch

des Morgens.

Eine tanzende Form, ein fröhliches Bild,

um heimzusuchen, zu erstaunen und aufzulauern.

Ich sah sie bei näherem Hinsehen,

ein Geist, und doch auch eine Frau!

Ihre häuslichen Bewegungen leicht und frei

und Schritte zur Jungfrauenbefreiung;

Eine Haltung in der sich trafen,

süße Erinnerungen und ebenso süße Versprechen.

Ein Wesen, nicht zu klug oder zu gut,

um des Menschen täglich Brot zu sein,

für vorübergehende Trauer einfache Listen:

Lob, Schuld, Liebe, Küsse, Tränen und Lächeln.

Und nun sehe ich mit ruhigem Blick

den wahren Puls der Maschine;

ein Wesen, das umsichtigen Atem atmet,

ein Reisender zwischen Leben und Tod;

Mit festem Verstand und gemäßigtem Willen,

Durchhaltevermögen, Voraussicht, Stärke und Können:

eine perfekte Frau, edel erdacht,

um zu warnen, zu trösten und zu befehlen;

und doch ein Geist, still und hell,

mit einem engelhaften Glanz.”

Nachdem sie zu Ende gelesen hatte, dachte sie einen Moment scharf nach. Irgendetwas stimmte nicht. Sie las das Gedicht noch einmal, und ihr fiel auf, dass das nicht die Zeilen aus dem letzten Gedicht waren, das sie erhalten hatte. Also startete sie eine neue Suche. Der Autor des Gedichtfragments aus der letzten Nachricht war William Butler Yeats. Sie druckte auch dieses Gedicht aus und las es laut.

“Leda und der Schwan

Ein plötzlicher Hieb, die großen Flügel

schlagen immer noch

über dem schwankenden Mädchen.

Ihre Schenkel werden liebkost

von seinen dunklen Netzen,

ihr Nacken gefangen in seinem Schnabel,

hält er ihre hilflose Brust an seiner Brust.

Wie können diese entsetzten schwachen Finger

die gefederte Pracht

von ihren sich lösenden Schenkeln drücken?

Wie kann irgendjemand,

in diesen weißen Rausch gebettet,

das fremde Herz nicht schlagen fühlen?

Ein Beben in den Lenden erzeugt

die gebrochene Mauer, Flammen an Dach und Turm,

und Agamemnon ist tot.

So gefangen zu sein,

so beherrscht vom rohen Blut der Luft,

hatte sie sich sein Wissen mit seiner Macht angeeignet,

bevor der gleichgültige Schnabel

sie fallen lassen konnte?”

Dieses Gedicht deckte Jessica Porter, Shauna Davidson und die jüngste Vermisste, die noch zu findende, aber sehr wahrscheinlich tote Marni Fischer ab. Das war eine ganz schön beeindruckende Symbolik. Aber Whitney war keine Literaturexpertin.

Sie ging zurück an ihren Schreibtisch und ließ sich auf das weiche Leder ihres Stuhls fallen, was einen quietschenden Protest auslöste. Nein, Whitney hatte nicht englische Literatur studiert. Das war ihre Zwillingsschwester gewesen, Quinn. Ihre eineiige Zwillingsschwester. Ashleigh Quinn Connolly Buckley, um genau zu sein. Verheiratet mit Jonathan “Jake” Buckley III, war sie die perfekte Belle-Meade-Hausfrau. Herausragende Junior-League-Gastgeberin. Mutter der zwei anbetungswürdigsten Kinder dieser Erde, den Zwillingen Jillian und Jake Junior.

Whitney verspürte einen Funken schlechten Gewissens. Sie hatte die Zwillinge schon seit Wochen nicht mehr angerufen. Sie konnte sich zwar so weit wie möglich von ihrer Schwester fernhalten, aber die Kinder waren eine andere Sache. Quinn hätte kein größeres Gegenteil von Whitney sein können, auch wenn sie es absichtlich versucht hätte. Das hatten sie sich ihr ganzes Leben anhören müssen, vor allem seit ihren Teenagerjahren. Dadurch waren sie erst richtig in ihre unterschiedlichen Identitäten hineingewachsen.

