30. KAPITEL

Christina Louise Dale, von Familie und Freunden Christy genannt, war ein trauriger Fall. Neunzehn Jahre alt, klein und brünett, hetzte Christy sich immer ab und versuchte, alles auf die Reihe zu bekommen. Sie hatte weder das Geld, um aufs College zu geben, noch die guten Noten, um ein Stipendium zu ergattern. Also arbeitete sie hart und verbrachte ihre Zeit so oft wie möglich mit den Collegestudenten in Roanoke. Sie war Autodidaktin, und wenn sie das erwähnte, wussten die meisten Studenten gar nicht, was das bedeutete. Auf der einen Seite fand sie es unfassbar, dass sie so viel klüger war als die anderen und trotzdem keine Chance bekam, die gleichen Schulen zu besuchen. Auf der anderen Seite freute sie sich still und heimlich darüber, dass sie, egal wie, besser war als alle anderen.

Sie bildete sich stetig weiter und las in ihrer Freizeit alles, was sie in die Finger bekam. Sie fand einen Job, der ihr die Möglichkeiten bot, die ihr in ihrem bisherigen kurzen Leben zunächst verwehrt worden waren. Die Mutterfirma des kleinen kommunalen Krankenhauses hatte ein Programm, das Stipendien an diejenigen ihrer Mitarbeiter vergab, die den Willen und das Engagement zeigten, sich weiterzubilden. Allerdings bezog sich dieses Programm nur auf medizinische Fortbildungen, was Christina ganz recht war. Sie würde erst einmal bei dieser Firma anfangen und könnte dann ja immer noch wechseln, wenn sie älter und erfahrener war.

Christy wartete auf ihren Moment. Sie war eine gewissenhafte Mitarbeiterin, auch wenn ihre Aktivitäten außerhalb der Firma ein bisschen fragwürdig waren. Zugegeben, sie trank zu viel. Und oftmals nahm sie Drogen, die nicht unbedingt zu den legalsten der Welt zählten. Nichts Hartes, aber die sogenannten weichen Sachen, die Studentendrogen. Auf diese Weise erlebte sie die gleichen Dinge, die alle neunzehnjährigen Mädchen erlebten. Den Rausch, die Drogen, die Jungs. Aber das war nicht unbedingt schlecht, zumindest nicht ihrer Ansicht nach. Sie behielt die Kontrolle über ihren Körper, und sie hatte das letzte Wort bei allem, was sie tat. Die Tatsache, dass sie immer wieder Sex mit Jungs hatte, die nicht mal daran dachten, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen, war kein Problem. Wenn sie einen von ihnen wiedersehen wollte, fand sie einen Weg, es auch zu tun.

Vielleicht zog sie sich ein bisschen zu provokativ an. Vielleicht trank sie auch zu viel, schlief ein bisschen zu sehr herum. Aber was für einen Unterschied machte das schon?

Baldwin kannte das alles – und mehr. Als er nun Christys leblosen Körper betrachtete, der in Asheville, North Carolina, neben eine Straße geworfen worden war, konnte er nicht anders, als sich zu fragen, ob die arme Christy eine Ahnung davon gehabt hatte, in was für eine Gefahr sie sich immer und immer wieder brachte. Sex mit fremden Männern, Mitfahrten in Autos, die ihr nicht gehörten, und, was am wichtigsten war, einen Fremden mit in das Motelzimmer zu nehmen, das sie benutzte, wenn sie nicht wollte, dass ihre Mutter etwas von ihren Aktivitäten mitbekam.

Aber Christys Mutter hatte es mitbekommen. Sie wusste alles, was ihre Tochter trieb, und machte sich entweder nicht genug daraus, um etwas dagegen zu tun, oder glaubte nicht, dass sie noch irgendeinen Einfluss hätte ausüben können. Als Baldwin sich mit ihr hingesetzt hatte, nur wenige Stunden nachdem sie erfahren hatten, dass Christy aus Zimmer 3 des Happy Roads Inn entführt worden war, schien Charlie Dale nicht sonderlich überrascht.

