31. KAPITEL
Noelle Pazia brachte ihr Fahrrad zum Stillstand, stellte einen Fuß auf dem Kies ab und hustete, wie es ihr vorkam, eine halbe Ewigkeit. Seit einer Woche hatte sie diesen Husten, und schlussendlich hatte die medizinische Abteilung des Studentenhilfswerks erkannt, dass sie bessere Versorgung benötigte, als man ihr dort angedeihen lassen konnte. Man hatte sie zum Lungenröntgen überwiesen. Sie litt unter Asthma und benutzte einen Inhalator, aber er schien keinen Einfluss auf diese fiese Erkältung zu haben. Also war sie mit dem Fahrrad zum Asheville Community Hospital gefahren, hatte dort zwei Stunden gewartet, war geröntgt worden und radelte nun zurück zum Campus. Nicht, dass Radfahren gut gewesen wäre für ihre Erkältung oder Bronchitis oder Lungenentzündung oder was immer es auch war, weshalb sie sich so fürchterlich fühlte. Sie konnte die Stimme ihres Vaters hören, mit seinem starken italienischen Akzent: “Noelle, du weißt, dass du nicht mit diesem verrückten Fahrrad die Berge rauf und runter fahren sollst, wenn du krank bist. Du bist klüger als das, cara.” Ja, das war sie, aber sie hatte kein Auto und fühlte sich auch nicht danach, einen ihrer Freunde zu bitten, sie zu fahren.
Als sie hustete und versuchte, wieder Luft zu bekommen, wünschte sie, zurück in Washington D. C. zu sein, hinten im Restaurants ihrer Eltern an einem Tisch zu sitzen und zuzuschauen, wie ihr Vater Giovanni einem duftenden Topf brodelnder pasta e faglioli den letzten Schliff verpasste, einer traditionellen Nudel-Bohnen-Suppe, nach der Noelle sich immer sehnte, wenn es ihr nicht gut ging. Als sie aufwuchs, hatte ihr Vater nur einen Blick in ihr blasses Gesicht geworfen und war sofort in die Küche gegangen. Keine Ärzte, keine Medikamente, nur ein großer Topf zuppa, damit sie sich besser fühlte. Diese Medizin hatte beinahe immer geholfen. Sie erinnerte sich nur an ein einziges Mal, als es nicht so gewesen war. Da hatte sie sich die Windpocken von einem rumänischen Jungen eingefangen, der ein Stück die Straße hinunter lebte und immer mit ihr zusammen im Garten gespielt hatte. Damals hatte die Suppe nicht geholfen.
Aber sie war jetzt nicht mal in der Nähe ihres Zuhauses. Sie stand an einem Straßenrand in North Carolina, fühlte sich hundeelend, und es war kein Teller Suppe in Sicht. Sie musste zurück zum Campus und zu ihrer Studiengruppe in der Bibliothek. Sogar krank fühlte sie die Verantwortung, sich um ihre Aufgaben zu kümmern – sie würde die Lerngruppe niemals ausfallen lassen. Die meisten waren auch erkältet, sodass sie sich keine Sorgen darüber machen musste, jemanden anzustecken. Jetzt, wo sie ihr Hauptstudium begonnen hatte, gab es eine Menge zu tun, und wenn das bedeutete, dass sie den Gedanken an ihr warmes Bett noch ein paar Stunden nach hinten schieben musste, so würde sie das tun. Sie wischte sich die feuchten Strähnen aus den Augen, schwang ihr Bein wieder über den Sattel und fing an, in die Pedale zu treten.
Der Gedanke an die Suppe ihres Vaters brachte weitere Erinnerungen zutage. Als sie fuhr, erinnerte sie sich an den Kompromiss, auf den sie sich mit ihrem Vater geeinigt hatte. Giovanni war ein ernster Mann, hart arbeitend und streng. Er war mit seiner Familie aus dem kleinen Bergdorf Sestiere in Italien nach Amerika emigriert, damit seine sechs Kinder amerikanische Colleges besuchen konnten. Noelle war sein jüngstes Kind, die Letzte, die zum College ging. Sie wollte Klimakunde in Colorado studieren, in dem größten Gebirge des Landes Ski und Mountainbike fahren. Giovanni fand, dass Colorado zu weit weg sei. Nachdem Noelle das Institut für atmosphärische Wissenschaften an der University of North Carolina gefunden hatte, waren sie zu einem Kompromiss gelangt – Asheville. Hier hatte sie die Berge und Giovanni seinen Seelenfrieden, da sie nur wenige Stunden von zu Hause entfernt war, nicht eine dreitägige Autofahrt.
