18. KAPITEL

Taylor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, die Hände in ihren langen blonden Haaren vergraben. Sonnenlicht blinzelte durch die Jalousien; das Fenster wirkte wie ein weiteres kleines Zugeständnis an ihren wachsenden Glauben an die Fügungen des Schicksals. Die Worte des Arztes jagten durch ihren Kopf wie eine Flipperkugel. Schwanger. Schwanger. Schwanger.

In Gedanken ging sie das Gespräch mit Dr. Gregory wieder und wieder durch, als ob sie die Worte anders anordnen, ihnen dadurch eine neue Bedeutung verschaffen könnte.

“Das ist unmöglich. Ich bin nicht überfällig. Ich bin noch nie überfällig gewesen. Ich denke, ich wüsste, wenn ich es wäre. Und ich nehme die Pille. Glauben Sie mir, die vergesse ich nicht. Also müssen Sie falschliegen.”

“Taylor, so etwas passiert. Die Tests sind sehr empfindlich, sie können Schwangerschaftshormone beinahe von der ersten Sekunde an aufspüren. Sie müssen sich jetzt entspannen. Ich werde Ihnen Schwangerschaftsvitamine verschreiben und möchte, dass Sie jeden Tag ein Milligramm Folsäure zu sich nehmen. Ab jetzt keinen Alkohol mehr. Und ich muss Sie nicht daran erinnern, dass auch das Rauchen verboten ist.”

Taylor hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Psychosomatisch, sagte sie sich. Sie konnte nicht plötzlich unter morgendlicher Übelkeit leiden, nur weil der Arzt ihr gesagt hatte, dass sie schwanger war.

“Ich sag Ihnen doch, Doc, das kann nicht sein. Ich habe nie …”

“Es kann, und es ist”, unterbrach er sie sanft. “Und jetzt möchte ich, dass Sie einen Termin bei Ihrer Frauenärztin vereinbaren, die Sie dann über alles weitere informieren wird.” Seine Stimme war noch ruhiger geworden. “Das ist ein Geschenk, Taylor. Mit dem Schaden, der Ihrem Körper zugefügt worden ist, sollten Sie vor Freude platzen, dass es so schnell geklappt hat. Alles wird gut, das verspreche ich Ihnen. Ich muss jetzt los, aber wir hören uns bald wieder, okay?”

Er hatte aufgelegt, sobald sie ihr Okay geflüstert hatte. Sie starrte auf das Telefon, dann warf sie es quer durch den Raum, als wäre es eine Schlange, die versucht hätte, sie zu beißen. Verdammt. Es war nicht so, dass sie kein Baby haben wollte. Nur eben noch nicht jetzt. Nicht bis sie wusste, wie Baldwin zu dem Thema stand. Sie waren viel zu beschäftigt damit gewesen, das zu tun, was für die Geburt eines Kindes halt notwendig ist, um über die möglichen Konsequenzen zu sprechen. Konsequenzen. Mein Gott, sie klang wie eine Dreizehnjährige in einer Nachmittagsvorstellung. Was in drei Teufels Namen sollte sie jetzt tun?

Sie nahm ihr Handy und wählte Baldwins Nummer. Sobald sie “Wählen” gedrückt hatte, legte sie sofort wieder auf und warf das Telefon vor sich auf den Tisch.

Sie spürte die Tränen kommen und fühlte sich noch schlechter. Als Frau Mitte dreißig sollte sie sich alleine bei dem Gedanken an ein gesundes Kind riesig freuen. Beinahe alle, die sie kannte, hatten mindestens ein Kind. Und diejenigen, die keines hatten, versuchten verzweifelt, eines zu bekommen – unverfängliche Fläschchen mit dem Hormonpräparat Clomid beanspruchten plötzlich einen Platz auf dem Badezimmerregal, dazu dann fieberhafte Gebete, dass sich im Sichtfenster ein kleiner, rosafarbener Streifen zeige und die Blutungen nicht wieder beginnen mögen. Und der herzzerreißende Moment, wenn sie es doch taten. Die Hormonspritzen einmal am Tag, die man sich wie selbstverständlich in die Bauchdecke gab. Die erneuten Gebete, dass die Reifung des Follikels endlich das erwünschte Ei ausspucken würde. Die Temperaturkurven und Eisprunghilfen, müde Ehemänner, die in Plastikbecher ejakulierten, ihre Verzweiflung und Demütigung beinahe so schlimm wie die Sehnsucht ihrer Frauen nach Nachwuchs. Die künstliche Befruchtung, die schwindenden Bankkonten, alles aufgrund der verzweifelten Suche nach einem Teil von sich selbst, den man der Welt hinterlassen konnte. Die meisten dieser Frauen hatten jahrelang alles darangesetzt, eben nicht schwanger zu werden. Nur um plötzlich festzustellen, dass man unfähig war, dieses Versprechen der Weiblichkeit später noch zu erfüllen. Und das war mehr, als sie ertragen konnten.