Ihre Mutter hatte immer ihre vollen Namen benutzt, ob in Unterhaltungen, wenn sie die beiden rief oder über sie sprach. Sarah Whitney und Ashleigh Quinn sind heute zur Schule gegangen. Sarah Whitney und Ashleigh Quinn, kommt sofort herunter! Schlussendlich hatte Sarah Whitney rebelliert und darauf bestanden, einfach nur Whitney genannt zu werden. Ashleigh Quinn hatte sich ihr angeschlossen und sich für den eher esoterischen Teil ihres Namens entschieden, Quinn. Über mehrere Monate hinweg war eine Diskussion der nächsten gefolgt, doch dann hatten die Mädchen gewonnen. Sie wurden Whitney und Quinn, und gemeinsam mit ihren Namen drifteten auch ihre Persönlichkeiten auseinander.

Ein Gedanke führte zum anderen, und Whitney fiel auf, dass sie seit einiger Zeit auch schon nichts mehr von ihrem kleinen Bruder gehört hatte. Reese Connolly war die meiste Zeit so weit entfernt aus ihren Gedanken, dass sie manchmal vergaß, dass es ihn überhaupt gab. Aber genauso hatte sie es gewollt. Wer behauptete denn auch, dass Familien sich unbedingt nahestehen mussten? Um diesen kleinen Moment der Frustration niederzuringen, ging Whitney zu ihrem Edelstahlkühlschrank und griff sich eine Dose zuckerfreies Red Bull. Kaffee und noch mehr Koffein, das Geheimnis ihrer Figur. Sie nannte es spaßeshalber die Model-Diät. An die Spüle gelehnt öffnete sie die Dose und schaute aus dem Küchenfenster zu der großen Birke in ihrem Garten hinüber. Ein Kardinal-Männchen saß auf dem Vogelhäuschen und tschilpte zufrieden vor sich hin, während es aß. Zwei Eichhörnchen schrien sich gegenseitig an, während sie fangen spielten. Eine leichte Brise wehte Blätter von dem Baum auf ihre Veranda. Der wilde Wein, der den Baum immer fester umschlang, erinnerte sie an ihre Vergangenheit.

Vom Tod ihrer Eltern hatte Whitney sich nie wieder ganz erholt. In einem kurzen Augenblick waren die Geborgenheit und Stabilität, die sie ihr Leben lang gekannt hatte, fort. Die Connollys waren auf dem Rückweg von einem Abend im Tennessee Performing Arts Center; eine Fahrt, die sie schon unzählige Male unternommen hatten. In einer brutalen Kollision wurden ihr zwei liebende, temperamentvolle und glückliche Familienangehörige von einem betrunkenen Fahrer gestohlen. Auch wenn es acht Jahre her war, schmerzte sie der Verlust immer noch.

Der angespannte Frieden, den ihre Eltern zwischen den Geschwistern erzielt hatten, hatte sich nie wieder völlig erholt. Die drei Kinder teilten das Vermögen ihrer Eltern untereinander auf, aber die Kluft zwischen ihnen wurde mit jedem Jahr größer.

Whitney machte sich alleine auf, stürzte sich auf ihre Arbeit, baute sich eine Karriere auf. Es fiel an Quinn, sich um Reese zu kümmern, ihn durch das letzte Highschool-Jahr zu begleiten und ihn dann nach Vanderbilt zu bringen. Zu dem Zeitpunkt hatte Quinn schon Jake Buckley getroffen und sich ziemlich schnell und heftig auf ihn eingelassen, aber Jake war ein guter Junge. Es war kein großes Problem für ihn, zu warten, bis Quinns kleiner Bruder aus dem Haus war, bevor sie heiraten konnten. Quinns Geld würde seinen Platz in der Welt festigen.

Der unwillkommene Gedanke an Reese schlug Whitney auf den Magen. Sogar nach all diesen Jahren verabscheute sie ihn. Reese war immer ein außergewöhnliches Kind gewesen, auf so vielfältige Weise begabt, wie Whitney es nie sein würde. Er war herausragend klug und zielstrebig. Mit fünfzehn trat er Vanderbilt bei, beendete sein Grundstudium in zwei Jahren und fing dann ein Medizinstudium an. Im Moment stand er kurz vor dem Abschluss seines letzten Jahres als Assistenzarzt in der Psychiatrie.

