29. KAPITEL
Whitney Connollys Haus lag in einer vornehmen Nachbarschaft in Bellevue, einer Gegend, die auch scherzhaft als West Belle Meade bezeichnet wurde. Bäume säumten die Straßen, bei den Häusern handelte es sich meist um zweistöckige Ziegelbauten mit großen Vorgärten. Kinder spielten auf den Gehwegen und in den Gärten, unbelastet von den Sorgen dieser Welt, beschienen von einer warm lächelnden Sonne.
Taylor fuhr langsam durch die Straßen und überlegte, ob sie sich hier nach einem Haus zum Kaufen umsehen sollte. Die Gegend wimmelte offensichtlich nur so vor Kindern, und die Häuser waren elegant und groß, viel größer als das ihre. In der Vergangenheit hatte sie schon ein- oder zweimal mit dem Gedanken gespielt, ihr Häuschen zu verkaufen. Es war ein bisschen zu eng für Baldwin und sie gemeinsam. Ein Haus kaufen, einziehen und die Leute sich damit abfinden lassen, wenn sie herausfanden, dass sie einen FBI-Agenten liebte. Zum Teufel, ihr Team kam ihrem Geheimnis langsam auch auf die Schliche, und niemand schien Probleme damit zu haben. Vielleicht war sie das Problem? Ihre eigenen Vorurteile standen ihr im Weg. Immerhin verstieß es gegen kein Gesetz und keine Verordnung, einen Freund zu haben.
Letzte Nacht hatte sie nachgerechnet. Sie waren jetzt seit vier Monaten zusammen. Er war nie offiziell bei ihr eingezogen, sondern hatte einfach nur aufgehört, zurück in sein Haus zu fahren. Sie hatte ihn auch nie ermutigt zu gehen. Während sie sich nach ihrem Unfall erholt hatte, waren sie in diesen Trott gefallen – er brachte abends etwas zu essen mit, sie unterhielten sich über ihre Fälle und endeten immer gemeinsam im Bett. Idyllisch. Es gab doch keinen schnelleren Weg, um eine gute Beziehung kaputt zu machen, als über sie zu reden. Sie wusste, dass er genauso fühlte.
Eine Frau mit einem goldenen Labrador spazierte vorbei und winkte freundlich. Taylor seufzte und riss sich aus ihren Gedanken. Zum Träumen war später noch genug Zeit.
Sie bog links ab und fuhr tiefer in die Nachbarschaft hinein, wo sie vor einem großen, rot verklinkerten Haus mit weißen Säulen anhielt. Quinn Buckley stand auf der Veranda, die Arme um den Oberkörper geschlungen, als ob ihr kalt wäre, ihr hübsches Gesicht verhärmt und verkniffen. Sie sah müde aus und so, als ob sie sich nicht richtig wohlfühlte. Natürlich, dieses Haus war meilenweit entfernt von dem palastähnlichen Anwesen, an das Quinn gewöhnt war. Vielleicht fühlte sie sich einfach fehl am Platze.
Nun mach aber mal halblang, sagte Taylor zu sich selbst. Das war nun wirklich nicht sehr nett. Die Frau hatte gerade ihre Schwester verloren, also im Zweifel für die Angeklagte. Sie stieg aus und ging über den Rasen zur vorderen Treppe. Sie sah, dass Quinn bereits zwei Ausgaben des Tennessean aufgehoben hatte und nun in der linken Hand hielt. Sie reckte sie hoch und schüttelte die Hand leicht, sodass die Plastikhüllen um die Zeitschriften raschelten.
“Ich glaube, ich sollte ihr Abonnement kündigen. Ich schätze, es gibt noch so einiges, was ich hier tun muss.” Quinn schenkte ihr ein kleines Lächeln, das es nicht ganz bis in ihre blauen Augen schaffte.
Taylor nickte. “Es ist immer schwer, sich um alles zu kümmern, wenn jemand gestorben ist. Gibt es jemanden, der Ihnen helfen kann? Hatte Whitney einen Lebensgefährten, jemanden, der mit ihren Alltäglichkeiten vertraut war?”
Quinn lachte bitter. “Nein, Whitney hatte keine Zeit für einen Freund. Sie hatte für niemanden Zeit außer für sich selbst. Es tut mir leid, Lieutenant, aber meine Schwester war eine der egoistischsten Personen, die man sich vorstellen kann. Alles drehte sich um sie und ihre Pläne, ihre Träume. Etwas anderes hat sie nicht interessiert.” Sie drehte sich um und steckte den Schlüssel in Schloss. “Sie hat ihn unter der Fußmatte liegen gehabt, für die Putzfrau. Das hat sie mir vor einiger Zeit mal erzählt, also habe ich angenommen, dass er immer noch da wäre, und so war es auch. Kommen Sie herein.”