Taylors Schuldgefühle stiegen merkbar an. Sie hatte nicht versucht, schwanger zu werden. Sie wollte nicht schwanger sein. Verdammt, Baldwin und sie lernten sich doch gerade erst kennen! Wie sollte diese fragile Verbindung ein weiteres Lebewesen verkraften? Sie hatten nie über Kinder gesprochen. Ihr Leben schien derzeit keinen Platz für diese Art von Zukunft zu haben.

Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf. Schnell wischte sie sich die Tränen fort, räusperte sich, strich die Haare glatt und sagte: “Herein.”

Die Tür wurde geöffnet, und die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Julia Page trat ein. Nach einem Blick über die Schulter schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Sie musterte Taylor eindringlich.

“Schlechter Zeitpunkt?”

“Nein, überhaupt nicht. Ich hab nur …” Taylor zuckte mit den Schultern und ließ den Satz unvollendet. Es gab keinen Grund, sich zu rechtfertigen. Julia wäre an den Einzelheiten auch nicht interessiert gewesen.

Julia Page war eine der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältinnen, die Davidson County repräsentierten. Äußerst klug und dabei winzig klein, sah sie eher aus wie ein für die Hundeausstellung zurechtgemachter Zwergspitz als wie die scharfe Anwältin, die sie eigentlich war. Hellbraune Locken umrahmten ihr Gesicht, ließen sie unschuldig und rein aussehen; eine Taktik, die schon so manchen Kriminellen hinters Licht geführt hatte. Sie traten in den Zeugenstand und sahen ihre süßen blauen Augen, die wie Amors Bogen geformten Lippen, und sie wussten einfach, dass dieses hübsche junge Ding keine Bedrohung für sie darstellte. Oh, wie falsch sie damit lagen.

“Gut, denn wir müssen miteinander reden.” Page blieb stehen, womit sie auf gleicher Augenhöhe wie die sitzende Taylor war. “Ich glaube, wir haben ein Problem.”

Taylor unterdrückte ein Stöhnen. Wenn Julia Page mit einem “Problem” persönlich vorbeikam, dann musste es sich um ein Prachtexemplar handeln. Sie spürte, wie sich hinter ihrem rechten Auge ein Kopfschmerz zu formieren begann. Aus ihrer oberen Schreibtischschublade nahm sie eine Flasche Excedrin, öffnete den Deckel und schüttete sich drei Tabletten in die Hand. Dann steckte sie sie in den Mund und spülte mit einem Schluck abgestandener Cola light nach. Als sie schluckte, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Koffein. Sehr wahrscheinlich hätte sie weder die Tabletten noch die Cola zu sich nehmen dürfen. Sie schüttelte den Gedanken ab.

“Was ist denn passiert, Page?”

Page atmete tief ein und spuckte die Worte dann beinahe aus. “Terrence Norton.”

“Was hat der kleine Mistkerl jetzt schon wieder angestellt?”

“Er ist gerade als freier Mann aus Richter Hamiltons Büro spaziert.”

Das weckte Taylors Aufmerksamkeit. “Was meinst du, als freier Mann? Wir haben ihn doch mit todsicheren Beweisen wegen Mordes ersten Grades dran.”

“Hatten”, korrigierte Page. “Wir hatten ihn todsicher dran. Die Jury hat ihn nach nur fünfundvierzig Minuten freigesprochen. Fünfundvierzig verdammte Minuten, Taylor. Alle Beweise, die Zeugenaussagen – zum Teufel, sogar die Zeugen! –, nichts davon schien denen etwas zu bedeuten. Wir haben diesen Prozess verloren, und das ist ein riesiger Schlamassel. Hast du von der Schießerei in dem Problemviertel vor ein paar Tagen gehört?”

Taylor nickte. “Die Mordkommission Ost hat sich drum gekümmert, noch in der Nacht hatten sie den Schützen festgenommen.”