Charlie Dale rauchte während der Befragung durchgehend. Baldwin dachte, er würde in der stickigen Luft ihres Trailers eingehen, und fragte sich, ob hier jemals ein Fenster geöffnet worden war. Überall stapelte sich Wäsche, ob gewaschen oder ungewaschen, konnte er nur raten. Dazu Müll, Aschenbecher und Dreck über Dreck. Charlie war keine gute Hausfrau, was sie Baldwin auch sagte. Er hatte gelächelt und so getan, als wenn alles in Ordnung wäre – etwas, das Charlie, wie er annahm, das letzte Jahrzehnt über ebenfalls getan hatte.

Sie hatte nicht viel Nettes über ihre Tochter zu sagen. Christy war als unangenehme Überraschung ins das Leben ihrer Mutter getreten. Eine Überraschung, die daherkam, als Charlie fünfzehn war und verliebt in einen Jungen aus einem besseren Stadtteil von Roanoke. Als sie ihm sagte, dass sie schwanger sei, hörte sie nie wieder von ihm. Also waren es von Anfang an nur sie und Christy gewesen, hatte sie Baldwin erzählt. Und aus diesem Mädchen würde nie etwas werden, so wie sie herumlief, herumhurte und trank. Nur weil es gut genug für ihre Mutter gewesen war, war es noch lange nicht gut genug für sie. Charlie hatte immer etwas Besseres für Christy gewollt, teilte sie Baldwin mit, aber sie hatte nicht gewusst, wie sie es für sie bekommen sollte.

Als Baldwin nun auf Christy hinunterschaute, spürte er eine Traurigkeit in sich, die zu gleichen Teilen aus Kummer über den Tod des Mädchens und Bedauern über ihre schlechten Startchancen im Leben bestand.

Als sie den Anruf erhalten hatten, dass das Mädchen in Asheville, North Carolina, gefunden worden war, hatte Baldwin nicht mal mit der Wimper gezuckt. Der Mörder dachte nicht sehr weit voraus. Jetzt, wo sie ihm auf den Fersen waren, gab es für ihn nur noch entführen, umbringen, entsorgen. Und er wurde immer schneller dabei. Christy war nicht mal einen Tag vermisst gemeldet gewesen, und jetzt stand Baldwin über ihrem geschundenen Körper, schaute auf die Messerstiche in ihrer Brust, die blutigen Handgelenke und fragte sich, wo ihre Hand schlussendlich wieder auftauchen würde. Marni Fischers sorgfältig manikürte Hand lag ein paar Meter entfernt. Baldwin überlegte. Wo waren die restlichen Hände der Mädchen?

Sein vorsichtiger, methodischer Serienmörder hatte sich in einen blutrünstigen Amokläufer verwandet. Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob er versuchte, sie in sein Spiel zu ziehen; die dicke Spinne in einem seidenen Netz aus Absichten. Aber als nun die einzelnen Fäden sich aufribbelten, jedes Opfer schneller getötet wurde als das vorherige, zerriss das Netz. Ein durchdachter, organisierter Mörder konnte nach einem Mord jahrelang ohne weitere Taten leben. Dieser hier baute in einer Geschwindigkeit ab, die Baldwin seit Jahren nicht erlebt hatte.

Vom empirischen Standpunkt aus betrachtet war dieser Wandel faszinierend zu beobachten. Baldwin hatte das Talent, die Opfer und ihre Leben von den begangenen Verbrechen trennen zu können. Psychologisch gesehen war das, was hier passierte, ein einfacher Vorgang. Die Nachricht des Mörders wurde nicht verstanden. Das frustrierte ihn, und im Gegenzug fing er an, Risiken einzugehen, ohne sich große Sorgen um die Konsequenzen zu machen. Die finale Spielphase war eingeläutet worden.

Die Kriminaltechniker hatten in dem Motelzimmer ihren großen Tag. Es war offensichtlich, dass mehrfach auf Christy eingestochen worden war. Dieses Blut hatte sich mit dem aus den Schnitten durch die Pulsadern an ihren Handgelenken vermischt und ein blutiges Labyrinth ergeben, durch das sich die Techniker durcharbeiten mussten. Das Zimmer war schon lange nicht mehr gründlich geputzt worden, sodass es Unmengen an Fingerabdrücken gab, beinahe zu viele, um sie abzugleichen, wenn man bedachte, wie viele Menschen schon in diesem Raum gewesen waren. Baldwin nahm an, dass der Mörder Handschuhe trug, denn sie hatten ihm noch keinen Fingerabdruck von einem der Tatorte zuordnen können.

