4. KAPITEL
Baldwin entschuldigte sich, um das FBI in Quantico anzurufen, und Taylor bedeutete Fitz, zu ihr zu kommen. Er stapfte über die Wiese wie ein General, der seine Truppen befehligte, wobei sein übergroßer Bauch seinen Füßen die Richtung vorgab.
“Was macht der Fed hier?”, fragte er in neutralem Ton. Taylor schaute ihn an, versuchte herauszufinden, ob mehr hinter der Frage steckte, aber Fitz’ Miene verriet nichts. Sie entschied, dass es nur einfach eine Frage gewesen war.
“Rate mal.” Taylor beschirmte ihre Augen mit einer Hand und schaute Baldwin hinterher, der wie ein frisches Blut riechender Jaguar über den Tatort schlich.
“Er ist hier, um ein Profil des Mörders zu erstellen, weil es ein Muster gibt”, erwiderte Fitz. Er folgte Taylors Blick. Es gab nur einen Grund, warum ein Profiler in ihrer Sandkiste spielen sollte.
“Zwei vor ihr. Wir haben eine vermutliche Identifizierung. Jessica Ann Porter. Aus Mississippi. Wo ist Lincoln?”
“Mit Marcus am Auto.”
“Er muss mal wieder seine Wunder am Computer wirken. Sag ihm, dass ich alle Informationen benötige, die das FBI über diese Morde hat. Das erste Mädchen war aus Alabama, die Studentin, die vermisst und dann im April in Louisiana gefunden wurde. Die Zweite wurde im Juni aus Baton Rouge entführt und in Mississippi entsorgt. Lincoln soll alle Einzelheiten raussuchen, damit wir wissen, mit was wir arbeiten können. Das FBI hat Informationen zu den Fällen zurückgehalten, inklusive der Tatsache, dass der Mörder eine Hand vom vorherigen Opfer am Fundort des nächsten Opfers zurücklässt. Ich bin sicher, dass Baldwin alles, was er weiß, mit uns teilen wird, aber ich will unsere eigene Akte zu diesem Typen haben.”
“Bist du sicher, dass er uns alles sagen wird?”
Taylor zwinkerte und schenkte Fitz ein 100-Watt-Lächeln. Ihre grauen Augen blitzten in der weißen Luft. “Ich bin sicher.”
Taylor gab gerade einer Bolognesesoße den letzten Schliff. Sie schmeckte ab, rührte noch einen Löffel Oregano hinein, schmeckte erneut. Hm. Knoblauch. Eine weitere Zehe wanderte in den Topf, dann schloss sie den Deckel und genoss den reichhaltigen, würzigen Duft, der durch die Küche wehte.
Draußen brach langsam die Dämmerung herein, die Dunkelheit kam mit großen Schritten heran. Sie lenkte sich ab, indem sie ein Baguette mehrmals anschnitt, es in Alufolie wickelte und zum Aufbacken in den Ofen schob. Sie nahm einen Schluck Wein, ein wunderbarer Chianti aus der Region Montepulciano in der Toskana, den sie mithilfe des Inhabers ihres lokalen Weinladens entdeckt hatte. Sie nannte den Mann immer Geppetto, weil er der Comicversion des Holzschnitzers aus Pinocchio so ähnlich sah. Er war ein freundlicher Mann mit einem herabhängenden grauen Schnauzbart und einem hervorragenden Geschmack, was die Weine der Toskana anging. Er liebte seinen Spitznamen, aber niemand außer Taylor durfte ihn so nennen. Sie lächelte und trank noch einen Schluck.
