11. KAPITEL
Jerry Grimes nahm Baldwin am Ausgang vom Hartsfield International Airport in Empfang. Baldwin betrachtete die grauen Haare, das fahle Gesicht, den leicht verkniffenen Zug um den Mund und wusste, dass Grimes diese letzte Vermisstenmeldung schwer zusetzte. Er streckte seine Hand aus und lächelte in einem Anflug von Höflichkeit.
“Grimes, Ihre Haare werden auch jeden Tag grauer.”
Grimes sah einen Moment alarmiert aus, als wenn ihm noch gar nicht aufgefallen wäre, dass das Alter das Schwarz aus seinen Haaren blich. Dann erholte er sich wieder und strich sich mit den Fingern durch die silbernen Strähnen. “Na ja, zumindest habe ich noch welche. Das ist in diesem Job schon ’ne ganze Menge.”
Sie gingen durch die Ausgangstüren hinaus zu Grimes’ Wagen. Er hatte ihn am Bürgersteig in der Abflugzone geparkt. Eines der Privilegien, die das FBI dieser Tage an Flughäfen genoss. Ein uniformierter Officer starrte sie unverhohlen an, als sie in die Limousine stiegen. Grimes nahm das FBI-Schild vom Armaturenbrett, und kaum, dass er losgefahren war, kam er auch schon zum Geschäftlichen.
“Okay, hier ist der Deal. Die Medien haben die Story, die Jungs hier vor Ort konnten nicht dichthalten. Sie haben die Hand gefunden, und sie ist schon zum Gerichtsmediziner geschickt worden. Wir fahren jetzt direkt zur Leichenhalle der kleinen Stadt Adairsville. Ich will da so schnell wie möglich ankommen, also schnallen Sie sich besser an.”
Diese vorgespielte Tapferkeit, dachte Baldwin. Oje. Die Fahrt ging schnell vorüber, und ihre Unterhaltung wurde nur halbherzig geführt. Grimes hatte Theorien über den Fall, und Baldwin hörte sie sich an, auch wenn eine so wenig plausibel war wie die nächste. Teufelsanbetung schien Grimes’ Favorit zu sein. Endlich hörte er auf zu reden, und Stille senkte sich über das Innere des Wagens; beide Männer versanken in ihren Gedanken.
Binnen einer Stunde hatten sie ihr Ziel erreicht. Erstaunlicherweise hatte in Atlanta kaum Verkehr geherrscht, und als sie den Abzweig zur I-75 nahmen, fanden sie ohne Probleme die Abfahrt nach Adairsville. Der Wagen schoss die Abfahrt hinunter, und während sie nach Westen in Richtung Stadtzentrum fuhren, wies Grimes auf den Fundort der Leiche hin. Nicht, dass Baldwin ihn hätte übersehen können. Übertragungswagen säumten die rechte Seite des Highways, ihre Kameras auf das provisorisch errichtete Zelt gerichtet.
Baldwin schüttelte bei dem Anblick den Kopf. Sie hatten es geschafft, die Geschichte in Alabama und Louisiana bedeckt zu halten, aber es sah nicht so aus, als ob ihnen das hier auch gelingen würde. Im Kopf entwarf er eine Strategie, in der sie die Medien für ihre Zwecke nutzen könnten.
Grimes setzte Baldwin vor einem kleinen, anonymen Bürogebäude ab und versprach wiederzukommen, sobald er eine Übernachtungsmöglichkeit für sie arrangiert hätte. Baldwin hatte Verständnis für ihn. Nicht viele Menschen hatten Lust, einer Autopsie beizuwohnen. Ein junger Mann, der aussah, als sei er gerade erst seinen Teenagerjahren entwachsen, begrüßte ihn in der Lobby. Er stellte sich als Arie vor und brachte Baldwin in den Autopsietrakt des Gebäudes. Arie reichte ihm einen Kittel und Handschuhe, dann setzte er sich auf einen Stuhl neben einem Tisch und nahm sein Notizbuch in die Hand. Baldwin betrat den Raum und sah das tote Mädchen.
Shauna Lyn Davidson war nicht gerade sanft zur Ruhe gebettet worden.
