47. KAPITEL

Baldwins Telefon klingelte um sechs Uhr morgens und weckte ihn aus dem besten Schlaf, den er seit Wochen gehabt hatte. Er war ins Bett gegangen, ohne dass ihm Berichte über ein weiteres vermisstes Mädchen durch den Kopf gegangen waren, ohne sich zu fragen, welche Horrornachrichten ihn nach dem Aufwachen erwarten würden. Tief und traumlos hatte er geschlafen, im warmen Bett dicht an Taylor gekuschelt und in dem Wissen, dass sie kurz davor waren, den Fall zu knacken.

Auch wenn er sehr zurückhaltend gewesen war, was Jake Buckleys Schuld an der Mordserie anging, hatte das Gespräch, das er mit Taylor auf der Rückfahrt vom Büro geführt hatte, seine Bedenken etwas gemildert. Taylor hatte eine starke Theorie aufgestellt: Quinn Buckley hatte ihrem Mann die Wahrheit über das erzählt, was während der Entführung von ihr und ihrer Schwester passiert war. Dass sie vergewaltig worden war, heimlich ein Kind geboren hatte. Diese Neuigkeiten waren zu viel für Buckley. Der sowieso schon fremdgehende, tyrannische Mann kannte nun keine Grenzen mehr und nutzte seine regulären Reisen als Tarnung für die Morde. Gut, es war ein wenig dünn, aber plausibel. Heute war der Tag, an dem sie die Einzelteile zusammenbringen würden. Die DNA würde alles bestätigen.

Der Anruf sollte jedoch alle ihre Theorien zunichtemachen.

“Baldwin”, sagte er gähnend in den Hörer.

“Garrett hier. Wieso schläfst du so lang?”

“Es ist hier sechs Uhr morgens, Garrett. Du bist mir eine Stunde voraus, erinnerst du dich?”

“Klar. Aber du musst trotzdem aufstehen. Wir haben ein Problem.”

Baldwin stöhnte und rollte sich auf die Seite, wobei ihm auffiel, dass Taylor nicht mehr neben ihm lag. Wann war sie aufgestanden, und warum? Er setzte sich auf die Bettkante, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fürchtete sich vor der Antwort auf seine nächste Frage.

“Was für ein Problem, Garrett?”

“Die DNA-Probe, die du von Jake Buckley eingereicht hast, passt nicht zu der vom Strangler. Er ist also immer noch da draußen.”

Baldwin war mit einem Schlag hellwach. “Oh Mann, verdammt. Mist.” Es folgten noch ein paar weitere Schimpfwörter, sodass Taylor schließlich mit fragendem Blick ins Zimmer kam. Er hielt eine Hand hoch, um sie vom Sprechen abzuhalten.

“Aber Buckley hatte Ivy Clark im Kofferraum. Willst du etwa sagen, dass er davon wirklich nichts wusste, so wie er es behauptet?”

“Das kann ich dir nicht sagen, Baldwin. Ich würde noch mal mit ihm sprechen. Aber ohne eine Übereinstimmung der DNA musst du dir was anderes einfallen lassen. Sie stimmt definitiv nicht mit der am Dale-Tatort gefundenen DNA überein, so viel ist sicher. Ich kann nicht sagen, dass er die Mädchen nicht umgebracht hat, aber es ist wahrscheinlich, dass er nicht unser Mann ist.”

“Okay. Ich werde mich darum kümmern. Ich muss noch mal mit Buckley sprechen. Mist, Garrett, ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmt.”

“Und wie immer liegst du mit deiner Intuition richtig. Du solltest ihr vertrauen, Baldwin. Und jetzt mach dich auf und finde uns den richtigen Mörder, bevor er noch einmal zuschlägt.”

Baldwin legte auf und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Taylor betrachtete ihn besorgt. “Was ist passiert?”

“Du wirst es nicht glauben. Die DNA von Buckley stimmt nicht mit den am Opfer des Stranglers gefundenen Spuren überein. Komm, wir müssen zu dir ins Büro fahren. Wir brauchen jetzt etwas Hilfe.”

Der halbe Tag ging ins Land, bis sie Buckley vom Sheriff zurückgeholt, ihn noch einmal verhört und seinen Zeitplan geklärt hatten und ihn dann nach Hause entließen. Taylor glaubte nicht, dass er bei Quinn sonderlich willkommen wäre, aber er tat ihr nicht im Geringsten leid. Der Mann war ein Idiot, und sie bedauerte, dass sie so gar nichts gegen ihn in der Hand hatten, um ihn anzuklagen, einfach nur, weil er so ein Mistkerl war.

