40. KAPITEL
Taylor lag am warmen sonnigen Strand, die langen Beine auf der Liege ausgestreckt. Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab, beobachtete, wie die Wellen heranrollten und brachen, ließ sich von der Eintönigkeit einlullen. Es gab nichts mehr, worüber sie sich Sorgen machen musste. Sie war in ihrem redlich verdienten Urlaub, und Baldwin war an ihrer Seite. Sie drehte ihren Kopf, um ihn anzuschauen, doch wurde sie stattdessen von einem Anblick begrüßt, der sie zusammenfahren ließ. Identische Zwillingszwerge, beide in blauen, doppelreihigen Jacketts und schneeweißen Krawatten, standen zu ihrer Rechten und betrachteten sie mit anzüglichen Blicken. Einer hielt ein silbernes Tablett mit einem altmodischen Wählscheibentelefon darauf. Das Telefon klingelte, und Taylor scheuchte die beiden davon.
“Ich nehme heute keine Anrufe entgegen, Jungs.” Sie wollte sich auf den Bauch rollen, um ihren Rücken ein wenig zu bräunen, aber der eine Zwerg trat einen Schritt näher und hielt ihr das Tablett direkt vor die Nase. Das Telefon klingelte ununterbrochen. Schlussendlich streckte Taylor eine Hand aus und …
Sie wachte auf und realisierte, dass es ihr Telefon war, das da klingelte. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite und nahm den Hörer ab. Während sie ein verschlafenes “Hallo” in den Hörer brummte, tastete sie nach Baldwin, aber seine Seite des Bettes war leer. Sie konzentrierte sich wieder auf das Telefon. Eine muntere Stimme tönte durch die Leitung.
“Lieutenant, hier ist die Vermittlung der Metro Police. Ich wurde gebeten, Sie darüber zu informieren, dass wir möglicherweise ein unbefugtes Eindringen haben, bei dem Ihre Anwesenheit erforderlich ist.”
“Ist irgendjemand tot?”
“Nein, Ma’am. Die Nachricht, die ich erhalten habe …”
“Dann lassen Sie mich in Ruhe, Vermittlung. Wenn niemand tot ist, werde ich nicht gebraucht.”
“Lieutenant, Officer Parks ist vor Ort und erwartet Sie. Er erwähnte, dass vielleicht ein 216 involviert ist, der Sie interessieren könnte.”
Mist. Das weckte ihre Aufmerksamkeit. Bob Parks war ein guter Freund, und wenn er dachte, dass es sich um einen Einbruch mit Vergewaltigung handelte, und wenn er sie inoffiziell anforderte, konnte es nur einen Schluss geben: Es ging um den Rainman.
Taylor sprang aus dem Bett und versuchte, das Telefon zwischen Ohr und Nacken geklemmt zu lassen, während sie sich eine Jeans anzog. Ihr fiel auf, dass der Fernseher lief – und da waren ja auch die beiden Zwerge in ihren blauen Jacketts und stolzierten für eine lächerliche nächtliche Verkaufssendung über den Bildschirm. Kein Wunder, dass sie von ihnen geträumt hatte. Aber, hey, vielleicht erzielten ihre Investmenttipps ja tatsächlich Millionen, und sie könnte ihren Job aufgeben.
“Wo befindet sich der Tatort, Vermittlung?”
“Eine Seitenstraße des Hickory Boulevard, gleich gegenüber des Harpeth Hills Golf Clubs. Eine Wohnanlage namens Middleton. Kennen Sie die Gegend?”
“Ja, danke. Sagen Sie ihnen, dass ich auf dem Weg bin. Rufen Sie bitte auch Lincoln Ross und Marcus Wade für mich an und bitten Sie die beiden, dorthin zu kommen. Ich werde in zehn Minuten da sein.”
Sie legte den Hörer auf, knöpfte die Jeans zu, schlüpfte in ihre Cowboystiefel und steckte sich das T-Shirt in die Hose. Mit zwei Schritten durchquerte sie den Raum, klemmte das Holster an ihren Gürtel, schaute in den Spiegel und verzog das Gesicht. Die Geschichte war es hoffentlich wert, sie morgens um zwei aus dem Bett zu klingeln.