Die Eichentür schwang auf, und Taylor wurde von dem Geruch nach Möbelpolitur und Chlorreiniger überwältigt. Ihr Herz sackte in der Brust. “War die Putzfrau gerade erst da?”, fragte sie Quinn.
“Ich glaube, sie kommt einmal die Woche, aber ich bin mir nicht sicher, an welchem Tag. Normalerweise in der Mitte der Woche, glaub ich. Ist das ein Problem?”
“Nein, nicht unbedingt. Wenn ich hier in einem Verbrechen ermitteln würde, dann ja, aber da es sich offiziell um einen Unfall handelt, sollte es egal sein. Wenn jedoch etwas hier war, das der Auslöser für die panischen Anrufe Ihrer Schwester gewesen ist, würde ich es gerne sehen. Vielleicht greifen wir nach Strohhalmen. Es muss nicht sein, dass wir etwas Greifbares finden. Dennoch sollten wir uns einfach mal umschauen.”
Quinn nickte und ging durch die Eingangshalle voran. Das Haus war bis ins letzte Detail wunderschön eingerichtet. Parkettboden führte in eine großzügige Küche, die den neuesten Trends entsprach: Granitoberflächen, italienische Fliesen an den Wänden, weiß gebeizte Holzschränke und eine Edelstahlspüle. Ein Büro und eine kleine Essecke trennten die Küche vom großen Wohnzimmer. Längs unterteilte Fenster bildeten die gesamte Rückwand des Hauses und ließen das natürliche Licht aus dem eingezäunten Garten in den Raum fließen. Alles hatte seinen Platz, nichts lag irgendwo herum. Es war sehr gemütlich, und trotzdem herrschte eine antiseptische Atmosphäre im Raum. Als ob ein Innenarchitekt entschieden hätte, was Whitney mochte, und nicht Whitney selbst. Taylor nahm an, wenn sie so beschäftigt wäre, wie Whitney es offensichtlich gewesen war, hätte sie vielleicht auch jemanden engagiert, der das Haus für sie einrichtete.
Langsam schlenderte Taylor durch das Erdgeschoss. Die Putzfrau war gründlich gewesen, alles war, wie es sein sollte. Verdammt, das machte die Sache nicht einfacher. Als sie sich in Richtung Wohnzimmer wandte, bemerkte Taylor eine Aktentasche und einen Laptop. Der nagelneue Computer stand auf dem Schreibtisch, der in ein Bücherregal eingelassen war, und die Aktentasche lehnte an einem Bein des Bürostuhls. Vorsichtig öffnete Taylor die Aktentasche, aber sie entdeckte nichts Interessantes. Whitney hatte nicht viel Arbeit mit nach Hause gebracht.
Sie zog den Stuhl zurück und setzte sich vor den Computer. Nachdem sie den Deckel geöffnet hatte, wurde sie mit einem Bildschirm voller E-Mails belohnt. Whitney Connolly hatte sich nicht ausgeloggt, bevor sie wie von der Tarantel gestochen zu ihrer Schwester aufgebrochen war. Taylor überflog die E-Mails. Sie sah, dass einige heute hereingekommen waren, sie waren noch fett hervorgehoben, was anzeigte, dass sie noch niemand gelesen hatte. Sie bemerkte auch, dass einige Nachrichten eine kleine rote Flagge in der Betreffzeile hatten. Das hatte sie schon mal bei Sam gesehen, die so viele E-Mails bekam, dass sie die Post, um die sie sich zuerst kümmern wollte, so markierte. Taylor war nicht so wählerisch; sie verbrachte nicht genug Zeit am Computer, um sich Codes für das Abarbeiten ihrer E-Mails auszudenken.
Sie fing mit den rot geflaggten Einträgen an und schaute, ob ihr etwas ins Auge spränge. Ihr fiel auf, dass einige davon schon gelesen worden waren, aber immer noch mit der roten Flagge markiert waren.
“Habe ich Ihre Erlaubnis, mir Whitneys E-Mails anzusehen?”
“Natürlich, tun Sie, was immer Sie tun müssen. Ich werde für einen Moment auf die hintere Terrasse gehen, wenn Sie nichts dagegen haben.” Quinn trat durch die Schiebetür und wandte Taylor ihren Rücken zu. Auch gut, dachte sie. Sie würde nicht wollen, dass irgendein Fremder ihre Sachen durchwühlte, wenn sie mal das Zeitliche segnete.
