24. KAPITEL
Die Metro Police hatte die Reihen um Betsy Garrison fest geschlossen. Das Rauschen in der Gerüchteküche hatte beinahe epische Proportionen angenommen. Viele Officer kannten die Identität des letzten Rainman-Opfers immer noch nicht, aber nahezu alle wussten, dass es jemand aus ihren Reihen gewesen war, und Betsys Name war in diesem Zusammenhang mehr als einmal genannt worden. Nach wiederholten Drohungen hatte die Presse sich bereit erklärt, Betsys Namen nicht zu erwähnen, aber nichtsdestotrotz lief die Berichterstattung auf Hochtouren. Die nationalen Kabelsender waren inzwischen ebenfalls auf den Zug aufgesprungen, sodass mittlerweile alle großen Sender über den Fall berichteten. Es wurde wild spekuliert, diejenigen, die sich für spektakuläre Verbrechen interessierten, verlangten nach Interviews, und das gesamte Dezernat kam darüber beinahe zum Erliegen. Der Rainman bekam mehr Aufmerksamkeit, als er es sich je erträumt haben konnte, und Metro bezahlte den Preis dafür.
Mit ausdrücklichen Anweisungen, die Ermittlungen endlich voranzutreiben, jagten Lincoln Ross und Marcus Wade Spuren und Gerüchten nach, so schnell sie nur konnten. Am dringlichsten war es jetzt, das vorletzte Opfer des Rainman zu befragen, die Frau, die Betsy gegenüber gestanden hatte, ihren Angreifer erkannt zu haben.
Lincoln parkte seinen Wagen vor einem Bungalow, der aus den 1940er-Jahren stammte. Die Farbe blätterte ab, die Fliegengitter vor den Fenstern waren zerrissen, der Garten war staubig und das Gras verdorrt.
In dieser Nachbarschaft, in der die Immobilienpreise inzwischen bei 800 000 Dollar begannen, war dieses Gebäude einer der wenigen übrig gebliebenen Bungalows. Der Trend in der Immobilienszene von Nashville ging dahin, die kleineren Häuser auf den teuren Grundstücken zu kaufen, um dann alles abzureißen und einen monströsen Neubau hinzusetzen. Dieses Vorgehen erfreute sich einer unglaublichen Beliebtheit.
Marcus schaute sich um und sprach Lincolns Gedanken aus. “Sie passt nicht so richtig in das Profil der anderen Opfer, oder?”
Lincoln schüttelte schweigend den Kopf und starrte weiter auf das Haus. Sechs der Opfer lebten in wunderschönen, sorgfältig gepflegten Häusern inmitten geschlossener Wohnanlagen. Sogar Betsy Garrisons Haus lag in einer beliebten, sich langsam zum Szeneviertel mausernden Gegend. Das war ja Teil der Panikmache des Rainman: Wenn er sich an Pförtnern und geschmiedeten Zäunen vorbeischleichen vermochte, konnte er überallhin gelangen. Er schien etwas besser situierte Frauen als Opfer zu bevorzugen. Wenn man jedoch vom Äußeren ihres armseligen Hauses ausging, passte diese Frau nicht in sein Beuteschema.
Als sie aus dem Auto stiegen, schoss ein übergewichtiger Beagle um das Haus herum auf sie zu. Bösartiger klingend, als er sehr wahrscheinlich war, walzte er auf Lincoln zu und bleckte seine Zähne wie ein echter Bluthund. Sein wedelnder Schwanz strafte seine Grimmigkeit allerdings Lügen, und als Lincoln die Hand ausstreckte, warf der Hund sich auf den Boden und ließ sich den Bauch streicheln. Er hörte auf zu bellen und wimmerte in höchster Freude, ganz begeistert darüber, etwas Aufmerksamkeit zu bekommen.
Eine Stimme rief durch die vordere Fliegengittertür: “Wally. Waaaalllyyyy! Hör auf mit dem Krach.”
