Thomas dachte lange über Alby nach. Es war ihm wie ein Riesenerfolg vorgekommen, dass er ihm das Leben gerettet und sie die Nacht im Labyrinth überlebt hatten. Aber hatte sich das Ganze gelohnt? Jetzt musste der Junge fürchterliche Schmerzen erleiden. Was war, wenn er am Ende genauso durchdrehte wie Ben? Eine schreckliche Vorstellung.

Die Lichtung lag im Dämmerlicht da und Albys Schreie hallten über den Hof. Unmöglich, diesem fürchterlichen Klang zu entkommen, selbst als Thomas die Sanis endlich dazu überredet hatte, ihn gehen zu lassen. Es ging ihm zwar immer noch schlecht und er hatte mehrere Verbände, aber er konnte die durchdringenden Qualen ihres Anführers nicht mehr ertragen. Newt hatte ganz rigoros Nein gesagt, als Thomas denjenigen sehen wollte, für den er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. »Das macht alles nur noch schlimmer«, sagte Newt und ließ sich nicht erweichen.

Thomas war immer noch zu müde, um zu protestieren. Er hatte nicht geahnt, dass man sich so erledigt fühlen konnte, auch wenn er natürlich nur ein paar Stunden geschlafen hatte. Seine Knochen taten ihm derart weh, dass er zu nichts im Stande war, und er verbrachte den Rest des Tages auf einer Bank am Rand des Schädelfelds und ließ entmutigt den Kopf hängen. Das Hochgefühl, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, ließ leider viel zu schnell nach. Übrig blieben nur die Schmerzen und die Grübelei über sein neues Leben auf der Lichtung. Jeder Muskel brannte und er war von Kopf bis Fuß mit Schnitten, Schürfwunden und blauen Flecken bedeckt. Doch selbst das war nicht so schlimm wie die seelischen Nachwirkungen der vergangenen Nacht. Es war endgültig in seinem Kopf angekommen, an was für einem furchtbaren Ort er lebte – als würde er den Arzt sagen hören: Diagnose tödlicher Krebs.

Wie kann man unter diesen Lebensumständen jemals glücklich sein?, dachte er. Dann: Wie kann es Menschen geben, die so böse sind uns so etwas anzutun? Mehr als je zuvor verstand er den leidenschaftlichen Kampf der Lichter um die Suche nach einem Weg aus dem Labyrinth. Es ging nicht nur ums Entkommen. Zum ersten Mal verspürte er den drängenden Wunsch, sich an den Leuten zu rächen, die sie hierhergebracht hatten.

Aber all diese Gedanken führten ihn nur wieder zu derselben Hoffnungslosigkeit zurück, die ihn schon so viele Male überwältigt hatte. Wenn Newt und die anderen es in zwei Jahren nicht geschafft hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden, dann konnte es einfach keinen geben. Dass die Lichter immer noch nicht aufgegeben hatten, sagte eine Menge über ihren Kampfgeist, sonst nichts.

Und er war jetzt einer von ihnen.

Das ist mein Leben, dachte er. Ich wohne in einem gigantischen Labyrinth, bewacht von grässlichen Ungeheuern. Traurigkeit erfüllte ihn wie ein schweres Gift. Albys Schreie, weit weg, aber immer noch hörbar, machten alles nur noch schlimmer.

Schließlich war auch dieser Tag vorbei und bei Sonnenuntergang erschallte das mittlerweile wohlvertraute Knirschen der vier Tore, die sich für die Nacht schlossen. Obwohl Thomas keine Erinnerungen an sein Leben vorher hatte, wusste er ganz genau, dass er gerade die schrecklichsten vierundzwanzig Stunden seines Lebens hinter sich hatte.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit brachte Chuck ihm etwas zu essen und ein großes Glas kaltes Wasser.

»Danke«, sagte Thomas und fühlte eine Welle der Zuneigung für den Kleinen. Er schaufelte das Rindfleisch mit Nudeln so schnell vom Teller in den Mund, wie seine schmerzenden Arme es ihm erlaubten. »Genau das habe ich jetzt gebraucht«, murmelte er mit vollem Mund. Er trank einen Riesenschluck Wasser und machte sich dann wieder über sein Essen her. Ihm war gar nicht bewusst, wie hungrig er gewesen war.