Taylor schaute sich die älteren, rot markierten E-Mails näher an und verglich sie mit den neueren, ungelesenen. Ein paar davon waren selbst erklärend, Eilmeldungen von Nachrichtenagenturen und Ähnliches. Aber es gab eine kryptische Adresse, die aus einem Kürzel und einer Zahlenreihe bestand, und bei deren Nachrichten die Betreffzeile immer lautete: “Ein Gedicht für S. W.” Auf gut Glück öffnete sie die neueste E-Mail von dieser Adresse.
Halb umschloss sie mich mit ihren Armen,
drückte mich bescheiden an sich;
und den Kopf zurücklegend schaute sie auf
und sah mir direkt ins Gesicht.
Es war teils Liebe und teils Angst
und teils eine schamhafte Geste,
damit ich eher fühlte, als sah,
wie ihr Herz sich mir öffnete.
Sie schloss die E-Mail wieder und fühlte sich wie ein Spion. Und Quinn dachte, ihre Schwester hätte keinen Freund. Sie scrollte durch die Liste und sah, dass es fünf weitere E-Mails von diesem mysteriösen Mann gab – IM1855195C@yahoo.com. Sie öffnete sie alle und überflog sie schnell. Jede enthielt ein Fragment eines Gedichts. Sie wünschte, Baldwin würde ihr anonyme Liebesgedichte schicken.
Sie ging den Rest der E-Mails durch, entdeckte aber nichts, was ihr ins Auge sprang. Es war an der Zeit, Whitneys Schwester einen Blick darauf werfen zu lassen.
“Quinn?”, rief Taylor über ihre Schulter, und Quinn kam von der Terrasse ins Zimmer.
Taylor zeigte auf die E-Mails. “Ich hab die durchgesehen, aber mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Sie scheint eine ganze Menge E-Mails von den immer gleichen Leuten zu bekommen. Können Sie vielleicht auch noch mal draufschauen, ob Ihnen etwas auffällt?”
“Ich glaube nicht, dass das notwendig ist, Lieutenant. Ich bin an den E-Mails meiner Schwester nicht sonderlich interessiert. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendetwas mit mir zu tun haben sollten.”
“Schauen Sie trotzdem bitte kurz mal drauf. Ich habe ein paar Liebesgedichte gefunden, die ihr jemand geschickt hat. Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Whitney keinen Freund hatte?” In Taylors Stimme schwang nur ein ganz sanft anklagender Unterton mit. Sie fragte sich, ob auch nur die geringste Hoffnung bestand, dass Quinn etwas Wichtiges über das Leben ihrer Schwester wusste.
“Liebesgedichte? Lassen Sie mich mal sehen.” Quinn beugte sich über den Tisch, und Taylor öffnete die letzte Nachricht. Quinn las die Zeilen, und ein merkwürdiger Ausdruck huschte wie ein Schatten über ihr Gesicht. Taylor bemerkte es.
“Kommt Ihnen irgendetwas daran komisch vor?”
Quinns Gesicht wurde wieder etwas weicher, und ihre Augen wurden feucht. “Es ist nichts, wirklich.”
Taylor konnte das nicht einfach so stehen lassen. Der Ausdruck auf Quinns Gesicht sagte ihr, dass es mit diesem Gedicht irgendetwas auf sich hatte. “Ich glaube, dass wir hier vielleicht etwas gefunden haben. Es gibt noch mehr davon. Sind Sie sicher, dass sie Ihnen nichts sagen?”
Taylor schaute Quinn an, die versuchte, wegzusehen. Taylor bemerkte das Zittern ihrer Schultern, und sie war erstaunt, eine Träne über Quinns hübsches Gesicht laufen zu sehen.
“Was ist?”, fragte sie sanft. “Geht es Ihnen nahe?”
Quinn stieß einen Schluchzer hervor. “Nein, das ist es nicht. Ich habe meine Schwester geliebt, und es schmerzt mich sehr, dass sie tot ist. Aber die Gedichte haben damit nichts zu tun. Mein Mann hat mir immer Gedichte geschickt. Damals. Heute tut er es nicht mehr.” Sie drehte sich weg und gewann ihre Fassung zurück, indem sie in die Küche ging, sich ein Papierhandtuch nahm, es unter den Wasserhahn hielt und sich dann aufs Gesicht legte. Als sie sich wieder an Taylor wandte, schimmerten immer noch Tränen in ihren Augen, aber sie hatte sich wieder unter Kontrolle.