Whitney dachte an das letzte Mal zurück, als sie ihn gesehen hatte. Es war kein geplantes Treffen gewesen, sie waren sich zufällig bei Quinn zu Hause über den Weg gelaufen. Er hatte davon gesprochen, in irgendein gottverlassenes Land in Südamerika zu gehen, um sich dort einer Gruppe anzuschließen, die für die armen Menschen dort arbeitete. Was für hochfliegende Träume der Junge hatte! Doch Quinn war ganz gerührt gewesen; was für eine großartige Gelegenheit, er sei ja noch so jung, bla, bla, bla. Groll konnte man ein ganzes Leben lang hegen, das wusste Whitney besser als jeder andere. Quinn verstand. Sie befürwortete es nicht, sie verstand einfach.

Vielleicht sollte sie ihre Schwester anrufen? Sie schaute auf die Uhr. Sicher war Quinn jetzt fertig mit Tennisspielen oder dem Die Kinder zur Schule Bringen oder was auch immer sie morgens so trieb, mit dem ganzen Geld, über das Jake und sie verfügten.

Mit einem letzten Blick auf die Birke schüttelte sie ihre Vergangenheit ab.

Sie nahm das Telefon zur Hand und wählte per Kurzwahltaste das Handy ihrer Schwester. Die Mailbox sprang an und bat in Quinns perfekt kultiviertem Südstaatenakzent, eine Nachricht zu hinterlassen. Whitney legte auf, ohne etwas zu sagen, und fühlte sich sofort erleichtert. Sie würde es einfach später noch mal versuchen.

Sie warf die leere Dose in die Spüle und ging zurück ins Büro. Dort rollte sie mit ihrem Stuhl zurück an den Schreibtisch und holte ihren Ordner über den Southern Strangler hervor. Vielleicht konnte sie noch ein paar Hintergrundinformationen zusammensammeln. Sie stellte Theorien über die verschiedenen Merkmale des Mörders an, wobei sie sich Rechercheergebnisse bediente, die sie über die Jahre über Entführer und Mörder gesammelt hatte.

Sie arbeitet still, die Stunden gingen schnell ins Land. Sie schloss die Akte, streckte sich und entschied, dass es eine gute Idee wäre, sich noch einen Kaffee bei Starbucks zu holen. Wenn jemand ihr etwas Gutes tun wollte, schenkte er ihr einen Starbucks-Gutschein. Sie liebte den Espresso dort. Als sie im Wohnzimmer nach ihrer Handtasche griff, erregte plötzlich etwas im Fernsehen ihre Aufmerksamkeit.

Eine Sondersendung flimmerte über den Schirm. Sie hatten Marni Fischer gefunden.

Sie setzte sich und stellte den Fernseher lauter. Der Nachrichtensprecher berichtete, dass Marni Fischers Leiche neben dem Highway 81 in Roanoke, Virginia, gefunden worden war. Roanoke. Irgendetwas rührte sich in einer dunklen Ecke von Whitneys Gehirn. Sie rannte zurück in ihr Büro und zog noch einmal ihren Ordner hervor, überflog die Namen der betroffenen Ortschaften.

“Huntsville, Baton Rouge, Jackson, Nashville, Noble, Huntsville, Baton Rouge, Jackson, Nashville, Noble, Roanoke.”

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Mit zitternden Händen zog sie ihre Notizen hervor, Kopien der Gedichte, die sie aus ihren E-Mails ausgedruckt hatte. Sie las sie erneut, und ihr Atem kam in kleinen Stößen. Las sie noch einmal. Und noch einmal. Dann traf es sie. Sie wusste, wer der Southern Strangler war.

Sie ließ den Ordner fallen und nahm ihr Handy aus der Handtasche. Scheiß was auf journalistische Ehre. Scheiß was auf den Nachrichtensprecherjob in New York. Sie musste ihre Schwester warnen.