Zum ersten Mal fanden sie eine winzige Menge Sperma, das sich mit dem Blut auf den Bettlaken vermischt hatte. Ein weiteres Zeichen dafür, dass der Mörder langsam außer Kontrolle geriet. Er wurde nachlässig. In einem normalen Fall wäre das ein Grund zum Jubeln gewesen, aber da sie von dem vorherigen Tatort mit dem gerissenen Kondom keine Spuren hatten sichern können, gab es nun nichts, womit sie die DNA vergleichen konnten.

Baldwin hatte die Techniker angewiesen, die DNA ins CODIS-System einzugeben in der Hoffnung, in den Tiefen der Datenbank einen Treffer zu landen, aber er war nicht sonderlich zuversichtlich. Irgendetwas an diesem Mörder fühlte sich frisch an, ganz neu. Sein Profil besagte, dass das hier die ersten signifikanten Verbrechen waren und man in seinem bisherigen Leben maximal kleine Übertretungen finden würde, wenn überhaupt. Je weiter er sich in den Fall vergrub und je mehr Morde es gab, desto passender schien seine ursprüngliche Einschätzung. Wenn es keinen Treffer in CODIS gäbe, würde das einen Punkt seines Profils bestätigen.

Baldwin hatte Grimes gebeten, Männer in die Bar zu schicken, die Christy oft besucht hatte. Sie sollten herausfinden, ob jemand sich daran erinnern konnte, mit wem sie sich unterhalten und danach die Bar verlassen hatte. Aber leider war nichts dabei herausgekommen. Niemand hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Ein Barkeeper war sogar so weit gegangen, Witze darüber zu machen, dass es schon eine komplette Polizeistaffel bräuchte, um über die Männer, mit denen Christina geflirtet hatte, den Überblick zu behalten. Sein Humor war nicht sonderlich gut angekommen, und er hatte sich schnell entschuldigt und sie ernsthaft wissen lassen, dass sie mit jedem hätte zusammen sein können. Niemand achtete auf ein verrücktes Mädchen, das sich durch einige Stunden freier Drinks flirtete.

Aus einer Eingebung heraus hatte Baldwin Grimes auch gebeten nachzufragen, ob irgendjemand sich an einen jungen, dunkelhaarigen Mann erinnerte. Diese Frage hatte nur Gelächter geerntet. Es war eine Collegebar; die Beschreibung passte auf mindestens die Hälfte der Gäste. Und keiner davon war dem Barkeeper besonders aufgefallen.

Sie hatten einfach nicht viel, worauf sie aufbauen konnten. Baldwin bedeutete den Kollegen, dass sie Christy aus dem Gebüsch herausziehen und auf eine Bahre legen sollten, damit sie ins Leichenschauhaus von Asheville transportiert, dort kurzerhand aufgeschnitten und danach in ein Kühlfach geschoben werden konnte. Während Baldwin Däumchen drehte, dumm dastand und keine Ahnung hatte, wie er diesen launenhaften Mörder schnappen sollte.

Es war mal wieder an der Zeit, sich ein Zimmer zu nehmen, sich einen Drink zu gönnen und zu versuchen, sich einen Reim auf all das zu machen. Am liebsten per Telefon mit Taylor. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass es schon reichte, einfach mit ihr zu sprechen, um klarer zu sehen. Und im Moment konnte sein Gehirn eine ganz gehörige Portion Durchblick gebrauchen. Er benötigte eine Strategie, einen besseren Überblick. Er musste alles ausbreiten und dann sehen, was fehlte. Denn ihm fehlte etwas Bedeutendes, und solange er nicht wusste, worum es sich dabei handelte, würde er den Mörder in naher Zukunft nicht aufhalten können.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er zu, wie Christina Dale in einen Leichensack gesteckt, dann auf eine Trage gehoben und schließlich auf eine Bahre gelegt wurde, die auf leisen Rollen in den cremefarbenen Van des Gerichtsmediziners glitt. Die Bäume sahen sehr grün aus, der Dunst um die Berge sehr violett, die Sommerluft war erstaunlich klar und sauber, mit nur einem kaum wahrnehmbaren Hauch von Tod. Alles schien überlebensgroß, echter als echt, und das machte Baldwin Kopfschmerzen. Das passierte ihm in den Bergen immer.