Baldwin lag auf der Couch, halb schlafend; überall auf dem Boden und um sich herum lagen verstreute Papiere. Taylor gab ihm einen kleinen Kuss auf die Stirn, sagte ihm, wohin sie unterwegs war, und trat aus der Haustür in die Dunkelheit. Ein sanfter Nieselregen fiel. Mist.
Sie stieg in ihren Wagen und setzte das Blaulicht aufs Dach. Mit Höchstgeschwindigkeit durchquerte sie Bellevue und kam nach fünf Minuten an die Old Hickory. Sie gab noch ein bisschen mehr Gas, die steinernen Leitplanken flogen als graue Balken an ihr vorbei. Sie fuhr am Leichtathletikclub und dem Golf Course vorbei und bemerkte die Einfahrt zur Middleton-Wohnanlage ein bisschen zu spät. Sie sah den Streifenwagen mit rotierendem Blaulicht an der Einfahrt stehen, als sie vorbeiraste. Vorsichtig, damit sie auf dem nassen Asphalt nicht rutschte, wurde sie langsamer, wendete und bog dann links in die Anlage ein. Der Streifenpolizist hielt sie mit einer Hand auf. Sie fuhr das Fenster herunter und winkte ihm zu. Sein Gesichtsausdruck wurde gleich viel freundlicher.
“Hey, Lieutenant.”
“Guten Morgen. Wo ist der Tatort?”
“Fahren Sie bis zum Ende der Straße, dann rechts abbiegen. Sie können es nicht verpassen, sind eine ganze Menge Leute von uns da. Warum sind Sie hier?”
Sie ignorierte die Frage, gab Gas und winkte aus dem Fenster, während sie durch die stählernen Tore fuhr. Die Backsteinhäuser lauerten wie schlafende Riesen am Straßenrand. Verandalampen warfen goldene Lichter auf den Asphalt. Sie konnte die blau-weißen Blinklichter vor sich sehen. Sie folgte der Straße bis zum Ende, parkte dann hinter dem Van der Spurensicherung und schob sich durch die Menge zu dem Absperrband, das den Tatort begrenzte. Bob Parks stand im Licht einer Laterne. Sie ging zu ihm.
“Bob”, flüsterte sie ihm ins Ohr, sodass er erschrocken zusammenzuckte. Er drehte sich um und nickte ihr ungewöhnlich grimmig zu.
“Du bist da. Gut”, sagte er. “Ich dachte, du würdest das sehen wollen.” Er zeigte auf das Haus, ein stattliches zweistöckiges Gebäude aus weiß verputzten Steinen.
“Was ist passiert? Die Vermittlung sagte, es hätte ein unbefugtes Eindringen mit möglicher Vergewaltigung gegeben?”
“Ja. Über die Notrufnummer hat ein Kind aus dem Haus angerufen. Es hatte Geräusche von unten gehört und war nachgucken gegangen. Dort sah es seine Mom mit einem maskierten Mann ringen. Der Typ ist durch die Terrassentür eingedrungen und hat die Frau überfallen, während sie schlafend auf der Couch lag. Das Kind, ein kluger kleiner Kerl, ist gleich zurück in sein Zimmer gelaufen, hat die Tür abgeschlossen und 911 angerufen. Die Streife war innerhalb weniger Minuten hier, aber der Kerl hatte seinen Job schon erledigt und war fort.”
“Hat er sie vergewaltigt?”
“Ja. Sie ist sehr durcheinander, aber sie hat uns sagen können, dass er ihr ein Messer an die Kehle gedrückt hat. Es ging alles ziemlich schnell.”
“Und du glaubst, es war der Rainman?”
“Nun ja, es regnet. Außerdem passt das Vorgehen. Ich wusste, dass du dich mit dem Fall beschäftigst, und dachte, dass du hier sein solltest.”
“Geht es dem Kind gut?”
“Ja, alles okay mit ihm. Er ist ein bisschen durcheinander, aber immerhin hat er seiner Mutter vielleicht das Leben gerettet.”