Lincoln und Marcus schauten einander an. Lincoln zuckte mit den Schultern, klopfte dem Hund ein letztes Mal auf die Flanke und ging zu der durchgesackten grauen Veranda hinüber. Als er die Stufen betrat, stöhnten diese protestierend auf. Ein leichter Marihuanageruch stieg ihm in die Nase. Er klopfte energisch an die Fliegengittertür.
“Metro Police”, verkündete er mit Autorität in der Stimme. Er hörte, wie Marcus ein Lachen unterdrückte, und ignorierte ihn. Nachdem er noch einmal geklopft hatte, war Geraschel aus dem Inneren des Hauses zu hören, dann kam eine müde aussehende Frau mit strähnigen braunen Haaren an die Tür. Ihre Augen waren blutunterlaufen, aber ansonsten gab es keine offensichtlichen Anzeichen dafür, dass sie irgendwelche Substanzen zu sich genommen hatte.
“Ja? Was wollen Sie?”
Lincoln setzte sein höflichstes Gesicht auf. “Lucy Johnson?”
“Ich hab nichts verbrochen.”
“Wir sind hier, um mit Ihnen über den Vorfall zu sprechen, den Sie gemeldet haben. Die, äh, Vergewaltigung.” Lincoln schaute Marcus um Unterstützung bittend an, aber der war vollauf damit beschäftigt, Wally den Bauch zu kraulen. Lincoln schürzte die Lippen und drehte sich wieder um. Es gab einen Grund, warum er in der Mordkommission arbeitete, einen Grund, warum er Computer mochte. Er konnte besser mit dem Tod, dem Unbelebten umgehen, als mit den Lebenden.
Lucy Johnson verzog ihr Gesicht, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Lincoln warf erneut einen flehenden Blick zu Marcus, damit der ihn retten komme. Widerstrebend ließ Marcus den Hund in Ruhe und gesellte sich zu seinem Kollegen.
“Mrs. Johnson, wir benötigen nur …”
“Miss.”
“Entschuldigen Sie?”
“Es ist Miss Johnson.” Die drohenden Tränen wurden von einem an Marcus gerichteten, gewinnenden Lächeln ersetzt. Er betrachtete Lincoln aus dem Augenwinkel. Vielleicht mochte sie keine großen schwarzen Männer in Designeranzügen. Er trat einen Schritt um Lincoln herum und deutete auf die Tür.
“Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir kurz hineinkommen, Miss Johnson?”
Sie warf einen kurzen, verzweifelten Blick über ihre Schulter. “Nee, lassen Sie uns lieber hier draußen bleiben. Ich hab nicht aufgeräumt.” Sie stieß die Fliegentür auf, und Lincoln sprang zur Seite, damit sie nicht in Kontakt mit seinem Anzug kam. Marcus verbarg sein Lachen hinter einem Räuspern.
Bei Tageslicht sah Lucy Johnson nicht ganz so herb aus wie eben im Schatten. Ihr Haar war zwar mindestens einen Tag zu lang nicht mehr gewaschen worden, aber sie trug kurze Shorts und hatte lange Beine; Attribute, die sie nicht zögerte, zu ihrem Vorteil einzusetzen. Sie schlüpfte in ein Paar abgetragene Plastik-Flip-Flops und trat hinaus in den Vorgarten, wobei sie ihre Hüften aufreizend hin und her wiegte. Der Beagle wartete einen Moment, dann sprang er mit hängender Zunge hinter seinem Frauchen her.
Marcus schaute Lincoln mit hochgezogener Augenbraue an, der nur sanft den Kopf schüttelte. Sie reagierte auf Marcus besser, also sollte er sie befragen. Lincoln verschränkte seine Arme vor der Brust und stellte sich aufrecht hin, um sich nicht an die verwitterte Verandabrüstung zu lehnen. Marcus folgte der Frau in den verwilderten Garten.
“Ich habe ihrer Kollegin schon alles gesagt. Fürchte, sie hat mir nicht geglaubt”, sagte sie.
“Warum?”
“Sie hatte diesen Blick, wissen Sie? Als wenn sie was Besseres wäre. Wo ist sie eigentlich?”