Da es nichts weiter zu tun gab als darauf zu warten, dass die Soße fertig würde, setzte sie sich an den Küchentisch, trank Wein und beobachtete die Glühwürmchen auf ihrer Veranda. Ihr Haus war grundsolide, eine Blockhütte, die sie sich vor Jahren gekauft hatte, gemütlich, versteckt in der Hügellandschaft des Zentralbassins von Tennessee. Es gab hier Rehe und Kaninchen, und früher im Jahr hatte sie sogar eine Fähe mit ihren Jungfüchsen gesehen. Privatsphäre und Ruhe, alles, was ein überarbeiteter Detective der Mordkommission brauchte.
Ihre Gedanken schweiften unweigerlich zum heutigen Tatort zurück.
Sam hatte nach ihrer Ankunft gleich die Kontrolle übernommen und Jessicas Leiche für den Transport vorbereitet. Der Körper, dehydriert und warm, war schwierig zu handhaben, und einer der Träger hatte den Halt verloren, als sie die Leiche auf die Trage heben wollten. Ihm rutschte das Kopfteil des Leichensacks aus der Hand, und wütende Fliegen waren aufgestiegen. Taylor hatte das schwüle Wetter verflucht – der Tod war in der Kälte zwar nicht einfacher, aber erträglicher.
Mit was für einer Art Mörder hatten sie es hier zu tun? Einvernehmlicher Sex, dann Erwürgen und Missbrauch; wie ein schlechtes Date, das ganz schlimm verkehrt läuft. Taylor wusste, dass Baldwins Profil einige der Lücken füllen würde.
Die Autopsie an Jessica Porter würde am nächsten Morgen durchgeführt werden. Taylor wollte dabei sein, sowohl als Zeichen des Respekts als auch als Versuch, dem Mörder von Jessica auf die Spur zu kommen. Es gab immer irgendwelche Spuren – sogar der penibelste Mörder ließ irgendetwas von sich zurück. Die Tatsache, dass dies sein dritter Mord sein könnte, war verstörend, um es milde auszudrücken.
Die fehlenden Hände störten sie. Eine Grundregel besagte, dass der Tod niemals schön war. Das Entfernen der Hände der Mädchen war ein offensichtlicher Versuch, ihre Identifizierung zu erschweren. Sie bei über dreißig Grad auf einem verlassenen Feld abzulegen würde den Rest erledigen. Aber warum zum Teufel nahm er die Hand des vorherigen Opfers mit an den nächsten Ablageort?
Baldwins Erklärung der Signatur des Mörders hatte Taylor kalt erwischt. Sie hatte die offensichtliche Frage gestellt: Wo ist die andere Hand?
Er hatte freudlos gelacht. “Das ist die Frage, auf die wir alle gerne eine Antwort hätten.”
Sie hätten es auch leicht übersehen können. Verdammt, sie hatten wirklich Glück gehabt. Der Makler, der das Land zum Verkauf anbot, war vorbeigefahren, um eine neue Telefonnummer auf sein Schild zu kleben. Der Geruch nach verrottendem Fleisch hatte ihn überwältigt, und so hatte er die Polizei gerufen, die dann die Leiche entdeckte. Diesmal war das Glück wahrlich auf ihrer Seite gewesen. Ansonsten hätten sie Jessica Porter noch weitere Wochen vermisst, vielleicht sogar noch länger. Ausreichend Zeit für die Hitze und die Käfer und das andere Ungeziefer, ihren Job zu tun und es beinahe unmöglich zu machen, die Überreste zu identifizieren. Der Mörder war kein Dummkopf.
Aber sie hatten Jessica gefunden, und nun hatten sie eine Spur zum Mörder. Taylor überlegte, welche Verbindung es wohl zwischen Jackson, Mississippi und Nashville gab, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde.
“Wir geht es meiner liebsten Debütantin?”
Sie warf dem Besitzer der lauten, tiefen Stimme einen bösen Blick zu, was ihn zum Lächeln brachte. In drei großen Schritten war er bei ihr, umfasste ihre Schultern und zog sie in seine Arme. Sie steckte ihre Nase in die Kuhle über seinem Schlüsselbein und seufzte. Er roch gut, frisch. Kein nachklingender Hauch von Tod, nur Seife und Zeder. Sie schnupperte noch einmal an ihm, dann schob sie ihn von sich. Er stolperte zurück und hielt eine Hand hoch, wie um die auf ihn zukommende Sturzflut zu bremsen.