“Okay, danke für die Informationen. Ich weiß nicht, wie viel ich tun kann, aber ich bin froh, dass du angerufen hast. Lincoln und Marcus sollten auch bald hier sein. Wir werden mit dem Opfer reden, sehen, ob es sich an irgendetwas erinnert, das uns weiterhelfen kann. Wir müssen die Frau ins Krankenhaus bringen, damit alle nötigen Untersuchungen vorgenommen werden können. Habt ihr ein paar Jungs hier auf die Suche geschickt?”
“Ja, haben wir. Auch welche mit Hunden. Das Opfer sagte, der Kerl wäre direkt, nachdem er fertig war, durch die Hintertür raus. Genau in dem Moment, als die Sirenen in Hörweite kamen. Das ist ein ziemlich dichter Wald dahinten. Er erstreckt sich bis zu dem Parkplatz der Christ-Presbyterian-Kirche.”
Taylor schaute nach Norden. “Habt ihr Streifenwagen auf dem Parkplatz? Er hat vielleicht dort geparkt und ist dann zu Fuß hierhergekommen.”
“Ja, wir haben dort Beamte positioniert. Aber noch haben wir nichts gefunden. Wie ich gesagt hab, ich dachte einfach, dass du bestimmt wissen wolltest, was hier los ist.”
Taylor berührte seinen Arm. “Das weiß ich zu schätzen, Bob. Es war richtig, dass du mich angerufen hast. Geh du ruhig und tu, was du tun musst. Ich werde auf Lincoln und Marcus warten und dann auch ins Haus kommen.”
Mit einem Nicken verabschiedete sich Parks und ging in Richtung Haus. Taylor betrachtete die Szene. Es hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um das sich vor ihren Augen abspielende Drama zu beobachten. Frauen in Bademänteln und Männer in Jogginghosen standen in Grüppchen zusammen, reckten die Hälse, um möglichst viel mitzubekommen. Es erinnerte Taylor an einen Abend, als sie noch ein Teenager gewesen war und das Haus der Nachbarn gebrannt hatte. Es schien damals, als hätte sich die gesamte Nachbarschaft auf der Straße versammelt, um zuzuschauen, wie die Feuersbrunst sich das Gebäude einverleibte. Menschen wurden von Tragödien angezogen wie Motten vom Licht.
Ihr jahrelanges Training setzte unbewusst ein, und Taylor schaute sich jedes Gesicht genau an. Niemand schien nicht hierher zu passen. Müde Mienen, ängstlich blickend. Aber alle sahen angemessen zerzaust aus, wie es sich gehörte, wenn man mitten in der Nacht von Sirenen geweckt wurde. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich dem Geräusch eines herannahenden Fahrzeugs zu.
Lincoln Ross fuhr in seinem ihm zugewiesenen Auto vor. Sie durften nicht mit ihren Privatwagen zu Tatorten fahren, und so hatte er sich ein Dienstfahrzeug genommen und sich auf den Weg in den westlichen Teil der Stadt gemacht. Marcus saß auf dem Beifahrersitz. Gute Jungs, dachte sie. Als sie auf die beiden zuging, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie schaute nach rechts und hätte schwören können, dort einen Schatten gesehen zu haben. Lincoln stieg aus, und sie weckte leise seine Aufmerksamkeit. Dann deutete sie mit dem Kopf in Richtung des Nachbarhauses. Sie ging langsam in die Richtung, wollte nicht den Eindruck erwecken, als ob sie etwas in der Dunkelheit suchte, war aber dennoch entschlossen, herauszufinden, was sie dort gesehen hatte.
Lincoln und Marcus folgten ihr, und ein V bildend gingen sie langsam und vorsichtig zu der im Dunkeln liegenden Ecke des Hauses. Lincoln flüsterte ihr ins Ohr: “Was hast du gesehen?”
“Ich weiß es nicht”, flüsterte sie zurück. “Sah aus wie eine Person, die an der Hauswand steht. Ich sah nur einen schnellen Schatten. Kann auch meine Einbildung gewesen sein.”
“Vielleicht auch nicht”, brummte Marcus. Er öffnete sein Holster, und Taylor und Lincoln taten es ihm gleich.
Sie waren nur noch knapp drei Meter vom Haus entfernt. Taylor meinte, durch den kräftigen Geruch von nassem Gras hindurch einen Hauch Benzin zu riechen. Sie hielt mitten im Gehen inne und wandte sich an Lincoln. “Riechst du das?”