Baldwin stieg aus der Dusche und schaltete den Fernseher an. In seinem Hotelzimmer war es zu heiß, also setzte er sich nur mit dem Handtuch um die Hüften auf die Bettkante und schaute die Lokalnachrichten. Der Aufmacher war der Fund von Christina Dales Leiche. Die Reporterin berichtete die Details, die etwas dürftig waren, weil Baldwin sichergestellt hatte, dass nur wenige Informationen herausgegeben wurden. Sie verfolgte die Spur des Mörders über die letzten Wochen zurück und endete mit einer Warnung an alle jungen Frau in Asheville.

“Alle Frauen in der weiteren Umgebung von Asheville werden ausdrücklich gewarnt, nicht alleine zu bleiben. Halten Sie Ihre Türen und Fenster geschlossen. Wenn Sie ausgehen, bitten Sie jemanden, Sie zu begleiten. Sprechen Sie mit niemandem, den Sie nicht kennen, und haben Sie immer Pfefferspray dabei. Wir können gar nicht genug betonen, dass Sie höchst wachsam sein müssen. Haben Sie Ihr Handy immer aufgeladen und parat. Steigen Sie nicht zu Fremden ins Auto. Jeder muss sich der Gefahr bewusst sein.”

Es war eine gute Warnung; nichts, was nicht jede Frau schon x-mal gehört hätte, aber dafür mit solchem Nachdruck vorgetragen, dass es vielleicht die eine oder andere von ihnen jetzt tatsächlich beherzigte. Unglücklicherweise gab es nichts Bestimmtes, was die Frauen von Asheville tun oder lassen konnten, um auf alle Fälle in Sicherheit zu sein.

Baldwin schaltete den Ton aus und zog seine Akten hervor. Er legte sie in chronologischer Reihenfolge auf das Bett und begann sie zum wohl hundertsten Mal durchzugehen. Den Anfang machte Susan Palmer. Es gab definitiv Gemeinsamkeiten bei den Opfern. Alle hatten dunkle Haare und Augen, sie waren zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren alt. Auch die Staturen waren vergleichbar, alle waren kräftig und athletisch. Und sie alle arbeiteten zu einem gewissen Grad im Bereich Medizin. Hatte er es mit einem gestörten Arzt zu tun, der durchgedreht war? Die Theorie war genauso gut wie jede andere, die er bisher aufgestellt hatte.

Er fing an, sich unfähig zu fühlen. Dieser Mörder bewegte sich schnell, und auch wenn seinen Aktionen ein eindeutiges Muster zugrunde lag, war es nicht vorhersehbar, in welcher Stadt er als Nächstes zuschlagen würde. Alles, was sie tun konnten, war, ihn zu fangen. Und diesem Ziel waren sie auch nicht viel näher gekommen.

Er hatte schon vorher Fälle wie diesen hier gehabt, in denen die Aktionen des Mörders die polizeilichen Ermittlungen vor Probleme stellten. Er war mehr vertraut mit der Art Mörder, die sich Zeit ließ. Normalerweise wurden Muster sorgfältig über mehrere Wochen und Monate aufgebaut, nicht innerhalb von Tagen. Dieser Mann war auf einem fieberhaften Amoklauf, und solche Täter waren die gefährlichsten. Aber meistens begingen sie auch schneller einen Fehler und wurden bald geschnappt. Ganz sicher fuhren sie nicht von Staat zu Staat, nahmen sich Frauen und entsorgten die Leichen ohne die Hände in einem anderen Staat.

Diese Eskalation war an sich sogar eine gute Sache. Bei dieser Geschwindigkeit musste er einen Fehler machen. Kein Mörder war so clever. Seine DNA zurückzulassen war die erste von, wie Baldwin hoffte, vielen weiteren Unachtsamkeiten in der Zukunft.