“Tja, das Opfer hätte ein Zeuge gegen Terrence sein sollen. Vor ein paar Wochen hat er seine Meinung und seine Aussage geändert, hat sich entschieden, dass er doch nicht das gesehen hatte, was er dachte gesehen zu haben. Weigerte sich, auszusagen. Wir haben ihn von der Liste gestrichen, wir hatten ja noch andere Zeugen. Es riecht aber sehr nach einem Auftragsmord, nur für den Fall, dass er seine Meinung noch mal ändern sollte. Der Schütze ist aus Atlanta. Er gibt an, hier einen Freund besucht zu haben, der direkt neben dem Zeugen wohnt. Sagt, er und sein ‘Freund’ hatten einen Streit über den Preis von einem Päckchen Heroin, der Zeuge lungerte in der Nähe herum und wurde aus Versehen erschossen. Mir erscheint das allerdings etwas zu bequem.”

“Da stimme ich dir zu. Dahinter steckt mehr. Also vertreibt Terrence die Drogen jetzt aus Atlanta?”

Page schnaubte. “Im Moment könnte Terrence auf dem Mond spazieren gehen. Er hat es tatsächlich geschafft, sich einen Ruf aufzubauen. Wusstest du, dass er mit vier Bodyguards durch die Stadt schlendert, wenn er nicht gerade im Gefängnis sitzt? Das sieht mir verdammt nach Drogen aus. Allerdings haben wir dafür keine Beweise.”

“Und der Prozess ist in die Binsen gegangen?”

“Ja. Seine Leute fanden nicht, dass wir unsere Fakten ausreichend untermauert haben. Das ist übrigens ein wörtliches Zitat des Juryvorsitzenden. Er steht gerade auf den Treppen des Gerichtsgebäudes und spricht mit dem verfickten Channel Four darüber. Und mit jedem anderen Sender, der bereit ist, zuzuhören.”

“Kannst du keinen Maulkorberlass erwirken oder so?”

“Nein. Der Prozess ist vorbei, jeder darf wieder sagen, was er will. Terrence ist da herausspaziert wie Michael Jackson in seinen besten Zeiten, seine Fans haben gejubelt. Wir haben hier ein ernsthaftes Problem, Taylor. Ein beschissen ernsthaftes Problem.”

Als hätte sie ihre gesamte Energie beim Fluchen verbraucht, ließ Page sich mit gesenktem Kopf auf den Besucherstuhl fallen. “Wir hatten ihn. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie ihn freigesprochen haben. Das ist das dritte Mal in den letzten paar Monaten. Wir haben ein ernsthaftes Problem”, wiederholte sie. Page sprach jetzt in ihren Kragen, und Taylor konnte die Wellen der Frustration spüren, die wie bei einem Tsunami von ihr ausgingen.

Terrence Norton war ein niemand von nirgendwo. Nur ein weiteres Kid aus den Gettos der Stadt, das ein ellenlanges Vorstrafenregister hatte: tätliche Angriffe, Einbruch, Vergewaltigung, Mord, Drogen. Norton kam in der kriminellen Szene der Stadt herum, und mit jeder Verhaftung wuchs sein ‘Respekt’ auf der Straße. Mit jedem Freispruch wurde er stärker, wichtiger in der Gemeinschaft. Er wurde zur Legende. Und das war das Gefährlichste, was ein junger Krimineller in Nashville sein konnte. Wenn er stark genug geworden war, um Drogen von außerhalb in die Stadt zu bringen, dann war er noch gefährlicher, als sie gedacht hatten.

Taylor verstand, warum Page zu ihr gekommen war. Fitz hatte so etwas wie eine Beziehung zu Terrence aufgebaut, nachdem dessen bester Freund von einem anderen miesen Typen in den Gettos ermordet worden war. Fitz hatte versucht Terrence dazu zu bringen, zuzugeben, dass der Gangster, der als Little Man Graft bekannt war, seinen Freund erschossen hatte. Im Zuge der Prozessvorbereitung war Terrence verhaftet worden, weil er einen Obdachlosen erschossen hatte. Als man ihn aufs Revier brachte, hatte er sofort nach Fitz gefragt und ihm angeboten, Little Man ans Messer zu liefern, wenn er dafür ein wenig Entgegenkommen bei seiner aktuellen Anklage erhalten würde. Seine Aussage hatte Little Man eine Zelle im Todestrakt gesichert.