“Verdammt, Baldwin, wieso hast du mir nichts davon erzählt?”
“Ich nehme an, es gibt heute Abend Pasta? Es duftet großartig.”
Ihr Blick war mörderisch, und er zuckte verlegen mit den Schultern. “Was hätte ich tun sollen, Taylor? Wie hätte ich wissen können, dass er nach Nashville kommt? Das Porter-Mädchen ist vor drei Tagen als vermisst gemeldet worden, und man hat mich nicht gleich darüber informiert. Nächstes Mal werde ich dran denken, dir vor dem Einschlafen Bescheid zu sagen, dass ein Mädchen in Mississippi vermisst wird und du besser Ausschau hältst, ob ihre Leiche hier in der Stadt auftaucht. Meine Güte, Taylor, mach mal halblang, okay? Ich hatte keine Ahnung, wohin er unterwegs war. Ich wusste noch nicht mal, dass es sich um den Strangler handelt, bis ich das Mädchen gesehen habe.”
Er streckte die Hand aus, als ob er ihre Wange streicheln wollte, aber sie drehte sich um und ging zum Herd. Angelegentlich widmete sie sich dem Umrühren der Soße.
“Komm schon, Liebste. Wenn ich gedacht hätte, dass die Spur zu unserem Jungen führt, hätte ich dir eher Bescheid gesagt, wirklich. Er war seit einem Monat nicht mehr aktiv. Wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben so wenig, auf das wir bauen können. Er hinterlässt nicht genug Spuren, um vernünftig damit zu arbeiten. Fehlende Hände und tote Mädchen.”
Taylor drehte sich wieder um und schaute ihn an. Seine grünen Augen waren von Sorge überschattet, das grau melierte Haar stand wirr um seinen Kopf. Sie wusste, dass er mit den Händen hindurchgefahren war in dem Versuch, sein Gehirn noch härter arbeiten zu lassen.
“Fehlende Hände und tote Mädchen erscheinen mir eine ganze Menge.” Sie klang gereizt und fühlte sich idiotisch. Es gab keinen Grund, sauer auf Baldwin zu sein. Er machte nur seine Arbeit. Eine Arbeit, von der er wollte, dass sie sie mit ihm teilte. Nun sah es so aus, als ob sie tatsächlich zusammenarbeiten würden.
“Stellst du eine Sonderkommission auf?”
“Die besteht im Moment bloß aus mir. Ich wusste, dass ich mit dir zusammen an dem Fall arbeiten könnte, also bin ich quasi als freier Mitarbeiter dabei. Zwei andere Jungs übernehmen die alten Fälle – Jerry Grimes und Thomas Petty. Ich werde alle Informationen mit ihnen teilen und sie mit mir. Du weißt ja, wie das läuft.”
Seit drei Monaten arbeitete Baldwin bereits als Berater für die Metro Nashville Mordkommission. Er war vom FBI ausgeliehen worden, und seine Hilfe war von unschätzbarem Wert für ihre Fälle gewesen. Und natürlich war es auch keine Strafe, das Bett mit ihm zu teilen.
Sie schenkte ihm ein abschätziges Lächeln. “Du verlierst keine Zeit. Du hast bestimmt auch schon mit Price gesprochen, oder?”
Er setzte sich an den Tisch und nickte. “Garrett Woods hat ihn angerufen.” Woods war Baldwins Boss beim FBI und ein Freund von Mitchell Price, dem Chef der Kriminalpolizei in Nashville. Morde fielen in seinen Zuständigkeitsbereich.
Taylor wandte sich wieder dem Herd zu. “Ich habe Hunger. Wir können später darüber reden.”