“Wie dumm von mir, mitten in alldem hier an Jake zu denken. Ich schätze mal, zu sehen, dass Whitney einen Verehrer hatte, weckt in mir den Wunsch, dass Jake immer noch so für mich empfinden würde.” Damit verließ sie den Raum. Taylor konnte sie herumstöbern hören, aber entschied sich, sie eine Weile in Ruhe zu lassen.
Taylor schlenderte durch den Rest des Hauses, hielt die Augen nach allem offen, das ihr einen Hinweis darauf geben könnte, warum Whitney so verzweifelt versucht hatte, ihre Schwester zu erreichen. Wenn doch die Putzfrau nur nicht alles so gründlich sauber gemacht hätte. Wenn irgendwo noch Notizen herumgelegen hatten, Zettel oder Ähnliches, so war davon jetzt nichts mehr zu sehen.
“Quinn?”, rief Taylor. “Haben die Officer vom Unfallort Ihnen irgendwelche persönlichen Sachen von Whitney übergeben?”
Quinn kam zurück in die Küche. “Nein. Ich soll ins Leichenschauhaus kommen und sie dort abholen. Sie sagten, es wären ein paar Sachen in ihrem Auto gewesen … Oh nein, das war dumm von mir, nicht wahr? Wir hätten die Sachen abholen sollen, bevor wir ganz hier herausgefahren sind.”
Taylor unterdrückte ein Lachen. Als wenn Bellevue, gerade mal lausige fünf Minuten weiter von der Innenstadt entfernt als Belle Meade, auf der anderen Seite des Universums läge. “Das ist wirklich kein Problem. Wir können jetzt hinfahren, wenn Sie möchten. Ich denke, wir sollten die Sachen durchgehen und sehen, ob irgendetwas davon uns weiterhelfen kann.”
“Ja, gut. Ich kann Ihnen eine Vollmacht mitgeben, und dann können Sie sich die Sachen selber anschauen, wenn das okay ist.”
Taylor betrachtete sie einen Moment. “Das kann ich tun, aber Sie wollen vielleicht dabei sein.” Sie zögerte, dann entschied sie, dass es dumm wäre, nicht zu fragen. “Quinn, Sie denken doch nicht, dass das hier irgendetwas mit Nathan Chase zu tun hat, oder?”
Quinns Gesicht verlor mit einem Schlag alle Farbe. “Ach du lieber Gott, Sie glauben, er ist …? Er hätte irgendwie mit Whitney in Verbindung treten können?”
“Nun, ich weiß es nicht. Hat er jemals versucht, Sie oder Ihre Schwester zu erreichen?”
Quinn begann auf und ab zu gehen, eine blasse, manikürte Hand an die Kehle gepresst. Sie sah aus, als wenn sie jede Sekunde in Millionen Stücke zerbrechen könnte.
“Nein, wir hatten keinen Kontakt mit ihm. Das war Bestandteil des Urteils. Und er ist immer noch im Gefängnis. Ich weiß das, weil ich mich in unregelmäßigen Abständen erkundige, um sicherzugehen, dass er nicht entlassen worden ist. Er muss noch mindestens weitere fünfzehn Jahre absitzen.”
Das verdaute Taylor einen Moment. Eine Entführung war das eine, aber Chase war zu mindestens dreißig Jahren verurteilt worden. Sie machte sich eine gedankliche Notiz, den Fall noch einmal nachzuschlagen, um herauszufinden, für was genau er verurteilt worden war. Vielleicht hatte es mit diesem Fall hier nichts zu tun, aber es konnte nicht schaden, die ganze Geschichte zu kennen.
“Okay, Quinn. Ich fahr dann mal und kümmere mich um Whitneys Sachen aus dem Auto. Wenn ich irgendetwas Interessantes finde, lasse ich es Sie wissen.”
“Ich danke Ihnen. Wissen Sie schon, wann der Leichnam freigegeben wird? Ich muss anfangen, Vorbereitungen für das Begräbnis zu treffen.”
“Rufen Sie einfach das Büro des Gerichtsmediziners an. Sie werden Ihnen alle Informationen geben können. Es wird nicht mehr lange dauern, das kann ich versprechen.”
Sie waren schon auf dem Weg zur Haustür und hörten so den elektronischen Gong nicht, der verkündete, dass auf Whitneys Computer eine weitere E-Mail eingegangen war.