Für die stille, ernsthafte Noelle war die Universität von Asheville wie ein wahr gewordener Traum. Sie liebte die Leiter ihres Fachbereichs, ihre Mitbewohnerin und die gesamte Stimmung auf dem Campus. Sie war dem Radclub beigetreten und hatte viele Freunde gefunden. Sie fand sogar eine Gruppe katholischer Studenten, die außerhalb des Campus die Kirche besuchten, und begleitete sie, sooft es ihr möglich war. Jetzt, in ihrem zweiten Studienjahr, fühlte sie sich hier richtig zu Hause. An Aufmerksamkeit seitens der männlichen Studenten mangelte es ihr ebenfalls nicht. Sie war knapp eins siebzig groß, fünfundfünfzig Kilogramm schwer und sportlich gebaut, mit glänzendem braunen Haar und seelenvollen braunen Augen. Aber sie war die Tochter ihres Vaters und scheute vor offiziellen Rendezvous zurück, weil das sein Wunsch war. Es störte sie nicht, sie hatte ausreichend für ihr Studium zu tun, und Verabredungen standen auf ihrer Prioritätenliste nicht sehr weit oben.
Sie fuhr durch das Tor des Universitätsgeländes, rollte über den Campus und hielt vor ihrem Wohnheim an. West Ridge Hall. Am Fahrradständer schloss sie ihr Rad an und ging ins Haus. Niesend fragte sie sich auf dem Weg über den Flur in ihr Zimmer, ob sie ihre Teilnahme an der Studiengruppe für den Klimakundekurs nicht doch absagen sollte. Sie kam an ihre Tür, schloss auf und trat ein. Ihre Mitbewohnerin und sie ließen die Jalousien immer geöffnet, weil ihr Fenster einen herrlichen Blick auf die Berge bot und sie beide es liebten, auf dem Bett zu liegen und die Aussicht zu genießen. Noelle stellte ihren Rucksack auf den Boden und streckte sich auf ihrem großen Doppelbett aus.
Oh, das fühlte sich gut an. Sie wusste, dass sie jetzt eigentlich aufstehen und losgehen müsste. Krank zu sein war keine Entschuldigung, die Studiengruppe sausen zu lassen. Also richtete sie sich mühsam wieder auf, schlüpfte in eine Jacke, schnappte sich ihre Bücher und machte sich auf den Weg aus ihrem gemütlichen Zimmer rüber in die Bibliothek.
Die Ramsey Library stand in der Mitte des Campus, und der Spaziergang dahin fühlte sich gut an. Körperliche Betätigung war schon immer Noelles Kur gegen alle möglichen Wehwehchen gewesen, sodass ein kurzer Gang zur Bibliothek sicher nicht schadete. Sie ging über stille Fußwege, winkte Leuten, die sie kannte, und ging schließlich in die Bibliothek und zu ihrer Gruppe.
Dort arbeiteten sie dann ein paar Stunden, und Noelle begann sich wirklich fürchterlich zu fühlen. Gerade als sie entschieden hatten, eine Pause einzulegen, klingelte ihr Handy. Noelle entschuldigte sich und ging zum Seiteneingang des Gebäudes. Sie hasste es, bei einem Gruppentreffen zu telefonieren, und fand es unhöflich, wenn Leute es in Restaurants oder Supermärkten taten. Also nahm sie Rücksicht auf ihre Mitstudenten – außerdem konnte sie etwas frische Luft gut gebrauchen.
Es war eine Freundin aus dem Radclub, die fragte, ob sie am Morgen zusammen fahren wollten. So gerne sie es auch getan hätte, schlug sie das Angebot doch aus. Bis sie mit ihren Antibiotika durch war, wäre es nicht klug, sich zu viel zuzumuten. Sie plauderten noch eine Weile, Noelle trat nach draußen und setzte sich auf die Stufen. Es war inzwischen stockfinster, und als sie das Telefonat beendete, meinte sie, einen Schatten an der Seite des Gebäudes zu sehen. Sie schüttelte den Gedanken ab; es waren so viele Menschen auf dem Campus, jeder konnte da gerade um die Ecke gegangen sein. Trotzdem fand sie, dass es eine gute Idee wäre, wieder hineinzugehen. Sie hatte von dem armen Mädchen aus Virginia gehört. Als sie in Richtung Tür ging, richteten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Sie schaute hinter sich und sah, dass aus dem Schatten ein Mann geworden war, aber sie lachte, als sie feststellte, dass es sich nur um einen Studenten handelte. Er war viel zu attraktiv und zu jung, um etwas anderes zu sein. Sie lächelte ihn an und hielt ihm die Tür auf.
Er lächelte zurück, und das war das Letzte, an das Noelle sich erinnerte.