Baldwin lächelte sie an. “Wer sagt, dass wir überhaupt reden werden?”
Taylor stand unter der Dusche, als der Anruf kam. Baldwin hütete sich, ans Telefon zu gehen. Sie achtete penibel auf ihre Privatsphäre und fand die Vorstellung fürchterlich, dass irgendjemand von ihr und Baldwin erfahren könnte. Es wäre einfach nicht gut, wenn ihre Detectives ihre Motive oder Absichten infrage stellten. Sie zog es vor, sie im Unklaren über ihre persönlichen Beziehungen zu lassen. Wenn sie wüssten, dass Taylor Vollzeit mit einem FBI-Agenten schliefe, würden sie sie mit anderen Augen betrachten. Zumindest redete sie sich das ein.
Ihre beste Freundin war die Einzige, die sie eingeweiht hatte. Sam Loughley war der Meinung, sie wäre verrückt zu versuchen, es geheim zu halten. Wieder und wieder hatte sie versucht, Taylor davon zu überzeugen, dass niemand aus ihrem Team sie schikanieren würde, wenn sie von der Beziehung zwischen ihr und Baldwin erführen, aber Taylor hielt Privat- und Berufsleben lieber getrennt.
Sie trat aus der Dusche, trocknete sich ab und ging zum Anrufbeantworter. Die Nachricht war kurz. “Ruf mich an”, sagte die Stimme, die sie sofort als die von Fitz erkannte. Es war spät, und sie war müde, aber trotzdem wählte sie Fitz’ Handynummer und wartet darauf, dass er ranging.
“Hallo?”
“Fitz, ich bin’s, Taylor. Was gibt’s?”
“Ich wollte dich nur vorwarnen. Vor ungefähr einer halben Stunde kam eine Vermisstenmeldung rein. Ein Mädchen namens Shauna Davidson aus Antioch. Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat, aber sie wird seit gestern vermisst. Laut ihrer Mutter ist sie letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie hat versucht, sie zu erreichen, aber Shauna geht weder an ihr Telefon noch an ihr Handy. Die Mutter hat den Bericht über das tote Mädchen in den Nachrichten gesehen und dachte, dass es vielleicht ihre Tochter wäre. Sie ist total ausgeflippt. Das Problem ist, das Mädchen vom Feld heute ist nicht Shauna Davidson – und Shauna ist nirgends aufzutreiben.”
Taylors Magen zog sich zusammen. “Ist sie brünett?”
Sie hörte, wie Fitz in Papieren blätterte. “Ja. Braune Haare, braune Augen, eins siebzig groß, dreiundsechzig Kilogramm. Achtzehn Jahre alt.”
“Haben wir noch mehr Informationen? Wo arbeitet sie? Vielleicht ist sie da aufgetaucht?”
Fitz blätterte wieder um. “Das steht hier nicht. Aber ein Mädchen wie sie … ich würde schätzen, in einer Boutique oder als Kellnerin. Sie lebt in Antioch, arbeitet vielleicht bei Hickory Hollow oder so. Ich überprüfe das. Ich bin gerade auf dem Weg dahin. Sollte nicht zu schwer herauszufinden sein. Es sind bereits Officer vor Ort, und über Funk wurde Meldung gemacht, dass wir es eventuell mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben. Vielleicht ist nur das Schloss ihrer Haustür geknackt worden, vielleicht steckt aber auch mehr dahinter.”
“Okay, fahr hin und sieh dir die Sache an. Hoffentlich hat sie einfach nur eine Nacht durchgemacht.”
“Gut. Ich ruf dich an, wenn wir dich brauchen.”
“Danke für deinen Anruf. Wir sehen uns dann morgen früh, wenn nicht noch was dazwischenkommt.”
