10. KAPITEL
Whitney Connolly zwang sich, den Blick vom Fernseher zu nehmen und sich wieder ihrem Computer zuzuwenden. Und wie erwartet tauchte jetzt der richtige Absender auf. Da stand sie, die Nachricht, die sie erhofft hatte. Sie leckte sich über die Lippen und fuhr mit dem Mauszeiger über die Betreffzeile. Sie war so unschuldig wie alle vorherigen. Ein Gedicht für S.W. stand da einfach. Die Absenderadresse war ein einziges Kuddelmuddel aus Buchstaben und Zahlen – IM1855195C@yahoo.com. Eine Zufallsadresse von einem großen Server. Sie hatte einen Freund, der manchmal mehr als nur ein Freund war, gebeten herauszufinden, wer der Absender war, aber er hatte ihr gesagt, dass die Adresse über mehrere Server geleitet worden war und somit eigentlich gar nicht existierte. Wer auch immer ihr diese Nachrichten schickte, war nicht zurückverfolgbar und offensichtlich clever genug, seine Spuren zu verwischen. Whitney machte sich deshalb keine Gedanken. Zur rechten Zeit würde sich ihr anonymer Freund ihr gegenüber schon zeigen. Das taten sie immer.
Sie öffnete die E-Mail und fand die folgenden Zeilen:
Wie können diese entsetzten schwachen Finger
die gefederte Pracht von ihren sich lösenden Schenkeln drücken?
Wie kann irgendjemand, in diesen weißen Rausch gebettet,
das fremde Herz nicht schlagen fühlen?
PS Aus Ihrem Hinterhof
Hm, überlegte sie. Dieser Text war ein bisschen sexuell angehaucht. Aber natürlich, wenn er die Mädchen umbrachte, warum sollte er dann nicht sexuell gefärbte Gedichte schreiben? Er schien sehr talentiert, zumindest ihrer Meinung nach.
Sie fühlte die Gänsehaut auf ihren Armen auf- und ablaufen. Großer Gott, sie bekam Nachrichten von dem Mörder, den das FBI den Southern Strangler getauft hatte. Warum er sie gewählt hatte, wusste sie nicht. Aber sie wollte noch nicht zur Polizei gehen. Was sollte sie auch sagen? “Ach, da fällt mir gerade ein, Officer, ich stehe in Kontakt zu dem Mann, der für die Morde an diesen armen Mädchen verantwortlich ist.” Sie wusste ja nicht mal, ob der Kerl echt war. Sie hatte bisher nichts Handfestes vorzuweisen, aber das sollte sich heute ändern.
Sie druckte die E-Mail aus und versteckte dann drei Kopien an sorgsam ausgesuchten Plätzen, um sicherzustellen, dass sie Beweise hatte, falls ihr Computer den Geist aufgeben sollte. Sie kopierte das Gedicht in ihre Notizen und schaute sich bei der Gelegenheit noch einmal die drei vorherigen Einträge an, wobei sie mit dem ersten anfing.
Eine perfekte Frau, edel erdacht,
um zu warnen, zu trösten und zu befehlen;
und doch ein Geist, still und hell,
mit einem engelhaften Glanz.
PS Das wurde am Tatort gefunden
Unter jedem Eintrag hatte sie sich umfangreiche Notizen gemacht und versucht, den Gedichten einen Sinn zu geben. Welcher Tatort? Sie war beinahe jedes Verbrechen in Nashville durchgegangen, das sie finden konnte, hatte Detectives belagert und ihre Quellen angezapft. Niemand wusste etwas von einem Gedicht, das an einem Tatort gefunden worden war. Es war dumm, ein kleines Liebesgedicht, geschickt an ihre private E-Mail-Adresse. Sie stellte sich sogar einen Moment lang vor, es wäre von einem anonymen Liebhaber, jemanden, den sie kannte, der sich ihr gegenüber aber nicht offenbaren wollte.
Aber als die zweite E-Mail sie erreichte, hatte sie festgestellt, dass diese Nachricht nicht für sie bestimmt war.