Fitz hatte mit dem kleinen Punk einen Deal ausgehandelt, auch wenn er genau wusste, dass die Officer vor Ort eine Pistole gefunden hatten, die genau mit der übereinstimmte, die Terrence sonst bei sich trug. Die Fingerabdruckanalyse hatte ergeben, dass Terrence die Waffe in der Hand gehalten hatte, und die Ballistik bestätigte, dass eine Kugel aus dieser Waffe das Opfer getötet hatte. Trotzdem, diese Jury war übereingekommen, ihn vom Haken zu lassen. Page hatte recht, sie hatten ein Problem.

Taylor betrachtet die andere Frau. “Was glaubst du, geht hier vor?”

Page schaute ihr direkt in die Augen. “Du hast die Wahl. Jurybestechung, Zeugeneinschüchterung, einen korrupten Richter.”

Taylor lachte. “Ja, genau, Terrence Norton hat Richter Hamilton bestochen. Der Mann ist eine Ikone in dieser Stadt. Er hat mehr Kriminelle hinter Gitter gebracht, als du und ich je getroffen haben. Hamilton ist auf keinen Fall in die Sache verwickelt.”

“Meinst du nicht?” Page schaute noch ernster drein, und Taylor fühlte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete. Taylors eigener Vater war wegen unerlaubter Beeinflussung der Wahl eines Bundesrichters verurteilt worden. Er hatte dafür sogar im Gefängnis gesessen. Taylor war sich nicht sicher, was Pages Blick andeuten wollte. Richter wurden mit Geld gekauft. Und Terrence Norton hatte nicht genug, um sich einen Richter leisten zu können. Noch nicht.

“Nein, mein ich nicht.” Taylor erwiderte den Blick, ihre grauen Augen stahlhart. “Jurybeeinflussung und Zeugeneinschüchterung, das kann ich mir vorstellen. Aber nicht Richter Hamilton. Und ich glaube es wäre weise, wenn du dich von diesem Gedankenspiel fernhalten würdest. Ich habe schon Staatsanwälte für weniger ihren Hut nehmen sehen.”

Wütend stand Page auf. “Was willst du damit sagen, Taylor? Dass du mich melden wirst, weil ich mir Gedanken darüber mache, wieso einer unserer berüchtigtsten Verbrecher jedes Mal, wenn wir ihn verhaftet haben, das Gericht als freier Mann verlässt, trotz wasserdichter Beweise für seine Schuld?”

“Setz dich wieder. Du weißt, dass ich das nicht sagen wollte. Jesus, Page, ich dachte, du kennst mich inzwischen besser.”

Page war immer noch erregt, bereit zu einem richtigen Streit. “Ich bin zu dir gekommen, weil ich dir vertraue, Taylor. Wenn es irgendjemanden in dieser Stadt gibt, dem ich zutraue, diese Sache wieder geradezurücken, dann bist du es. Du bist nämlich nicht gerade zimperlich, weißt du.”

Taylor senkte den Blick und rollte mit den Schultern, um die Anspannung in ihrem Nacken zu lockern. Nicht zimperlich. Damit hatte Page recht. Taylor hatte getötet, und zwar mehr als einmal. Sie hatte sich schon früher aus gefährlichen Situationen herausgekämpft, wenn notwendig, auch mit Gewalt, und sie hatte die Narben, um es zu beweisen. Sie war keine gewalttätige Frau, bestimmt nicht. Keine lautstarken Streits, kein zerbrochenes Geschirr, keine Schläge von Männern. Und doch lauerte ein kleines bisschen Gewalttätigkeit in der hintersten Ecke ihres Kopfes, wartete darauf, hervorbrechen zu können. Welche Frau im Polizeidienst hatte nicht einen klitzekleinen Anteil Brutalität in sich? Sie massierte ihren Nacken und sagte leise: “Julia, setzt dich hin. Lass uns reden.”

Der Kampfeswille verließ Page, und sie setzte sich wieder hin. Mit einem Mal sah sie wie eine verletzliche Jurastudentin aus, die ihre Strafe für eine vermeintliche Verfehlung erwartete. Sie zupfte an einer lockigen Strähne über ihrem Ohr, und Taylor fiel auf, wie jung sie wirklich war. Es war einfach, zu vergessen, wie jung sie beide noch waren. Jeden Tag Tod und Zerstörung zu sehen, in einer Welt des Verbrechens zu leben machte sie über ihr Alter hinaus viel reifer.