Baldwins Handy klingelte in dem Moment, als auf dem Fernseher die dem Fall zugeteilte Telefonnummer des FBI eingeblendet wurde. Er schaltete den Fernseher aus und schaute auf die Rufnummernanzeige seines Telefons. Es war Taylor.

“Hey, Sweetheart”, sagte er sanft.

“Baldwin, geht es dir gut? Ich verfolge die aktuellen Ereignisse in den Nachrichten, du musst ja total erschöpft sein.”

“Na ja, Verbrecher nehmen darauf keine Rücksicht. Die Situation wird von schlecht zu schlimmer. Jedes Mal, wenn wir aufgeholt haben, haut er wieder ab. Ich kann nicht ein einziges Anzeichen dafür finden, wohin es ihn als Nächstes verschlägt.”

“Willst du es mit mir durchsprechen? Vielleicht kann dir ein frischer Blickwinkel ein bisschen helfen?”

“Ja, das ist eine gute Idee. Aber erst mal: Ist bei dir alles okay? Wie kommst du mit dem Vergewaltigungsfall vorwärts?”

Er merkte, wie sie still wurde; ein kurzer Augenblick, in dem er beinahe die Gedanken hören konnte, die ihr durch den Kopf gingen. Als sie antwortete, hatte er das Gefühl, dass sie etwas mutlos klang.

“Ach, geht so. Hast du die Nachrichten gesehen? Die nationalen Medien haben die Rainman-Geschichte aufgegriffen. Genau ihr Fall, echte ‘mysteriöse Fälle’. Und wer ist nicht von einem Serienvergewaltiger fasziniert? Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, haben wir ein Opfer, das glaubt, der Vergewaltiger ist ein Cop, was hier gar nicht so gut ankommt. Oh, und hast du das von Whitney Connolly gehört?”

“Honey, ich stecke bis über beide Ohren in diesem Fall. Whitney Connolly von Channel Five? Was ist passiert?”

“Sie hatte gestern einen Autounfall. Sie und drei weitere Menschen wurden dabei getötet. Es war echt schlimm. Ich bin mit Sam zum Unfallort gefahren, bevor wir wussten, dass es Whitney ist. Es ist furchtbar, man kann keine Nachrichten anschalten, ohne einen Nachruf auf sie zu sehen. Ich habe mit ihrer Schwester, Quinn Buckley, versucht herauszufinden, ob es etwas Heikles gab, an dem sie gearbeitet hat. Sie ist auf ihrem Weg zu Quinns Haus gestorben, weil sie ihre Schwester vor irgendetwas warnen wollte. Wir haben nur noch nicht herausgefunden, was. Ich bin den ganzen Tag ihre persönlichen Sachen durchgegangen, erst in ihrem Haus, dann durch alles, was nach dem Unfall in ihrem Auto gefunden worden ist. Aber da ist nicht viel.”

“Nun, sie wirkte immer schon ein wenig flatterhaft.”

“John Baldwin, willst du mir damit etwa sagen, dass du mit ihr ausgegangen bist? Was für kleine Geheimnisse verbirgst du vor mir? Ich dachte, du hättest gesagt, dass du sie nicht kennst.” Taylor hatte Baldwin auf der Schule auch nicht gekannt, aber er sie. Es wäre auch unmöglich gewesen, Taylor Jackson nicht zu kennen – ihre Fähigkeit, sich mit Schülern alle Schattierungen anzufreunden, und ihre Mir-doch-egal-Haltung hatten sie aus der Masse herausragen lassen.

“Ich bin nicht mit ihr ausgegangen. Wir haben nie miteinander gesprochen. Ich sagte nur, dass sie ein wenig flatterhaft wirkte. Und ich habe mich immer gefragt, was wirklich hinter dieser Entführungsgeschichte steckte.”