Im Gehen hatte er gedroht, sie zu verklagen. Taylor winkte ihm nach und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis die Anzeige vorläge.

Sie schaute auf die Ecke ihres Schreibtischs, wo Whitney Connollys Laptop seinen Ehrenplatz eingenommen hatte. Das E-Mail-Icon blinkte.

Mit angehaltenem Atem öffnete sie das Programm. Im Vergleich mit den anderen Malen, als sie nachgeschaut hatte, war das Postfach jetzt nahezu leer. Es gab eine neue Nachricht, die rot markiert war. Taylors Herz begann zu rasen, als sie den Namen des Absenders las. IM1855195@yahoo.com. Er war es – der Strangler. Und die Zeitangabe stammte von gestern Abend. Mist, das bedeutete …

“Baldwin!”, rief sie. Er stand direkt vor ihrer Tür und steckte schnell den Kopf in ihr Büro, als er sie rufen hörte.

“Was? Was ist los?”

Sie drehte den Laptop herum, sodass er den Bildschirm sehen konnte. Er sah es sofort, eilte zum Schreibtisch und öffnete die Nachricht. Ein weiteres Gedicht. Er las es laut vor.

“ Jähzornig, grausam hast du jetzt

mit Unschuldsblut den Nagel dir benetzt!

Was wäre in dem Floh denn Schuld

als jener Tropfen Blut, aus dir gezullt?

Doch triumphierst du, sagst zu Recht,

du fändest weder dich noch mich geschwächt.

So lern, ganz falsch sind Furcht und Scham;

nur so viel Ehre stirbt, gibst du dich zahm,

als Leben dir der Tod des Flohs wegnahm.

Das Ende von ‘Der Floh’. Und da ist noch mehr. Hier steht: ‘ICH BIN FERTIG.’“ Er setzte sich auf den Stuhl, sein Gesicht aschfahl. “Hurensohn. Verdammter Hurensohn!” Er senkte den Kopf, ließ die Schultern sinken.

Taylor ging zu ihm, sprach sehr leise. “Er ist immer noch da draußen, Baldwin. Es interessiert mich nicht, ob er behauptet, fertig zu sein. Er ist es nicht. Jemand wie er wird niemals einfach so aufhören mit dem, was er tut. Nie. Wir müssen ihn finden, Baldwin. Wir müssen ihn jetzt finden.” Sie legte ihm eine Hand in den Nacken und drückte sanft zu. Er hob den Arm und nahm ihre Hand, dankbar für ihre Berührung. Er sammelte sich, als ob eine große Entscheidung getroffen worden wäre.

“Okay. Okay, lass es uns tun. Das hier ist nur eine weitere Bestätigung, dass jemand Jake Buckley was anhängen wollte. Jemand, der seine Pläne kannte, seine Gewohnheiten.” Er war wieder auf den Beinen und ging in dem kleinen Raum auf und ab. “Wo sind die Informationen über Nathan Chase?” Ich habe eine Kopie seines Besucherbuchs angefordert. Und wir müssen Lincoln darauf ansetzen, die E-Mail nachzuverfolgen. Vielleicht haben wir dieses Mal Glück. Wir haben einen Durchbruch verdient.” Er atmete tief durch, gewann seine Fassung zurück und nahm den Telefonhörer ab. Taylor lächelte ihn an und ging dann nach nebenan, um Lincoln zu suchen.

Sie fand ihn an seinem Computer, wo er durch irgendeinen Bereich des Cyberspace wanderte, der ihr völlig unbekannt war. Er warf die Hände hoch, als sie zu ihm kam, und rief: “Treffer!”

“Na, mal wieder Spiele während der Arbeitszeiten spielen, Lincoln?” Er drehte sich um, mit breitem Grinsen und leuchtenden Augen. “Nicht so ein Spiel. Eine mehr esoterische Version. Ich habe auf Whitney Connollys Rechner einen Wurm installiert, der mir zeigt, woher jede E-Mail kommt. Ich habe ihn, Taylor, ich weiß, von wo aus dein Yahoo-Junge seine letzte Nachricht geschickt hat!”