Sie legte den Hörer auf. Die Presse würde sich mit Freude darauf stürzen. Es war eine Sache, Morde und Entführungen in anderen Staaten aus den Medien rauszuhalten. Aber ein Mord und eine Entführung in der eigenen Stadt konnte man unmöglich für sich behalten. Sie schaute auf ihre Uhr. Fünf vor zehn.
Taylor nahm sich eine Cola light und ging ins Wohnzimmer. Baldwin war auf der Couch eingeschlafen, einen dicken Ordner in den Händen haltend. Sie erkannte die Aufschrift – Nur für FBI-Agenten. Sie betrachtete ihn einen Augenblick, wollte ihn nicht wecken, wusste aber, dass sie es eigentlich tun sollte. Er würde es wissen wollen. Sanft schüttelte sie ihn an der Schulter.
“Was ist los?” Abrupt setzte er sich auf, und die Akte fiel zu Boden. Der Inhalt verteilte sich auf dem Fußboden. Taylor sah Tatortfotos, grausame Bilder des Todes. Während sie ihm half, die Bilder einzusammeln, fragte sie sich, was zum Teufel sie eigentlich taten. Sich jeden Tag mit dem Tod beschäftigen. Dieser Gedanke war ihr in letzter Zeit immer öfter gekommen.
“Fitz hat gerade angerufen, es gibt eine neue Vermisstenmeldung. Ein achtzehnjähriges Mädchen namens Shauna Davidson. Er ist gerade auf dem Weg zu ihrer Wohnung und ruft an, wenn er mich brauchen sollte. Ich wollte nur mal sehen, ob schon etwas darüber in den Nachrichten gebracht wird.”
Der Ausdruck von Grauen auf Baldwins Gesicht reichte aus, um ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass Shauna Davidson auch heute Abend nicht nach Hause kommen würde.
Taylor schaltete den Fernseher ein und setzte sich mit untergezogenen Beinen auf die Couch. Die Hauptnachricht galt der in Bellevue gefundenen Leiche. Ein ausführlicher Bericht über die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Auffinden von Jessica Porter. Nashville liebte das Verbrechen, solange es in den Nachrichten stattfand.
Taylor schaltete durch die anderen Regionalprogramme, die alle die gleiche Story brachten.
“Mist. Mist, Mist, Mist, Mist, Mist.”
Baldwin lächelte schwach. “Sieht so aus, als ob die Katze aus dem Sack ist.”
Taylor schaltete zurück zu Channel Five. Whitney Connolly, die Chefreporterin, war am Tatort. Es sah aus wie ein Drei-Manegen-Zirkus – was hofften sie zu finden? Metro hatte den Tatort fein säuberlich durchgekämmt, es gab nichts mehr für sie zu sehen. Aber die Schnappschüsse vom Nachmittag waren Gold wert. Die Kameras hatten den richtigen Blickwinkel, um das weite Feld und den Highway mit seinen blinkenden blauen Warnlichtern und Streifenwagen einzufangen. Taylor zuckte zusammen, als sie sah, dass Channel Five den Moment gefilmt hatte, als den Kriminaltechnikern der Leichensack aus der Hand gerutscht war – dem Kameramann war sogar eine Nahaufnahme der aufgestörten Fliegen gelungen, die wie eine irre Staubwolke aufflogen. Ganz entzückend.
Taylors Handy klingelte – Fitz brauchte sie in Shauna Davidsons Apartment. So viel zum Thema ruhige Nacht. Sie legte auf und zog ihre Cowboystiefel an. Whitney Connolly, die jetzt keine schmutzige Wäsche mehr zu waschen hatte, bat darum, dass jeder, der über irgendwelche Informationen bezüglich der in Bellevue gefundenen Leiche verfügte, die Metro Police anrufen möge. Ihr Bericht war sorgfältiger als der der anderen Sender, in ihrer Stimme klang ein Hauch Begeisterung mit. Manchmal dachte Taylor, dass Connolly ihren Job ein bisschen zu sehr mochte. Über Tod und Desaster zu berichten war genau ihre Sache.