“Guter Übergang. Ich habe Quinn gegenüber den Namen des Entführers erwähnt, weil ich wissen wollte, ob Whitneys Ängste etwas mit ihm zu tun haben könnten. Sie erwiderte, dass er noch im Knast säße und frühestens in fünfzehn Jahren freikommen könnte. Mich hatte interessiert, wofür er eigentlich verurteilt worden ist, also habe ich mir die Akte kommen lassen. Nathan Chase sitzt für mehr als nur Freiheitsberaubung. Sexuelle Nötigung, sexuelle Körperverletzung, schwere Vergewaltigung und Unzucht mit Minderjährigen. Diese Mädchen haben ein bisschen mehr hinter sich als nur eine Entführung. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, das alles geheim zu halten.”

“Ich erinnere mich, dass kaum darüber gesprochen wurde. Sie hatten natürlich auch eine ganze Menge Macht und Einfluss auf ihrer Seite. Peter Connolly, ihr Vater, war ein ziemlich hochrangiger Anwalt, wenn ich mich richtig erinnere. Außerdem standen sie als Jugendliche unter besonderem Schutz. Gab es da nicht irgendwelche Anspielungen, als sie aufs Father Ryan gewechselt haben?”

“Ja, sicher, aber nichts Konkretes. Die Lehrer haben ein ziemlich strenges Regiment geführt, wenn jemand Witze über den Vorfall riss, und dann ist es im Laufe der Zeit einfach versandet. Ich denke, es war einfacher für die beiden, in einer neuen Umgebung zu sein, in der keiner so richtig auf sie achtete. Natürlich weiß ich jetzt, dass sie durch die Hölle gegangen sein müssen.”

“Also war Whitney auf dem Weg zu Quinn, als sie den Unfall hatte? Und du hast nichts gefunden, was auf den Grund ihrer Panik hindeutet?”

“Nein, nichts. Im Auto war nichts außer ihrem Handy und ihrer Handtasche. Keine Akten, keine Notizen, nichts.”

“Hat jemand die Aufnahmefunktion ihres Telefons überprüft? Ich nutz die manchmal, wenn ich im Auto unterwegs bin und meine Gedanken nicht aufschreiben kann.”

Taylor fing an zu lachen. “Du bist brillant, weißt du das? Ich sehe besser gleich nach, ob da was zu finden ist. Ich wette eine Million Dollar, dass daran niemand gedacht hat. Lass mich das kurz erledigen, und dann rufe ich dich zurück.”

“Du solltest lieber ins Bett gehen, Süße, es ist fast Mitternacht. Ich bin sicher, dass das Telefon bis morgen warten kann. Du musst mit deinen Kräften haushalten. Los, geh jetzt ins Bett.”

Er war erstaunt, dass Taylor keine Diskussion mit ihm anfing, sondern ihm nur sagte, dass das nach einer guten Idee klänge und sie am Morgen mit ihm sprechen würde.

Sie sagten beide ihr ‘Ich liebe dich’, legten auf, und Baldwin widmete sich wieder seinen Akten. Obwohl er nun gar nicht mit Taylor über seine Sorgen gesprochen hatte, fühlte sich sein Kopf klarer und frischer an. Er breitete die Bilder der Mädchen auf dem Bett aus und stellte sich aufrecht hin, um sie zu betrachten. Anklagende Augen schauten zu ihm auf. Er ging die Fakten in seinem Kopf durch. Der offensichtliche Zusammenhang zwischen ihnen war die Verbindung mit dem medizinischen Bereich. Vielleicht war der Mörder als Kind von einer hübschen, brünetten Krankenschwester belästigt worden. Er rollte mit den Augen. Es könnte tatsächlich so einfach sein.

Er entschied sich, die Akten neu zu ordnen. Es wäre einfacher, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu entdecken, wenn alle Informationen in einer großen Akte mit Unterordnern sortiert wären. Welche Restaurants besuchten sie, wo waren sie angestellt, all diese Informationen wurden auseinandergepflückt und zu einem neuen Stapel zusammengefügt. Baldwin widmete sich dem Arbeitsstapel. Was, wenn er sich mal die Arbeitgeber und nicht die Branche anschaute?

Okay, dachte er. Susan Palmer hatte gerade einen Job am Huntsville Community Hospital ergattert. Jeanette Lernier war Praktikantin in einer Marketingfirma. Jessica Porter arbeitete als Rezeptionistin am Mississippi Community Hospital in Jackson. Shauna Davidson arbeitete … verdammt, das stand hier nicht. Nur, dass sie im Vorstudium an der MTSU war. Marni Fischer war Assistenzärztin am Noble Community Hospital. Christy war Rezeptionistin am Roanoke Community Hospital.