“Ich denke wir tun gut daran, uns die Jury und die Zeugen genauer anzuschauen anstatt Richter Hamilton. Terrence hat weitaus größere Chancen, die Leute aus seiner Gemeinde einzuschüchtern, die mit ihm oder seinen Gangsterkumpanen in Kontakt kommen, als einen Richter.” Page setzte an, etwas zu sagen, aber Taylor unterbrach sie mit erhobener Hand. “Das soll nicht heißen, dass ich Hamilton ganz außen vor lassen will. Ich denke nur, es ist wesentlich plausibler, dass Terrence sich an die Leute hält, zu denen er bereits Zugang hat, das ist alles.”

Besänftigt nickte Page.

Taylor fuhr fort: “Okay, ich werde Folgendes tun. Du vertraust doch Pete Fitzgerald, meinem Sergeant, oder?”

“Natürlich vertraue ich ihm. Fitz hat mir geholfen, diesen Fall gegen Terrence aufzubauen. Nach dem, was ich gehört habe, hat er eine gewisse Einstellung gegenüber Terrence. Ein gegenseitiges gesundes Misstrauen, nehme ich an. Was ihn betrifft, habe ich keine Bedenken.”

“Dann werde ich dir Fitz zur Seite stellen. Ich informiere ihn über alles, was passiert ist, und schicke ihn dann heute Nachmittag zu dir rüber. Zusammen entwickelt ihr einen Plan, wie die Untersuchungen hierzu verlaufen sollen. Und das ist alles, Page. Ich will von dir nichts mehr über Hamilton hören. Um den Teil kümmere ich mich selbst. Wir können doch nicht riskieren, dass du gefeuert wirst, oder?”

Taylor stand auf und deutete damit an, dass die Unterhaltung beendet war. Page erhob sich ebenfalls, schaute zu Taylor auf und hob eine Augenbraue. “Ich stehe in dieser Sache auf einem Bein, Taylor. Lass mich nicht stürzen.” Sie griff nach der Klinke und stieß die Tür auf. Ein Schwall frische Luft strömte ins Büro. Als Taylor der sich entfernenden stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin hinterherschaute, atmete sie tief ein und versuchte, den Kopf wieder klar zu bekommen. Ein Baby und ein korruptes Justizsystem. Was konnte man vom Leben mehr verlangen?

Sie konnte nur eines tun: Sie rief Sam an und bat um ein gemeinsames Abendessen. Taylor brauchte jetzt eine Freundin.

In Gedanken versunken trat Taylor aus dem Gebäude. Wenn sie sich nur die Zeit genommen hätte, einen kurzen Blick nach draußen zu werfen, bevor sie durch die Tür gegangen war, wäre ihr Leben vielleicht ein bisschen einfacher verlaufen. Stattdessen traf es sie mit voller Wucht.

“Lieutenant Jackson”, rief eine schrille Stimme. Taylors Kopf schoss nach oben. Ein Nachrichtenteam von der lokalen CBS-Tochter hatte sich auf dem Parkplatz eingerichtet und nur darauf gewartet, über sie herzufallen, sobald sie das Gebäude verlassen würde. Es hatte Erfolg.

“Lieutenant, wir hätten gerne einen Kommentar von Ihnen zum Rainman-Fall. Stimmt es, dass der Täter Detective Betsy Garrison von der Abteilung für Sexualverbrechen vergewaltigt und zusammengeschlagen hat?”

Diese Fragen trafen Taylor vollkommen unvorbereitet. Sie hielt inne, ihr Gehirn raste. Verdammter Mist aber auch. Wir hatten sie es rausgefunden? Sie sammelte sich und streckte den Rücken durch.

“Und, stimmt es, Lieutenant?”

Taylor betrachtete das Gesicht des jungen Mädchens, versuchte sie einzuordnen.

“Ich glaube nicht, dass wir uns schon vorgestellt worden sind?”

“Edith Conrad, Channel Five News. Heute ist mein erster Tag”, fügte sie stolz hinzu. “Stimmt es also? Detective Garrison ist das letzte Opfer des notorischen Vergewaltigers, bekannt als Rainman? Der gleiche Serienvergewaltiger, der Nashvilles Frauen seit so langer Zeit terrorisiert, ist so weit gegangen, ein Mitglied der Polizei von Nashville zu überfallen?”