“Nein. Ich rieche gar nichts.”
“Öl”, sagte Marcus. “Riecht wie in einer Garage.”
Sie schauten sich entsetzt an. Alle hatten den gleichen Gedanken. Versuchte etwa jemand, das Haus in Brand zu setzen? Alle Vorsicht in den Wind schießend, rannte Taylor los. Als sie um die Ecke kam, sah sie gerade noch einen Schuh über einer Böschungsmauer hängen.
“Das ist er!”, rief sie und lief auf die Mauer zu. Sie verpasste den Knöchel, der zu dem Schuh gehörte, nur um eine Millisekunde. “Verdammt, er ist über die Böschungsmauer abgehauen. Parks!”, schrie sie. “Parks, bring deine verdammten Hunde hierher! Er ist über die Mauer weg.”
Dann nahm sie Anlauf, zog sich mit einem Sprung auf und über die Mauer und landete hart auf der anderen Seite. Für einen Moment blieb ihr der Atem weg. Sie hörte Rascheln und unterdrückte Flüche. Lincoln und Marcus kamen ihr nach.
“Bist du okay, Lieutenant?” Marcus zog sie auf die Füße.
“Ja ja, los jetzt. Er ist da entlang gelaufen.” Sie zeigte auf den dunklen Wald. Lincoln und Marcus schalteten ihre Taschenlampen an. Sie hörten, wie jemand schnell durch das Unterholz lief. Die Hunde bellten, Menschen riefen. Taylor folgte dem Lärm.
Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und sie hielt einen Arm vor sich, um die Schläge abzufedern. Die schemenhafte Gestalt, die sie jagten, konnte nicht mehr als knappe vierzig Meter vor ihnen sein. Es war schwierig, hier zu laufen. Marcus stolperte über einen Ast, und seine Taschenlampe erlosch, womit nur noch Lincoln ihnen den Weg leuchten konnte. Dann erreichten sie eine Lichtung und rannten über ein Feld, das hinter einer Farm lag. Taylor konnte den Mann sehen, den sie verfolgten. Ihm ging die Puste aus, er wurde langsamer. Sie machte Boden gut. Zu ihrer Rechten hörte sie einen Hund, der in ihre Richtung kam. Sie wollte von ihm nicht mit dem Täter verwechselt werden; er würde nicht erst fragen, bevor er zubiss.
Sie strengte sich noch ein bisschen mehr an, griff mit ihren langen Beinen weit aus, rannte so schnell sie konnte. Der Mann war nur noch fünf Meter entfernt, dann drei … Sie sprang ab und schlang ihre Arme um ihn, riss ihn von hinten zu Boden. Er kämpfte und trat um sich, schlug mit den Armen, schrie sie an. Lincoln war direkt hinter ihr und packte die Beine des Mannes, versuchte, auch die Arme festzuhalten. Der Mann drehte sich nur ein kleines bisschen in Taylors Griff, und auf einmal sah sie nur noch Sterne. Die Wucht seiner Faust riss ihren Kopf zurück, und beinahe hätte sie losgelassen. Plötzlich war Marcus da, und gemeinsam mit Lincoln hatten sie ihn. Sie rollten ihn auf den Bauch und legten ihm Handschellen an. Taylor dachte endlich daran, wieder zu atmen. Ihr tat alles weh.
Der Schäferhund war nur drei Meter entfernt, saß im perfekten Sitz und bellte den Verdächtigen wütend an. Der Tumult aus Rufen und Bellen übertönte beinahe die Schreie des Verdächtigen.
“Geht von mir runter, ihr Schweine! Ich hab nichts getan. Lasst mich verfickt noch mal los.” Unter Marcus’ und Lincolns gemeinsamem Gewicht konnte er sich kaum bewegen.
Der Hundeführer kam und rief seinen Hund. Der Schäferhund bellte noch ein paarmal, dann stellte er sich auf und winselte. Regentropfen glitzerten auf seinen Barthaaren. Vier weitere Männer kamen zu ihnen, und Lincoln rollte sich zur Seite und gewährte ihnen Zugriff. Marcus stand auf und zog den Mann mit sich. Die Officer riefen Befehle durcheinander, schubsten den Verdächtigen herum. Taylor rollte auf den Rücken, setzte sich dann auf und versuchte, tief durchzuatmen.