“Whitney Connolly ist so hartnäckig wie ein Pitbull. Sie ist eine der wenigen Reporter, die es zu genießen scheinen, über die lokalen Verbrechen zu berichten”, bestätigte Baldwin abwesend Taylors eigene Meinung über die Journalistin. Sie schaute ihn an. Er schien in Gedanken verloren und starrte auf den Fernseher.
“Ich bin mit ihr zur Schule gegangen.”
Das weckte seine Aufmerksamkeit, und er wandte sich ihr zu. “Eine weitere Debütantin von Father Ryan?”, zog er sie auf.
“Jesus, Baldwin. Ja, ich nehme an, dass sie das gewesen sein muss. Sie und ihre Zwillingsschwester Quinn. Sie waren ein Jahr unter Sam und mir. Also waren sie wohl Freshmen, als du schon Senior warst. Ich weiß, dass du erst später in deinem Senior-Jahr auf unsere Schule gekommen bist, aber erinnerst du dich nicht an sie? Die ganze Geschichte …” Ihre Stimme verebbte, als Baldwins Telefon klingelte.
Er antwortete schroff. “Ja …? Ja, hab ich gehört … Nein, werde ich nicht … ich werde … gut, mach ich … Okay. Bis morgen dann.” Er legte auf und begann, ruhelos im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.
“Das war Garrett, der sichergehen wollte, dass ich von dem vermissten Mädchen gehört habe. Ich bin jetzt offiziell Vollzeit auf diesen Job angesetzt, nicht nur als Berater. Ich nehme an, das war absehbar.”
Taylor schenkte ihm ihr süßestes Lächeln. Sie stand bereits, ihre Waffe im Holster und bereit, sich auf den Weg zu machen. “Willkommen in meinem Albtraum. Lass uns gehen.”
* * *
Taylor fuhr bis an das gelbe Absperrband, das quer über den Parkplatz vor dem Apartmenthaus von Shauna Davidson gespannt war. Sie lächelte den jungen Officer an, der das Band anhob, damit sie darunter hindurchfahren konnte. Durch das geöffnete Fenster deutete sie auf das ihr nachfolgende Auto.
“Lassen Sie ihn bitte auch durch. Er gehört zu mir.” Der Officer nickte, und sie beobachtete im Rückspiegel, wie Baldwin unter dem Band hindurchlenkte. Sie fuhr zu der versammelten Schar von Polizeiwagen, stellte den Motor ab und stieg aus. Baldwin tat es ihr gleich. Gemeinsam bahnten sie sich dann einen Weg durch den Wust an weiß blauen Fahrzeugen und auf das Gebäude zu.
Fitz empfing sie auf halber Strecke im Treppenhaus. Es sah aus, als ob er gerade auf dem Weg nach unten gewesen wäre. Doch jetzt machte er ihnen Platz und folgte ihnen dann die Stufen hinauf. Währenddessen teilte er ihnen mit, was er an neuen Informationen gesammelt hatte.
“Der erste Officer vor Ort klopfte an die Tür, aber hörte und sah keine Bewegung im Inneren. Keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens. Der Vermieter gab ihm einen Ersatzschlüssel, und damit hat er die Tür geöffnet. Sie war abgeschlossen, aber nur das normale Schloss, nicht das Bolzenschloss. Der Officer ist reingegangen und hat sich umgesehen. Es sah eigentlich alles in Ordnung aus, bis er ins Schlafzimmer kam. Das Bett ist ungemacht, Spuren überall. Die Kriminaltechniker sind beinahe fertig. Wir haben auch eine Befragung hier im Haus durchgeführt, aber niemand hat sie gestern Abend oder heute gesehen. Sieht nicht so gut aus.”