“Detective Garrison hatte einen Autounfall, Ma’am. Wir kümmern uns um ihre Fälle, bis sie wieder gesund ist.”
Lucy schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne ab und schaute schnell weg. “Ist sie schwer verletzt?”
“Sie wird wieder, Ma’am. Ich sage ihr, dass Sie nach ihr gefragt haben. Nun, wir dachten, wir könnten vielleicht noch ein paar mehr Informationen von Ihnen über den Vorfall bekommen. Detective Garrison erwähnte, dass Sie in der Lage waren, Ihren Angreifer zu identifizieren?”
Lucy trat gegen einen Klumpen trockenen Grases. “Tja, na ja, kann sein, dass ich ihr das erzählt habe.”
“Heißt das, dass Sie ihn identifizieren können oder nicht?”
Lucy schwieg einen Moment, als ob sie überlegte, die Wahrheit zu erzählen oder zu verschweigen. Sie erinnerte Marcus an ein Kind im Süßigkeitenladen, das sich nicht entscheiden konnte, ob es zugeben sollte, die Bonbons in der Tasche zu haben, oder ihre Existenz bis zu seinem letzten Atemzug zu leugnen. Offensichtlich gewann das gute Gewissen.
“Es ist nicht so, dass ich ihn identifizieren könnte. Er hatte nur etwas … Bekanntes an sich.” Sie zog die Worte in die Länge, als wenn sie nicht genau wüsste, wie sie ausgesprochen werden.
Marcus rieb sich das Kinn und versuchte einen überlegenden Eindruck zu machen. “Okay, das verstehe ich. Sie wollen nicht auf den falschen Mann zeigen. Total verständlich. Wie wäre es damit: Sagen Sie mir einfach, von wo Sie meinen, ihn zu kennen.”
“Nun ja … von überall. Es ist, als ob er immer da ist, wissen Sie? Überall, wo ich hingehe. Für einen Kaffee an die Tankstelle, ins Sportstudio, in den Supermarkt.”
“Sie glauben, er verfolgt Sie?”
“Nee. Ich glaube nicht, dass er ahnt, dass ich ihn erkenne. Es ist nur so, dass ich ihm alle naslang über den Weg laufe. Egal, wo ich hingehe. Es sind die Arme. Die waren das Einzige, was ich sehen konnte, wissen Sie? Sein Gesicht und seine Haare waren von einer Maske verdeckt, aber er hatte diese Arme, so stark und irgendwie komisch, und damit hat er mich festgehalten. Ich sehe diese Arme immer wieder.” Ihre Stimme zitterte leicht, aber ihre Augen blieben trocken.
“Ma’am, wissen Sie zufällig seinen Namen?”
Elendig schüttelte sie den Kopf und versuchte, nicht zu weinen. “Nein.”
“Oder wissen Sie sonst etwas über ihn? Hatte er einen speziellen Geruch, oder hat er einen bestimmten Satz öfter benutzt?”
Lucy schüttelte den Kopf. “Nein, nichts in der Art.”
“Aber Sie denken zu wissen, wer er ist?”
“Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nicht, wer er ist. Aber ich erkenne sein Auto wieder”, setzte sie mit einem schiefen Grinsen hinzu.
Marcus warf Lincoln einen hoffnungsvollen Blick zu. Das könnte der Durchbruch sein. Man stelle sich vor, sie lösten den Rainman-Fall an einem Tag, während die Abteilung für Sexualverbrechen es seit Jahren versuchte.
Marcus trat einen Schritt näher und legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie zog ihn nicht weg, sondern starrte auf seine Hand, als wenn sie noch nie zuvor berührt worden wäre. Marcus vermutete, dass sie schon oft von Männern angefasst worden war, nur noch nie so sanft. Sie schaute ihn an, sah ihm direkt in die Augen.
“Es ist das typische Fahrzeug einer Zivilstreife. Der Mann, der mich vergewaltigt hat, ist ein Cop.”