Thomas hielt ein gleichmäßiges Tempo, während er mit den anderen durch die steinernen Gänge auf die Klippe zurannte. Er hatte sich daran gewöhnt, durch das Labyrinth zu joggen, aber das hier war etwas anderes. Der Klang ihrer Schritte hallte von den Wänden und die roten Lichter der Käferklingen blitzten noch hinterhältiger als sonst zwischen den Ranken hervor – die Schöpfer schauten und hörten zu. Ein Kampf würde unvermeidlich sein.

Angst?, fragte ihn Teresa im Laufen.

Nein, ich bin verrückt nach Dingern aus Glibber und Metall. Ich kann’s kaum erwarten, sie zu treffen. Doch er verspürte keinen Funken Fröhlichkeit und fragte sich, ob sich das je wieder ändern würde.

Sehr witzig, antwortete sie.

Sie lief direkt neben ihm, aber er richtete seine Augen nach vorn. Wir schaffen das schon. Bleib einfach bei Minho und mir.

Mein tapferer Ritter. Glaubst du nicht, dass ich mich selbst verteidigen kann? 

Eigentlich dachte er eher das Gegenteil. Teresa wirkte genauso stark wie alle anderen. Doch, natürlich. Ich wollte bloß nett sein.

Die Gruppe hatte sich auf die gesamte Breite des Gangs verteilt und rannte mit hoher, gleichmäßiger Geschwindigkeit vorwärts. Thomas fragte sich, wie lange die anderen das durchhalten würden, die nicht zu den Läufern gehörten. Und schon kurze Zeit später fiel Newt zurück und tippte Minho auf die Schulter. »Übernimm du ab jetzt die Führung«, hörte Thomas ihn sagen.

Minho nickte und rannte an die Spitze, wo er die Lichter durch alle Abzweigungen führte. Für Thomas war jeder Schritt eine Qual. Das bisschen Mut, das er sich gemacht hatte, schlug in Furcht um und er fragte sich ständig, wann die Griewer auf sie losgehen würden. Wann der Kampf beginnen würde.

Darüber grübelte er beim Weiterlaufen nach. Die ungeübten Läufer schnappten nach Luft. Aber keiner gab auf. Sie rannten weiter und weiter, nirgends die geringste Spur von einem Griewer. Die Zeit verging und Thomas gab sich einem winzigen Hoffnungsschimmer hin – vielleicht würden sie es schaffen, bevor sie angegriffen wurden. Vielleicht.

Endlich, am Ende der längsten Stunde in Thomas’ Leben, erreichten sie den langen Gang, der zur letzten Abzweigung vor der Klippe führte, von der ein kurzer Seitengang nach rechts abbog.

Thomas war schweißüberströmt und hatte mit hämmerndem Herzschlag zu Minho aufgeschlossen, Teresa an seiner Seite. An der Ecke drosselte Minho sein Tempo, blieb schließlich stehen und hob eine Hand, um Thomas und den anderen zu signalisieren ebenfalls anzuhalten. Dann drehte er sich um und schaute sie entsetzt an.

»Hört ihr das?«, flüsterte er.

Thomas schüttelte den Kopf und versuchte den Schrecken niederzuringen, den ihm Minhos Blick versetzt hatte.

Minho schlich sich weiter vor und warf einen Blick um die Ecke hinaus zur Klippe. Dabei hatte Thomas ihn schon einmal beobachtet, als sie einem Griewer bis zu dieser Stelle gefolgt waren. Genau wie damals zuckte Minho zurück und drehte sich zu ihm um.

»Oh nein«, stöhnte der Hüter. »Oh nein.«

Jetzt hörte Thomas es auch. Griewergeräusche. Als hätten sie sich versteckt und wären gerade zum Leben erwacht. Er brauchte nicht selbst nachzusehen – er wusste schon, was Minho gleich sagen würde.

»Das sind mindestens ein Dutzend. Vielleicht sogar fünfzehn.« Er rieb sich die Augen. »Die haben bloß auf uns gewartet!«

Eiskalte Furcht betäubte Thomas. Er wollte etwas zu Teresa sagen, verstummte aber, als er sie ansah – so überdeutlich stand ihr der Schrecken in das blasse Gesicht geschrieben.

Newt und Alby hatten sich durch die wartenden Lichter zu Thomas und Minho nach vorn geschoben. Minhos Beobachtung hatte sich anscheinend schon bis nach hinten herumgesprochen, denn Newt sagte gleich: »Wir haben gewusst, dass wir kämpfen müssen.« Doch seine Stimme zitterte dabei verräterisch – er wollte den anderen einfach nur Mut machen.