Sie erreichten die Tür zu der Wohnung und duckten sich unter noch mehr Absperrband hindurch. Es hielten sich nur noch ein paar Menschen in dem Zimmer auf. Taylor nickte ihnen zu, als sie die Umgebung einer genauen Betrachtung unterzog.
Shauna Davidson hatte gut gelebt. Das Apartment war geschmackvoll und modern eingerichtet. Ein Flachbildfernseher hing an der Wand, darunter stand eine teure Surroundanlage. Der Raum wurde von einem hellbraunen Ledersofa dominiert, auf dem sich butterweiche, rehbraune Wildlederkissen türmten. Ein schöner Platz, um sich zu entspannen. Es gab passende Sessel in dunkelbraunem Wildleder und einen Tisch mit Schieferplatte, der alle Farben zusammenbrachte. Soweit Taylor beurteilen konnte, war alles an seinem Platz. Penibel ausgerichtete Zeitschriften lagen auf dem Couchtisch. Es gab keine herumstehenden Gläser oder Flaschen, keine alten Zeitungen. Guter Geschmack und Ordnungsliebe. Interessante Kombination für ein junges Mädchen.
Zu ihrer Rechten konnte Taylor eine kleine Küche sehen und einen kleinen Flur, der vom Wohnzimmer wegführte. Sie folgte ihm und fand ein ungenutztes Gästezimmer, ein Büro und endlich das Schlafzimmer. Hier war es nicht so ordentlich.
Die Überdecke lag auf dem Fußboden, die Laken lagen zerknüllt am Fußende des Bettes. Blut hatte die Matratze durchtränkt. Taylor schaute den Kriminaltechniker an, der auf der linken Seite des Bettes stand und auf sie wartete.
“Haben Sie Polaroids, die zeigen, wie genau der Raum aussah, als sie hier ankamen?”
“Ja, Ma’am. Wir haben versucht, beim Probensammeln so wenig wie möglich zu verändern.”
“Haben Sie danach alles wieder an seinen Platz geräumt? Sieht es hier jetzt so aus wie auf den Polaroids?”
“Ja, Ma’am, ziemlich genau so haben wir den Raum vorgefunden. Wir kamen rein, sahen das Blut, gingen wieder raus und haben angefangen, Bilder zu machen. Dann haben wir die Proben gesammelt. Es ist nicht so viel, wie es aussieht, und die biologischen Spuren waren schon getrocknet. Muss mindestens schon einen Tag her sein. Wir haben das Bett und die Nachttische auf Fingerabdrücke untersucht und auch ein paar gefunden. Wir werden alles ins System eintragen und es Sie dann wissen lassen. Sobald Sie hier fertig sind, packen wir alles ein und bringen es ins Labor.”
Taylor nickte ihm einen Dank zu, und der junge Mann verließ das Zimmer. Sie wandte sich an Baldwin und Fitz. “Und?”, fragte sie.
Baldwin ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über das Blut. Taylor sah die Anzeichen des Wiedererkennens auf seinem Gesicht. Sie wartete. Er schlich durch das Zimmer, machte sich Notizen, schoss ein paar eigene Fotos.
Aus dem Augenwinkel sah Taylor, dass Fitz langsam ungeduldig wurde. Sie war es auch. “Baldwin, sprich mit uns. Was hat das hier zu bedeuten?”
Er klappte sein Notizbuch zu und schlang sich die Kamera über die Schulter. “Das sieht alles nur zu bekannt aus. Das Gleiche, was ich in den Apartments der anderen beiden Mädchen gesehen habe. Das ungemachte Bett, das Blut. Ich denke, er spricht sie an, verdreht ihnen den Kopf, damit sie ihn nach Hause und in ihr Bett einladen. Er erwürgt sie und trennt ihnen die Hände ab. Dann bringt er die Leichen zu dem Ort, an dem er das nächste Mal zuschlagen will.” Er schüttelte den Kopf. “Shauna Davidson. Ich weiß nicht, wo wir sie finden werden, aber sie ist Nummer vier. Er beschleunigt die Sache.”