»Du frisst echt wie ein Schwein«, sagte Chuck, der neben ihm auf der Bank saß. »Fehlt nur noch das Grunzen.«

»Sehr komisch«, entgegnete Thomas sarkastisch. »Geh doch raus und unterhalte die Griewer – vielleicht lachen die ja.«

Chuck sah ein bisschen verletzt aus, weshalb Thomas sich sofort schlecht fühlte, aber der Gesichtsausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. »Wo du mich dran erinnerst – du bist das große Thema des Tages.«

Thomas setzte sich aufrechter hin und wusste nicht, wie er das finden sollte. »Und warum?«

»Oh, warum bloß? Da muss ich ja ganz scharf nachdenken«, erwiderte Chuck ironisch. »Erst rennst du nachts, obwohl’s verboten ist, raus ins Labyrinth. Dann verwandelst du dich in eine Art wild gewordenen Tarzan, der sich an Lianen herumschwingt und Leute an der Wand festknotet. Dann wirst du der erste Mensch, der je eine Nacht außerhalb der Lichtung überlebt hat, und als kleines i-Tüpfelchen machst du vier Griewer fertig. Ist mir echt ein Rätsel, worüber alle da bloß reden.«

Stolz erfüllte Thomas, verflog aber gleich wieder. Grund zur Freude gab es nicht. Alby lag im Bett und schrie sich die Kehle wund vor Schmerzen – und wünschte sich wahrscheinlich, er wäre tot. »Der Trick mit der Klippe war Minhos Idee, nicht meine.«

»Das erzählt der aber anders. Er hat gesehen, wie du gewartet hast und dann neben dem Ding weggetaucht bist, und das hat ihn auf die Idee gebracht, dasselbe an der Klippe auszuprobieren.«

»Warten und dann wegtauchen?«, fragte Thomas und verdrehte die Augen. »Jeder Idiot hätte das gemacht.«

»Brauchst gar nicht so bescheiden zu tun – was du da geleistet hast, war absolut unglaublich. Was ihr beide geleistet habt.«

Thomas schleuderte auf einmal voller Wut den leeren Teller zu Boden. »Und warum fühle ich mich dann so beschissen, Chuck? Kannst du mir das mal verraten?«

Thomas sah suchend in Chucks Gesicht, aber da fand er keine Antwort. Der Junge stützte sich mit den Händen auf die Knie und saß mit hängendem Kopf da. Schließlich sagte er leise wie zu sich selbst: »Aus demselben Grund, weswegen wir uns alle so beschissen fühlen.«

Sie saßen schweigend nebeneinander, bis Newt einige Minuten später kam und wie der wandelnde Tod aussah. Er setzte sich vor ihnen auf den Boden und machte einen unglaublich traurigen und besorgten Eindruck. Trotzdem war Thomas froh ihn in der Nähe zu haben.

»Ich glaube, der schlimmste Teil ist überstanden«, berichtete Newt. »Der alte Arsch Alby wird jetzt wahrscheinlich ’n paar Tage lang schlafen, aber wenn er aufwacht, ist er wieder okay. Vielleicht krakeelt er noch ’n bisschen rum.«

Thomas mochte sich nicht ausmalen, wie schlimm dieser Verwandlungsprozess sein mochte, der ihm nach wie vor ein Rätsel war. Möglichst beiläufig wandte er sich an den Älteren: »Jetzt mal ehrlich, Newt. Was passiert da gerade mit ihm? Ich kapiere einfach nicht, was diese Verwandlung sein soll.«

Newts Antwort überraschte Thomas. »Glaubst du etwa, wir verstehen’s?« Er zuckte mit den Schultern und schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. »Nichts wissen wir, außer wenn man von den Griewern mit ihren Scheißnadeln gestochen wird, muss man das Griewerserum spritzen, sonst ist man tot. Wenn man das Serum kriegt, tickt der Körper total aus und zittert wie verrückt, und die Haut wirft Blasen und wird eklig grün und man kotzt sich die Seele aus dem Leib. Willst du noch mehr Erklärungen hören, werter Herr Tom?«