“Ich sag Ihnen doch, ich hab nichts getan. Ihr habt den Falschen. Lasst mich los!”
“Ist er das?”, fragte Taylor. Unter ihrer autoritären Stimme verebbte der Tumult sofort. “Haben wir das Schwein?”
Der Mann wurde beinahe bis auf die Unterhose ausgezogen und durchsucht. Immer wieder kamen bestätigende Kommentare.
“Hab hier eine Skimaske.”
“Hier ist ein Messer.”
“Er hat ein Seil in der Tasche. Halts Maul, du Irrer. Wir haben dich bei den Eiern.”
Taylor stand auf. Sie ging zu dem Mann, der immer noch zappelte. Er hielt inne, als er sie sah, und schaute sie mit einem verrückten Lächeln an. Ihr Auge tat weh, ihr Kopf tat weh, ihre Beine waren müde. Aber es sah so aus, als hätten sie ihren Mann.
Mehrere Taschenlampen waren auf ihn gerichtet, sodass sie sich einen guten ersten Eindruck verschaffen konnte. Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Er trug schwarze Cargohosen und ein schwarzes T-Shirt. Er war dünn und drahtig, Muskelstränge wanden sich um seine Unterarme. Er trug schwarze Kampfstiefel.
“Kleiner Ninjakämpfer, was? Wie heißt du?”
“Fick dich.”
“Schöner Name. Hat er irgendeinen Ausweis dabei?”
Weiteres Abklopfen, dann ein Lachen. “Er hat sein Portemonnaie in der Hosentasche. Was für ein Idiot.” Der Officer reichte Lincoln die Brieftasche aus braunem Leder. Er öffnete sie und zog den Führerschein des Mannes heraus.
“Kluger Schachzug, Norville. Jungs, darf ich vorstellen, Norville Turner. Norville, die Männer, die dein Leben von jetzt an zur Hölle machen werden.” Er schaute Taylor an, die in der Dunkelheit den Kopf schüttelte. “Bring die Brieftasche mit, Lincoln”, sagte sie leise.
“Ich hab nichts getan. Ihr könnt mir gar nichts anhängen, ihr Schweine.” Turner fing wieder an, sich zu drehen und zu winden, und wurde schnell zur Ruhe gebracht.
Taylor stellte sich dicht vor ihn, starrte ihm direkt in die Augen, suchend. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn tatsächlich endlich gefasst hatten. Sie kräuselte die Nase. Er roch nach dreckigem Öl. “Halts Maul, Norville. Dein Reißverschluss ist noch offen, du Trottel.”
Er stürzte los, und bevor sie sich wegducken konnte, hatte er sie angespuckt. “Blöde Fotze. Was glaubst du, was du hier machst? Ich habe nichts getan.”
Wütend wischte Taylor sich das Gesicht ab. Die ihn festhaltenden Polizisten gingen wieder auf ihn los, aber Taylor blieb einfach stehen, wartete. Als das Gerangel und Geschrei schließlich aufhörte, lächelte sie ihn an. Dann zog sie ihren Arm zurück und versetzte ihm einen harten rechten Haken. Sein Kopf flog zurück, und seine Knie gaben unter ihm nach. Die umstehenden Officer johlten und lachten. Lincoln stellte sich an ihre eine Seite, Marcus an die andere.
“Wenn er wieder zur sich kommt, sagen Sie ihm, dass er verhaftet ist.” Sie schüttelte ihre Hand aus, drehte sich um und ging davon.
Mit Lincoln und Marcus im Schlepptau ging Taylor durch den Wald zurück. Ihr Kopf pochte, und sie hatte Schwierigkeiten, mit dem rechten Auge zu sehen. Sie fühlte sich einfach wunderbar.
Zurück am Haus, wurden sie von einem wahren Chaos begrüßt. Noch mehr Streifenwagen parkten in der Straße, ein Krankenwagen stand in der Auffahrt zum Haus des Opfers; Blinklichter blitzten in der Nacht. Der unvermeidliche Übertragungswagen war auch schon da. Taylor schaute auf die Uhr. Es war beinahe fünf am Morgen. Die Reporter würden schon einen Livebericht in den Frühnachrichten bringen können.