Thomas ging es genauso. Darüber zu reden war leicht gewesen: Sie hatten nichts zu verlieren, vielleicht würde es nur einen von ihnen erwischen, sie könnten endlich fliehen. Aber jetzt wartete der Tod direkt hinter der nächsten Ecke auf sie. In seinem Kopf und seinem Herzen machten sich Zweifel breit, ob sie es wirklich wagen konnten. Er fragte sich, warum die Griewer bloß warteten – die Käferklingen hatten ihnen offensichtlich verraten, dass die Lichter auf dem Weg waren. Machte das den Schöpfern etwa Spaß?

Er hatte eine Idee. »Vielleicht haben sie schon jemanden von der Lichtung mitgenommen. Vielleicht können wir einfach an ihnen vorbei – warum sitzen sie sonst –«

Ein lautes Geräusch von hinten unterbrach ihn. Er drehte sich um und sah noch mehr Griewer, die mit klirrenden Spikes und ausgefahrenen Greifarmen aus der Richtung, in der die Lichtung lag, auf sie zukamen. Thomas wollte gerade etwas sagen, als er Geräusche vom anderen Ende des langen Gangs hörte – er drehte sich um und sah noch mehr Griewer.

Der Feind kam von allen Seiten, sie waren eingekesselt.

Die Lichter stürmten auf Thomas zu und drängten sich dicht zusammen. Er war gezwungen auf die Kreuzung zwischen dem Korridor zur Klippe und dem langen Gang hinauszutreten. Er sah die Horde Griewer, die mit ausgefahrenen Spikes und pulsierender, feucht glänzender Haut zwischen ihnen und der Klippe standen. Sie warteten, beobachteten. Die anderen beiden Griewergruppen hatten sich den Lichtern auf ein paar Dutzend Meter genähert. Auch sie warteten ab.

Thomas drehte sich langsam im Kreis, unterdrückte seine Angst und verschaffte sich einen Überblick. Sie waren umzingelt. Jetzt hatten sie keine Wahl mehr – es gab keinen Ausweg. Er spürte einen stechenden, pochenden Schmerz hinter seinen Augen.

Die Lichter drängten sich noch enger um ihn. Die Blicke nach außen gerichtet, standen sie eng zusammengedrängt in der Mitte der Weggabelung. Thomas war zwischen Newt und Teresa eingeklemmt – er konnte spüren, wie Newt zitterte. Keiner sagte ein Wort. Man hörte nur das schaurige Maschinengestöhn und Surren der Griewer, die warteten und sich anscheinend über die kleine Falle freuten, die sie den Menschen gestellt hatten. Ihre widerwärtigen Körper hoben und senkten sich mit mechanisch pfeifendem Atem.

Was machen sie da?, rief Thomas Teresa zu. Auf was warten sie?

Sie antwortete nicht, das beunruhigte ihn. Er nahm ihre Hand und drückte sie. Die Lichter um ihn herum standen schweigend da und hielten sich an ihren dürftigen Waffen fest.

Thomas schaute zu Newt und fragte: »Irgendeine Idee?«

»Nein«, sagte Newt mit leicht zitternder Stimme. »Ich hab keine Ahnung, auf was zum Henker sie warten.«

»Wir hätten nicht herkommen sollen«, sagte Alby. Er hatte so lange nichts mehr gesagt, dass seine Stimme eigenartig hohl klang, erst recht mit dem dumpfen Echo, das die Wände des Labyrinths erzeugten.

Thomas war nicht nach Jammern zu Mute – sie mussten etwas tun. »Im Gehöft wäre dasselbe passiert. Ich sag das nicht gern, aber besser, einer von uns stirbt als alle.« Er hoffte mehr denn je, dass ihre Ein-Toter-pro-Nacht-Theorie stimmte. Als er all diese Griewer aus nächster Nähe sah, wurde ihm ihre Situation mit einem Schlag klar. Konnten sie wirklich gegen all diese Monster ankämpfen?

Einige Zeit verging, bis Alby antwortete. »Vielleicht sollte ich …« Er brach ab und ging – langsam, wie in Trance – in Richtung Klippe. Thomas stand wie versteinert da und sah ihm zu – er konnte es einfach nicht fassen.

»Alby?«, sagte Newt. »Komm zurück!«

Statt auf Newt zu hören, begann Alby zu rennen – direkt auf die Gruppe von Griewern zu, die zwischen ihm und dem Loch lauerten.

»Alby!«, schrie Newt.