Ihre Leiche lag auf einem Seziertisch aus rostfreiem Edelstahl. Ihr Kopf wurde von einem Plastik-U gehalten. Sie hatte blaue Flecken auf dem Gesicht, auf dem Körper. An der rechten Kopfseite fehlte ein großes Büschel Haare. Ihre Nase war verunstaltet, ihre Lippen gesprungen. Alle Anzeichen deuteten auf einen Kampf hin. Shauna war übel zusammengeschlagen worden – eine Abweichung von den vorherigen Morden. Er überlegte einen kurzen Moment – ein anderer MO konnte bedeuten, dass sie es auch mit einem anderen Mörder zu tun hatten. Normalerweise würde Baldwin sich jetzt die Hände anschauen, um zu sehen, in was für einem Zustand sie sich befanden. In diesem Fall war jedoch alles, was er sehen konnte, die blutigen Stümpfe. Definitiv der gleiche Verdächtige.
Der Gerichtsmediziner war ein jovialer Mann, der das Rentenalter schon um mindestens zehn Jahre überschritten hatte. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung, seine Haare weiß und strähnig, die Hose zwei Nummern zu klein für seinen Bauchumfang. Er sah nicht so aus, als ob er allzu viele Mahlzeiten verpassen würde. Er zog sich einen Handschuh aus und streckte Baldwin die Hand hin. Baldwin nahm sie, erstaunt über den kräftigen Händedruck.
“Ich bin Doc Allen. Tut mir leid, dass Sie den ganzen Weg hierherkommen mussten. Wir sind bereit für die Untersuchung, sobald Sie es sind. Eigentlich haben wir sogar schon angefangen, nur mit dem ersten Schnitt haben wir auf Sie gewartet. Alles bereit? Gut. Arie, du schreibst mit?”
Der picklige Junge nickte. Es war an der Zeit, die Toten zu ehren.
Autopsien standen auf Baldwins Liste seiner Lieblingsaktivitäten nicht sehr weit oben. Aber er hielt sie durch, hörte mit einem Ohr, was Doc Allen vor sich hin murmelte. Nur jeder dritte oder vierte Satz hatte etwas mit der Leiche zu tun, die er untersuchte.
“Also, Sie sind von Tennessee, hab ich gehört. Mögen Sie es da oben? Ich war da mal in der Grand Ole Opry, der Radioshow, wissen Sie, oh, schau einer an, ein gebrochenes Zungenbein. Müssen starke Hände gewesen sein, die das getan haben. Wie auch immer, ich hab die Opry besucht, da ist Marty Stuart aufgetreten. Hatte ja keine Ahnung, wie klein der ist. Hat mich andererseits aber auch nicht überrascht. Viele dieser Leute sind tatsächlich kleiner, als man denkt. Das sind definitiv Sägespuren hier an Elle und Speiche. Ich denke, eine glatte Klinge, vielleicht sogar ein Skalpell. Direkt hier über dem Radiokarpalgelenk getrennt. Also, wir sind in dieses Lokal gegangen, das Loveless Café …”
Baldwin blendete ihn aus. Er brauchte Hintergrundinformationen über Shauna, damit er versuchen konnte, herauszufinden, wieso sie das vierte Opfer des Stranglers geworden war.
Doc Allen kam langsam zum Ende. Shaunas Gehirn war entfernt und entsprechend vorbereitet worden, um in Formalin konserviert zu werden. Die Todesursache war offensichtlich: Sie war zwar übel zusammengeschlagen worden, aber man hatte sie auch so stark gewürgt, dass ihr Zungenbein in zwei Teile zerbrochen war. Dafür musste schon gehöriger Druck ausgeübt worden sein. Baldwin stellte sich den Mörder vor; verärgert, aufgeregt, immer stärker und stärker zudrückend, während Shauna unter ihm um ihr Leben kämpfte. Wie er zuschaute, als das Leben langsam in ihren Augen erlosch, die Show genoss. Baldwin wurde langsam wütend auf den Kerl. Gut.
Doc Allen schien noch weiterplaudern zu wollen, aber Baldwin deutete auf den anderen Tisch, auf dem ein kleiner Gegenstand lag, nur bedeckt von etwas, das verdächtig nach einem ganz normalen Stofftaschentuch aussah. Guter Gott, bewahre mich vor Kleinstadtermittlungen, dachte er. Der Doc eilte zu dem Tisch und entfernte das Tuch mit einer Geste, die jedem Zauberer gut zu Gesichte gestanden hätte.