“Lincoln, Marcus, geht zu Price und erzählt ihm, was passiert ist. Ich werde mal sehen, wie es dem Opfer geht. Ihr müsst den Verdächtigen aufs Revier bringen und die Formalitäten erledigen. Dann organisiert bitte eine Gegenüberstellung, ich will sehen, ob das Opfer ihn wiedererkennt. Vielleicht ist die Maske verrutscht oder so. Egal wie, er muss jetzt so schnell wie möglich erkennungsdienstlich behandelt werden. Stellt sicher, dass alles glattläuft, okay?”
“Klar, Boss. Ich ruf an und lass schon mal ein paar Fotos für die Gegenüberstellung zusammenstellen. Ich bin sicher, dass wir fünf Aufnahmen finden, die diesem Wichser ähnlich sehen.” Marcus nahm sie beim Arm und drehte sie ein wenig zu sich, sodass er sie besser sehen konnte. “Mann, das wird in ein paar Stunden aber einen schönen Regenbogen geben, Lieutenant.”
Mit sanften Berührungen erkundete Taylor ihr Gesicht. Sie zuckte zusammen und entschied, dass sie in naher Zukunft lieber nicht sehen wollte, wie sie aussah. “Tja, alles für den Job, weißt du.”
Lincoln kam zu ihnen herüber und bot Taylor eine Eiskompresse an, die er aus dem Krankenwagen geholt hatte. “Hier, bitte schön. Soll ich bei dir bleiben?”
“Nein, ihr zwei übernehmt die Sache auf dem Revier. Mir geht es gut. Aber danke.” Mit einem Nicken entließ sie die beiden und ging in Richtung Haus, wobei sie die Eiskompresse gegen ihr Auge drückte und versuchte, ihre Schritte so sanft wie möglich aufzusetzen, um ihren Kopf nicht zu erschüttern. Es war schon eine Weile her, seit sie einen Schlag ins Gesicht bekommen hatte. Sie hatte ganz vergessen, wie schrecklich weh das tat.
Als sie am Haus ankam, trat Brian Post gerade aus der Tür.
“Hey, Lieutenant, gut dich zu sehen. Ich hab gehört, du hast den Bastard ganz alleine zu Fall gebracht?”
Taylor ließ die Kompresse sinken. Post stieß einen langen, anerkennenden Pfiff aus.
“Wow, das ist mal ein Veilchen. Geht’s dir gut?”
“Könnte nicht besser sein. Wie geht es dem Opfer?”
“Brauchst du ein Handtuch?” Misstrauisch beäugte er ihre tropfenden Haare.
“Nein, geht schon.”
“Okay. Ich bring dich rein.” Auf dem Weg zur Tür plapperte Post in einer Tour. Der Adrenalinrausch hatte sie alle gepackt. In ein paar Stunden würden sie zusammenbrechen, aber im Moment waren sie wie auf Speed.
“Als wir den Anruf erhielten, habe ich es mit Müh und Not geschafft, dass Betsy zu Hause geblieben ist. Sie wollte mitkommen, sich selbst um das Opfer kümmern. Ich musste sie beinahe ans Bett fesseln.”
“Das ist mein Mädchen.” Taylor schenkte ihm ein schiefes Lächeln. “Ich hätte nichts anderes von ihr erwartet. Sie ist eine mutige Frau.”
Das Innere des Hauses war erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Jede Lampe im Haus brannte. Taylor ignorierte alles um sich herum und ging direkt zu einer kleinen brünetten Frau, die in ein weißes Laken gehüllt auf dem Sofa saß. Gut, dachte sie. Standardprotokoll für ein Vergewaltigungsopfer, sie einzuwickeln, um sicherzustellen, dass sie keine Beweise kontaminierte oder verlor, bevor man sie nicht ins Krankenhaus gebracht und alle notwendigen Tests durchgeführt hatte.
Die Frau schaute mit glasigen Augen zu Taylor auf. “Wer sind Sie?”