“Sie können aufhören zu missionieren, Edith. Ich habe keinen Kommentar zu den Ermittlungen im Rainman-Fall. Es ist eine laufende Untersuchung, die von der Abteilung für Sexualverbrechen der Metro Nashville Police durchgeführt wird. Wir kommentieren keine laufenden Ermittlungen. Weil es Ihr erster Tag ist, lass ich Ihnen die Übertretung noch mal durchgehen.” Sie ging zügigen Schrittes an der Kamera vorbei, wobei sie absichtlich auf einen Punkt ungefähr zwei Meter zur Linken schaute.

“Lieutenant”, rief ihr das Mädchen hinterher. “Ich werde diesen Beitrag in den Zehnuhrnachrichten bringen. Ich wollte nur sichergehen, dass ich die Hintergründe korrekt wiedergebe.”

Taylor ignorierte sie und setzte ihren Weg über den Parkplatz fort.

“Lieutenant, uns ist außerdem zu Ohren gekommen, dass es in den Fällen DNA-Beweise gibt. Sind Sie sicher, dass Sie das nicht kommentieren wollen?”

Mitten im nächsten Schritt schwang Taylor herum. “Woher haben Sie diese Information?”

Edith lächelte scheu. “Aus einer gut informierten Quelle. Sind Sie bereit, diese Angaben zu bestätigen, oder wollen Sie weiter leugnen? Denn wir beide wissen ja, dass ich richtigliege.”

Taylor musterte sie kurz. Das Mädchen war zierlich, blond und ganz begeistert von sich. Taylor tat das Einzige, was ihr einfiel.

“Kein Kommentar.” Sie beeilte sich, die Straße zu überqueren, wobei sie die Aufregung in der Stimme des Mädchens hörte. “Hast du das?”, fragte sie ihren Kameramann. “Bitte sag mir, dass du alles aufgenommen hast.”

“Fuck”, murmelte Taylor. Sie kam zu ihrem Kombi, stieg ein und fuhr bereits los, bevor sie ihr Handy aufklappte. Sie drückte die Kurzwahltaste für Mitchell Prices Nummer. Er antwortete nach dem ersten Klingeln.

“Price, ich bin’s, Taylor. Wir haben ein Problem. Channel Five weiß von der Garrison-Vergewaltigung.”

Ein Schwall Schimpfwörter, der jedem Seemann Ehre gemacht hätte, quoll durch den Hörer. Als Price sich endlich wieder beruhigt hatte, berichtete Taylor ihm in allen Einzelheiten von der Begegnung mit der Reporterin.

“Was soll ich jetzt tun?”, fragte sie.

“Sie sollen gar nichts tun”, erwiderte er. “Ich werde mich ans Telefon hängen und sehen, was ich machen kann. Verdammt, Taylor, Sie sollten über die Sache Stillschweigen bewahren.”

“Kommen Sie, Captain, das habe ich. Nur Marcus und Lincoln wissen davon. Die undichte Stelle liegt irgendwo anders. Vielleicht das Krankenhaus oder das Labor. Es war abzusehen, dass wir es nicht unter der Decke halten können.”

“Der Presse ist es ohne ausdrückliche vorherige Erlaubnis nicht gestattet, die Namen von Vergewaltigungsopfern in irgendeiner Form preiszugeben. Hoffentlich werden sie also Betsy nicht namentlich erwähnen. Wenn doch, werden wir sie anzünden wir ein Osterfeuer.”

“Es ist der erste Tag von dem Mädchen, also kann ich Ihnen leider keine Einschätzung geben, wie es um ihre Integrität bestellt ist. Aber es wäre auf jeden Fall besser, wenn Sie einen Weg finden würden, die Geschichte zu kippen.”

“Wir werden es nicht komplett unterdrücken können, aber ich werde dafür sorgen, dass sie ihren Namen nicht nennen. Verdammt!”

“Tut mir leid, Cap. Ich kann Ihnen nur versichern, dass es nicht von mir oder meinen Leuten kommt. Viel Glück.”

“Kein Wort darüber, Lieutenant, verstanden? Sorgen Sie dafür, dass außer einem ‘Kein Kommentar’ keinerlei Stellungnahmen unser Gebäude verlassen.”

“Verstanden. Wir hören uns morgen.” Sie legte auf, zutiefst unglücklich. Heute lief aber auch nichts so, wie es sollte.