Ein Wesen, nicht zu klug oder zu gut,
um des Menschen täglich Brot zu sein,
für vorübergehende Trauer, einfache Listen:
Lob, Schuld, Liebe, Küsse, Tränen und Lächeln.
PS Das war aus L. A..
Das wollte sie entschlüsseln. L. A. konnte drei Dinge bedeuten: Los Angeles, Louisiana oder Lower Alabama, wie die Nashviller spaßeshalber zu der Golfküstenregion sagten. Durch eine kurze Suche erfuhr sie, dass ein junges Mädchen aus Baton Rouge, Louisiana, entführt worden war. Sie recherchierte ein wenig, verfolgte den Fall, und als die Leiche von Jeanette Lernier gefunden worden war, hatte sie dem Gedicht in ihrem Notizbuch einen Namen hinzugefügt. In den Nachrichten waren jedoch keine Gedichte oder Mitteilungen erwähnt worden. Sie wusste, dass alle Ermittler Fakten verschwiegen und der Presse nicht mitteilten, und sei es nur, um Trittbrettfahrer und falsche Geständnisse zu vermeiden. Doch trotz wiederholten Drängens hatte keine ihrer Quellen irgendeine Ahnung von den Mitteilungen gehabt.
Dann war die dritte E-Mail eingegangen, direkt nachdem bekannt geworden war, dass man in Nashville eine Leiche gefunden hatte. Dieses Gedicht war alarmierend.
Ein plötzlicher Hieb,
die großen Flügel schlagen immer noch
über dem schwankenden Mädchen.
Ihre Schenkel werden liebkost
von seinen dunklen Netzen,
ihr Nacken gefangen in seinem Schnabel,
hält er ihre hilflose Brust an seiner Brust.
PS Haben Sie es schon herausgefunden?
Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, dennoch fühlte sie sich seltsam beschwingt von den Worten.
Jetzt wo bekannt war, dass der Southern Strangler sein Unwesen trieb und bereits drei Mädchen ermordet hatte, verstand sie, dass er ihr Kopien von den Nachrichten schickte, die er bei den Leichen hinterließ. Nachdem sie das Muster erkannt hatte, war sie hingegangen und hatte neben das erste Gedicht den Namen Susan Palmer geschrieben. Sie fragte sich einen Moment, warum sie diese Nachrichten bekam. Aber dann schob sie den Gedanken genauso schnell zur Seite, wie er gekommen war; was machte es für einen Unterschied, wenn sie es wüsste? Sie würde endlich ihren Exklusivbericht bekommen.
Diese neue Nachricht brachte ihr Blut in Wallung. Sie würde ein Star werden.
Die vierte Nachricht könnte sich auf das vermisste Mädchen aus Nashville beziehen, Shauna Davidson. Sie würde die Geschichte heute Abend bringen – im Schatten der Morde würde der Vermisstenfall die Hauptstory der Abendnachrichten werden.
Nach den Informationen, die Whitney und ihre Kollegen von der Polizei erhalten hatten, konnten sie bisher nur davon ausgehen, dass Shauna Davidson derzeit einfach nur vermisst wurde. Bei den letzten drei Mädchen hatte Whitney die E-Mail erst nach dem Auffinden der Leichen erhalten. Vielleicht war diese hier auch schon tot aufgefunden worden, und es hatte einfach noch keiner darüber berichtet? Aber nein, so eine Information würden sie nicht zurückhalten.
PS Aus Ihrem Hinterhof. Das traf sofort einen Nerv bei ihr. Mein Hinterhof. Das war nicht wörtlich gemeint. Dafür war er zu elegant. Die anderen PS hatten sich auf die Örtlichkeiten bezogen. Ihr Hinterhof musste also bedeuten, ihre Heimatstadt. Nashville.
Das wiederum hieß, sie, Whitney Connolly, und sie alleine wusste, dass Shauna Davidson tot war.
Sie ging unter die Dusche. Heute würde sie ein wenig Extrazeit aufwenden, um sich für die Zehnuhrnachrichten zurechtzumachen. Sie war sich sicher, dass die ganze Stadt einschalten würde, um heute Abend sie und die größte Nachrichtenstory von ganz Nashville zu sehen.