“Ich bin Lieutenant Taylor Jackson. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht, bevor wir Sie ins Baptist Hospital in der Stadt bringen. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?”
“Ich bin Nancy. Nancy Oldman. Ich bin … nun ja, es geht mir nicht gut, aber das wird schon wieder. Der Officer sagte, dass sie ihn vielleicht gefasst haben? Den Mann, der mich … der mich vergewaltigt hat?” Die Frau reckte ihr kleines, spitzes Kinn ein wenig in die Höhe. Ihre Kraft war noch nicht ganz erloschen.
“Wir hatten außerhalb Ihrer Grundstücksgrenze eine Auseinandersetzung mit einem Mann, das stimmt. Können Sie mir irgendetwas über den Mann sagen, der Sie angegriffen hat?”
Nancy schniefte, Tränen stiegen ihr in die Augen. Aber genauso schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. “Ich habe sein Gesicht nicht gesehen. Er trug eine schwarze Skimaske. Aber er hat gestunken. Nach Benzin oder so ähnlich. Er war schnell, hat mich einfach gepackt, hingeworfen, und es war so schnell vorbei, dass ich gar nicht weiß, was ich Ihnen erzählen soll. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, aber ich weiß, dass es nicht lange gedauert haben kann. Ich meine …” Sie unterbrach sich selbst und holte tief Luft. “Sie sind verletzt. Geht es Ihnen gut?”
Taylor kniete sich hin, um mit der Frau auf Augenhöhe zu sein. “Ja, mir geht es gut. Nancy, wir brauchen Sie jetzt. Sind Sie bereit, gegen den Mann, der Ihnen das angetan hat, auszusagen, wenn wir ihn erst einmal offiziell verhaftet haben?”
Ihr Kinn hob sich noch ein kleines Stück. “Ja. Ich werde aussagen.”
“Sehr gut. Ich werde Sie jetzt von Detective Post ins Krankenhaus begleiten lassen. Sie haben das großartig gemacht, Nancy. Wir sprechen uns bald wieder, okay?” Taylor klopfte ihr unbeholfen aufs Knie; das Laken raschelte unter ihrer Hand.
Sie lächelte Post an und verließ dann das Haus. Sie brauchte ein Bad und ein paar Aspirin, um den Schmerz in ihrem Gesicht zu dämpfen. Aber als Erstes würde sie den Spießroutenlauf hinter sich bringen müssen.
Das Getöse begann, als sie das Ende der Auffahrt erreicht hatte. Reporter schubsten und drängelten, um als Erstes bei ihr zu sein. Sie blieb stehen und hielt eine Hand hoch. Die Lichter blendeten sie, und für eine Sekunde konnte sie nichts sehen. Sie hörte, wie eine Frau entsetzt aufstöhnte; ihr Gesicht musste also mindestens so schlimm aussehen, wie es sich anfühlte. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und versuchte, es wenigstens ein bisschen in Ordnung zu bringen. Ein Blatt fiel heraus, und sie hätte beinahe laut gelacht. Die wilde weiße Frau aus Borneo sprach mit der Presse.
“Ich habe eine kurze Erklärung abzugeben”, sagte sie. Sofort wurde die Menge still.
“Wir haben einen Mann verhaftet, der sich auf verdächtige Weise vom Tatort entfernt hatte. Es ist möglich, dass er der Täter dieses Verbrechens ist. Ich bin sicher, dass der Sprecher der zuständigen Abteilung später noch viele weitere Informationen für Sie bereithält. Danke.” Sie drehte sich um und ging zu ihrem Kombi. Die Rufe folgten ihr.
“Lieutenant, war die Tat das Werk vom Rainman?”
“Haben Sie endlich den Serienvergewaltiger gefasst?”
“Wird der jetzt zum Nachtgericht gebracht?”
“Hat er Sie geschlagen, Lieutenant?”
Sie entschied sich, diese letzte Frage zu beantworten. Sie drehte sich zu den Reportern um und versuchte zu zwinkern, aber ihr Auge gehorchte nicht so recht. “Zumindest wird er wegen tätlichen Angriffs auf einen Polizeibeamten angeklagt.” Mit einem kleinen Lächeln stieg sie in ihren Kombi und fuhr nach Hause. Was für eine Nacht.