Thomas wollte auch etwas sagen, aber Alby war schon bei den Monstern angekommen und hatte sich auf eins geworfen. Newt bewegte sich langsam vor – aber fünf oder sechs Griewer waren bereits erwacht und man sah nur noch Metall und Fleisch herumwirbeln. Bevor Newt vorpreschen konnte, hielt Thomas ihn an den Armen fest und zog ihn zurück.

»Lass mich los!«, brüllte Newt und versuchte sich zu befreien.

»Spinnst du?«, rief Thomas. »Du kannst ihm nicht helfen!«

Aus der Horde bewegten sich noch zwei Griewer auf Alby zu, krochen übereinander, griffen nach dem Jungen und stachen auf ihn ein, als wollten sie sich gegenseitig übertrumpfen und ihre ganze Grausamkeit zur Schau stellen. Es war kaum zu glauben, aber Alby schrie nicht. Thomas verlor ihn bei seinem Gerangel mit Newt aus den Augen, die Ablenkung war ihm ganz lieb. Schließlich gab Newt auf und sackte in sich zusammen.

Jetzt ist Alby endgültig durchgedreht, dachte Thomas und versuchte seinen Mageninhalt unter Kontrolle zu halten. Ihr Anführer hatte solche Angst gehabt vor der Rückkehr in die Welt, die er gesehen hatte, dass er sich lieber geopfert hatte. Er hatte sie verlassen, für immer.

Thomas half Newt wieder auf die Beine. Newt konnte die Augen nicht von der Stelle abwenden, an der sein Freund verschwunden war.

»Ich fass es nicht«, flüsterte Newt. »Ich kann nicht glauben, dass er das getan hat.«

Thomas schüttelte den Kopf, er brachte kein Wort heraus.

Alby so zu Grunde gehen zu sehen … ein völlig neuer Schmerz bemächtigte sich Thomas’ – ein schwächender, wahnsinniger Schmerz, der sich schlimmer anfühlte als alle körperlichen Schmerzen. Er wusste nicht einmal, ob dieses Gefühl mit Alby zu tun hatte – er hatte ihn nie besonders gemocht. Aber der Gedanke, dass dasselbe mit Chuck passieren könnte – oder mit Teresa …

Minho rückte näher an Thomas und Newt heran und drückte sanft Newts Schulter. »Was er getan hat, darf nicht umsonst gewesen sein.« Er wandte sich Thomas zu. »Wir kämpfen euch den Weg zur Klippe frei, wenn es sein muss. Du und Teresa, ihr geht in das Loch und macht euer Ding – wir halten sie auf, bis ihr uns sagt, dass wir nachkommen sollen.«

Thomas sah sich die drei Gruppen von Griewern an – keine hatte sich bis jetzt auf die Lichter zubewegt. Dann nickte er. »Jetzt werden sie hoffentlich eine Weile ruhig bleiben. Wir brauchen sicher nur ein paar Minuten, um den Code einzugeben.«

»Wie könnt ihr bloß so herzlos sein?«, murmelte Newt. Der Ekel in seiner Stimme überraschte Thomas.

»Was willst du, Newt?«, sagte Minho. »Sollen wir unsere schwarzen Anzüge holen und eine Trauerfeier abhalten?«

Newt antwortete nicht. Er starrte weiter auf die Stelle, wo die Griewer immer noch damit beschäftigt waren, Alby zu verschlingen. Thomas konnte nicht anders, er musste hinsehen – auf dem Körper eines der Monster sah er einen verschmierten, grellroten Fleck. Sein Magen drohte sich umzudrehen und er schaute schnell weg.

Minho redete weiter. »Alby wollte nicht zurück in sein altes Leben. Er hat sich für uns geopfert, verdammt noch mal. Und sie greifen uns nicht an, vielleicht hat es funktioniert. Wir wären herzlos, wenn wir diese Chance einfach verschenken würden.«

Newt zuckte nur mit den Schultern und schloss die Augen.

Minho drehte sich um und wandte sich an die dicht aneinandergedrängten Lichter. »Hört zu! Das Wichtigste ist, Thomas und Teresa zu schützen. Bringt sie zur Klippe, damit –«

Der Lärm der erwachenden Griewer unterbrach ihn. Entsetzt schaute sich Thomas um. Die Monster zu beiden Seiten schienen sie wieder bemerkt zu haben. Spikes schossen aus ihrer glibberigen Haut, ihre Körper vibrierten und pulsierten. Dann fuhren sie ihre Arme mit den unzähligen tödlichen Instrumenten aus und bewegten sich langsam auf Thomas und die anderen zu. Gnadenlos kamen sie immer näher, um die Schlinge zuzuziehen.

Albys Opfer war vollkommen nutzlos gewesen.