“Hier ist Ihre Hand. Na ja, es ist natürlich nicht Ihre. Gerüchte besagen, dass Sie es mit einem Irren zu tun haben, der Leichenteile durch die Gegend trägt. Ich nehme an, die gehört zu Ihrem Opfer in Nashville? Oder war es Mississippi? Ich kann mir all die Mörder heutzutage gar nicht mehr merken, geschweige denn die armen Opfer. Habe ich Ihnen schon von damals erzählt, als ich …”
“Dr. Allen, ich unterbreche Sie nur ungern, aber ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn wir die Fingerabdrücke dieser Hand sowie DNA-Proben nehmen könnten. Wir werden erst wissen, ob diese Hand zu einem vorherigen Opfer gehört, wenn wir die entsprechenden Vergleichstest durchgeführt haben. Ich will Sie nicht hetzen, aber ich muss dringend an den Ort, wo Shaunas Leiche gefunden wurde, und ich würde da gerne vor Einbruch der Dunkelheit ankommen. Ich danke Ihnen.”
Er drehte sich um, ignorierte das Grummeln des guten Doktors und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er würde alles dafür geben, hier so schnell wie möglich rauszukommen. Es gab hier nichts Neues für ihn zu erfahren.
Grimes und Baldwin machten sich zusammen auf den Weg zu dem Ort, wo Shaunas Leiche gefunden worden war. Die Sonne ging bereits unter, die Presse hatte sich verzogen, und sie hatten das Feld für sich alleine. Baldwin wanderte umher, aufmerksam für jede noch so kleine Kleinigkeit, die ihm ein Gefühl für den Mann geben konnte, der hier tätig gewesen war. Der Shaunas leblosen Körper achtlos abgeladen hatte in dieses anonyme Grab. Doch da war nichts.
Das war nicht die richtige Denkweise. Dieser Mörder war nicht achtlos, er war außergewöhnlich bedacht. Bis jetzt waren seine Bewegungen so präzise, dass sie Baldwin beinahe choreografiert vorkamen. Aber sie sollten den Anschein von Sorglosigkeit erwecken, als wenn die Leichen wie Müll weggeworfen worden wären.
Er schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Zwei tote Mädchen ohne Hände, so schnell aufeinander folgend, reichten aus, um sein normales Gleichgewicht zu stören. Es war eine Weile her, seitdem er einen so grausamen Fall gehabt hatte. Er wurde langsam weich. Falsch. Er erlaubte es sich, weich zu werden.
Sie fuhren zu ihrem Motel, bereit, für heute aufzuhören. Grimes hatte ein gemeinsames Abendessen vorgeschlagen, aber Baldwin war erschöpft. Er zögerte, stimmte dann einem gemeinsamen Frühstück am Morgen zu, bevor sich beide Männer in ihre jeweiligen Zimmer begaben. Baldwin wollte nur eine heiße Dusche, etwas Schlaf und eine frische Perspektive auf die Ereignisse des Tages. Der Mörder bewegte sich schnell, und er hatte keine Ahnung wie er es schaffen sollte, ihm einen Schritt voraus zu sein.
Er machte sich einige Seiten Notizen, in denen er seine ursprünglichen Gedanken über den Mörder etwas detaillierter ausführte. Der Kerl dachte voraus, auch wenn er schnell agierte. Noch war er nicht im Amokmodus. Baldwin wünschte, es gäbe einen sicheren Weg, um vorauszusagen, was als Nächstes passieren würde. Er lenkte sich mit einem erneuten, gewissenhaften Studium der Akten ab. Langsam formte sich ein Bild in seinem Kopf – ein Einblick in die Morde, in die Psyche des Mannes, der dafür verantwortlich war. Dann klappte er endlich die Akten zu und hoffte auf ein paar Stunden ungestörten Schlaf.
Baldwin träumte von Wölfen, die in Schafspelze gekleidet waren, und wachte fasziniert auf. Was für ein seltsamer Traum! Er duschte, rasierte sich, rief kurz Taylor an und verließ dann sein Zimmer. Als er die Tür hinter sich schloss, sah er Grimes winkend auf sich zueilen. Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen ging Baldwin ihm entgegen. “Was ist los?”
“Vermisstenmeldung. Aus einer Nachbarstadt. Noble.”
Wölfe in Schafspelzen, tatsächlich.