Baldwin klappte sein Telefon auf und rief Grimes an. Die Mailbox sprang an, und er hinterließ eine Nachricht. “Grimes, ich bin’s, Baldwin. Haben Sie eine Ahnung, wo Shauna Davidson gearbeitet hat? Das steht nicht in der Akte. Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Sie diese Nachricht abrufen, okay?”

Er legte auf und tigerte durch das Zimmer. Jeanette Lernier passte nicht ins Profil, sie arbeitete im Marketing. Alle anderen Mädchen hatten in örtlichen Krankenhäusern gearbeitet. Shauna war im medizinischen Vorstudium. Städtische Krankenhäuser. Kommunale Krankenhäuser. Hm.

Zeit, einen Sprung zu wagen. Er klappte sein Telefon wieder auf und rief die Information an. Als die Vermittlung ranging, fragte er nach der Nummer eines städtischen Krankenhauses in Jackson, Mississippi. Sie hatten einen Eintrag für das Jackson Community Hospital. Er hatte angenommen, dass das Wort “Community” nur eine Funktionsbezeichnung dafür war, dass es sich um ein städtisches Krankenhaus handelte, aber nicht, dass es ein Teil des Namens war. Verdammt. Er dankte ihr und legte auf, öffnete seinen Laptop und tippte “Jackson Community Hospital” in die Suchmaschine. Millisekunden später poppte der Internetauftritt auf den Schirm.

Er las sich die Seite durch und sah am unteren Rand einen Link, auf dem “Über Health Partners” stand. Als er den Link öffnen wollte, klingelte sein Telefon. Grimes rief endlich zurück.

“Shauna Davidson hatte einige Sommerkurse belegt, hauptsächlich in Mikrobiologie und Immunologie. Sie musste ein paar Wochen mit praktischen Anwendungen ableisten. Das ist alles.”

“Aber wo hat sie den praktischen Teil absolviert?”

“Im örtlichen Krankenhaus. Nashville Community Hospital. Wieso, Baldwin, haben Sie etwas herausgefunden?”

“Ich lasse es Sie wissen, sobald ich mehr weiß.” Er legte auf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Website. Ein Klick auf den Health-Partner-Link brachte ihn auf ein ausgefeiltes Webportal. Jemand hatte viel Zeit und Mühe darauf verwendet, das konnte man sehen. Schnell wurde deutlich, dass Health Partners die Muttergesellschaft der Community-Hospital-Organisation war. Er las sich alle Informationen durch, sammelte Namen und Webadressen. Die Firma betrieb Krankenhäuser in verschiedenen Staaten, die gesamte Ostküste entlang und quer durch den Südosten. Das war ein herber Rückschlag. Wenn der Mörder sich auf die Krankenhäuser dieser Firma konzentrierte, würden sie von Florida bis Delaware Alarm schlagen müssen.

Ernüchtert klappte Baldwin den Laptop zu. Das musste die Verbindung sein, und doch führte sie nur zu einer Erweiterung des Sichtfeldes anstatt zu einer Fokussierung.

Er wählte Grimes’ Nummer und bekam wieder nur den Anrufbeantworter. Verdammt, schlief der etwa schon? Er hatte doch gerade erst mit ihm gesprochen und ihm gesagt, dass er ihn zurückrufen werde. Baldwin schaute auf die Uhr. Es war drei Uhr nachts. Er war mehrere Stunden im Internet unterwegs gewesen. Tja, dann schlief Grimes wohl tatsächlich. Nun, das konnte auch bis morgen warten. Das Beste, was er tun konnte, wäre, einen Hintergrundcheck sämtlicher Angestellten der betroffenen Krankenhäuser zu starten, um zu sehen, ob ihm irgendwelche Unregelmäßigkeiten ins Auge sprangen.

Baldwin entschied, dass er sich auch besser ein paar Stunden Schlaf gönnte. Vielleicht würde ihm ja im Traum noch etwas einfallen.