Baldwin ging im Zimmer auf und ab. “Seht ihr, es gibt keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen in die Wohnung. Das stimmt überein mit den anderen drei Mädchen. Ich denke, er gabelt sie irgendwo auf, in einer Bar, der Bücherei, wer weiß. Sie laden ihn zu sich nach Hause ein. Vielleicht geraten die Dinge außer Kontrolle, vielleicht fängt der Sex einvernehmlich an, aber genauso schnell sind sie tot. Es gibt keine wirklichen Anzeichen für einen Kampf. Wir haben keine Rückstände von Drogen in ihren Körpern gefunden. Ich denke, dass er sie festbindet.” Er umrundete das Kopfteil des Bettes. “Hey, holt mal eure Techniker zurück.”
Fitz verschwand und kam mit einem der Kriminaltechniker zurück. Baldwin winkte den Mann zu sich heran und deutete auf das Kopfteil des schmiedeeisernen Bettes. “Sie haben etwas übersehen”, beschuldigte er den Mann.
Der Techniker wurde rot, als ihm aufging, dass er tatsächlich etwas übersehen hatte. Eine farblose Faser klebte am Rahmen des Kopfteils. Er sammelte sie schnell ein und entschuldigte sich. Als er sich zum Gehen wandte, klopfte Baldwin ihm auf den Rücken.
“Vielleicht von einem Seil. Wir haben so etwas auch an den anderen Tatorten gefunden. Deshalb gibt es auch keine Anzeichen für einen Kampf. Es würde passen, dass er sie festbindet. Wisst ihr, diese Art von Mörder macht Hilflosigkeit an. Wut, Aufregung, Vergnügen, all das kommt für diesen Kerl aus der gleichen Quelle. Er hat eine Vorliebe für ihre Hände, deren Grund ich allerdings noch nicht herausgefunden habe. Die Fetisch-Elemente sind alle vorhanden. Ich glaube nicht, dass er es tut, um ihre Identitäten zu verschleiern. Er ist im höchsten Grade organisiert, plant weit im Voraus. Die Tatsache, dass er sich von Teilen seiner Trophäen trennt, ist sehr interessant. Es ist ein Hinweis, eine Brotkrume, die er uns hinterlässt. Er will seine Morde sensationalisieren. Das Verbringen der Leichen über Staatsgrenzen, die Verstümmelungen, all das sind kalkulierte Anstrengungen, um diese Verbrechen besonders grausam und abscheulich wirken zu lassen. Ein todsicheres Rezept, um das FBI ins Boot zu holen. Er will, dass wir ihn erkennen. Dass wir sicher sind, dass er es war. Er wird nicht von seinem Muster abweichen, weil es zu seiner Unterschrift geworden ist. Nun müssen wir nur noch herausfinden, wer er ist. VICAP hat keinen Treffer zu seinem Modus Operandi im System. Und außer den forensischen Beweisen haben wir keine weiteren Informationen über ihn. Zeugenaussagen sind dünn bis nicht existent. Er ist ein echtes Gespenst, was Teil seines Plans ist.” Das Violent Criminal Apprehension Program, kurz VICAP, hatte sämtliche verfügbaren Informationen über alle begangenen Verbrechen gespeichert und würde ihnen anzeigen, wenn bei einem anderen Fall ähnliche Parameter aufgefallen wären. Baldwin hatte auf einen Treffer gehofft, aber bisher kein Glück gehabt.
Er hörte auf, herumzutigern. Seine Augen funkelten. “Es ist eine Herausforderung. Er genießt die Tatsache, dass wir ratlos sind. Wir können nicht vorhersagen, wohin es ihn als Nächstes zieht. Und das stellt sicher, dass wir auf der Hut sind. Denkt an meine Worte. Er bettelt uns geradezu an, zu versuchen ihn zu finden.”