Thomas runzelte die Stirn. Er wollte nicht, dass Newt sich aufregte, aber er brauchte Antworten. »Hey, ich weiß, wie klonk das ist, wenn du zugucken musst, wie dein Freund so was durchmacht, aber ich will wissen, was da oben im Gehöft wirklich vor sich geht. Warum nennt ihr es die Verwandlung?«

Newt schien in sich zusammenzusacken und seufzte. »Dabei kommen Erinnerungen zurück. Nur kleine Fetzen, aber auf jeden Fall Erinnerungen an vorher, bevor wir an diesen beschissenen Ort verfrachtet worden sind. Jeder, der sie mitmacht, benimmt sich hinterher wie ein verdammter Psychopath – allerdings bei weitem nicht immer so schlimm wie der arme Ben. Es scheint jedenfalls so zu sein, als ob man sein altes Leben zurückbekommen würde, nur damit es einem dann wieder weggenommen wird.«

Thomas war aufgewühlt. »Bist du dir sicher?«, fragte er.

Newt war verwirrt. »Wie meinst du das? Sicher?«

»Sind sie anders, weil sie zu ihrem alten Leben zurückkehren wollen oder weil sie so deprimiert darüber sind, dass ihr altes Leben auch nicht besser ist als das, was sie jetzt haben?«

Newt starrte ihn eine Sekunde lang an, dann sah er gedankenverloren weg. »Die Leute, die es mitgemacht haben, wollen nie richtig darüber reden. Sie werden … anders. Unleidlich. Eine Handvoll davon sind hier auf der Lichtung, aber ich kann sie nicht ausstehen.« Er wirkte abwesend und schaute ins Leere. Thomas ahnte, dass er daran dachte, dass Alby möglicherweise nie wieder der Alte sein würde.

»Das kannst du aber laut sagen«, pflichtete Chuck bei. »Und der Schlimmste von allen ist Gally.«

»Irgendwas Neues von dem Mädchen?«, fragte Thomas, um das Thema zu wechseln. Er wollte nicht über Gally reden. Außerdem kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem Mädchen zurück. »Ich habe oben gesehen, wie die Sanis sie gefüttert haben.«

»Nichts Neues«, antwortete Newt. »Liegt immer noch in dem beknackten Koma oder was das ist. Ab und zu murmelt sie mal was – sinnloses Zeug, als ob sie träumen würde. Das Essen nimmt sie an und scheint auch sonst gesund zu sein. Ist echt schräg.«

Ein langes Schweigen entstand, als ob alle drei konzentriert eine Erklärung dafür suchten. Thomas grübelte wieder einmal über das unerklärliche Gefühl der Verbundenheit mit ihr nach, das allerdings ein wenig nachgelassen hatte – es konnte natürlich sein, dass es wegen der vielen anderen Dinge war, die ihn momentan beschäftigten.

Schließlich brach Newt das Schweigen. »Egal. Nächster Tagesordnungspunkt ist jedenfalls, was wir mit unserem Tommy hier machen.«

Verwirrt spitzte Thomas die Ohren. »Mit mir machen? Was meinst du?«

Newt stand auf und reckte sich. »Du Neppdepp von einem Strunk hast unser ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Die Hälfte der Lichter hält dich für Gott höchstpersönlich, die andere Hälfte will dich den Schacht runterschmeißen. Gibt viel zu besprechen.«

»Was zum Beispiel?« Thomas wusste nicht, was beunruhigender war – dass manche ihn für einen Superhelden hielten oder andere ihn loswerden wollten.

»Wart’s ab«, sagte Newt. »Nach dem Wecken weißt du mehr.«

»Morgen erst? Warum?« Das klang gar nicht gut.

»Ich habe eine Versammlung einberufen. Und du wirst dabei sein. Du Arsch bist das einzige Thema auf der Tagesordnung.«

Und damit drehte Newt sich um, ging weg und ließ Thomas mit der Frage allein, warum in aller Welt eine Versammlung notwendig war, um über ihn zu reden.