»Jetzt ist alles klar«, sagte Minho.

Thomas stand neben ihm am Klippenrand und starrte hinunter ins graue Nichts. Nirgendwo war irgendetwas zu sehen, links nicht, rechts nicht, oben und unten auch nicht. Nichts als eine leere Fläche, so weit das Auge reichte.

»Was ist klar?«, fragte Thomas.

»Drei Mal haben wir das jetzt erlebt. Etwas geht da vor sich.«

»Ja.« Thomas ahnte, was er meinte, wartete aber trotzdem seine Erklärung ab.

»Der tot spielende Griewer, den ich gefunden habe – der ist in diese Richtung weggerannt und wir haben ihn nie zurückkommen oder ins Labyrinth verschwinden sehen. Dann die Schleimscheißer, die wir mit deinem Trick dazu gebracht haben, an uns vorbeizuspringen.«

»Trick?«, erwiderte Thomas. »Vielleicht war es gar kein so toller Trick.«

Minho sah ihn nachdenklich an. »Hmm. Na ja, und jetzt das.« Er zeigte in den Abgrund. »Es gibt keinen Zweifel mehr – die Griewer können das Labyrinth hier verlassen. Sieht aus wie fauler Zauber, aber das ist das Verschwinden der Sonne ja auch.«

»Und wenn sie das Labyrinth hier verlassen können«, führte Thomas den Gedanken weiter, »dann können wir das auch.« Eine Welle der Begeisterung durchfloss ihn.

Minho lachte. »Da ist wieder deine Todessehnsucht! Kaffeeklatsch mit den Griewern oder was?«

Das ernüchterte Thomas schlagartig. »Hast du ’n besseren Vorschlag?«

»Eins nach dem anderen, Frischling. Wir besorgen uns jetzt Steine und untersuchen den Abgrund mal genau. Es muss einen verborgenen Ausgang geben.«

Thomas half Minho dabei, in den Ecken und unter den Labyrinthwänden so viele lose Steine wie möglich zu sammeln. Mit den Messerspitzen bearbeiteten sie die Spalten in den Wänden, aus denen kleine Felsbrocken zu Boden fielen. Als sie endlich einen ansehnlichen Haufen Steine beisammenhatten, trugen sie ihn an die Kante und setzten sich mit den Füßen über dem Abgrund baumelnd hin. Beim Blick nach unten sah Thomas nichts als graue Tiefe.

Minho zog Block und Stift hervor und legte beides neben sich auf den Boden. »Okay, wir schreiben alles ganz genau auf. Und du merkst dir auch alles schön mit deinem Nepphirn. Wenn es hier irgendeine optische Täuschung gibt, hinter der ein Ausgang aus diesem Saftladen versteckt ist, dann will ich nicht dafür verantwortlich sein, wenn der erste Strunk danebenspringt.«

»Dieser Strunk sollte natürlich der Hüter der Läufer sein«, sagte Thomas und versuchte seine Angst dadurch zu überspielen. An einer Stelle zu sitzen, an der jede Sekunde ein Griewer herausspringen konnte, brachte ihn ins Schwitzen. »Man müsste sich an einem richtig guten Seil festhalten.«

Minho nahm den ersten Stein von ihrem Haufen. »Genau. Gut, wir werfen jetzt immer abwechselnd, im Zickzack weiter weg und weiter vorn. Wenn es tatsächlich irgendeine magische Tür hier gibt, dann werden wir das hoffentlich mit den Steinen herausfinden. Die müssten ja genauso verschwinden.«

Thomas nahm einen Stein und warf ihn gezielt weit nach links, genau dahin, wo die linke Labyrinthmauer auf die Klippe traf. Der Stein fiel. Und fiel. Und verschwand dann im grauen Nichts.

Minho war als Nächster dran. Er zielte mit seinem Stein nur einen halben Meter weiter von der Kante entfernt als Thomas. Auch dieser Stein fiel ewig lang nach unten. Thomas warf den nächsten, wieder einen halben Meter weiter weg. Dann Minho. Alle Gesteinsbrocken fielen in die Tiefe. Thomas befolgte Minhos Anweisungen – sie fuhren in derselben Art und Weise fort, bis sie eine Linie ungefähr vier Meter vom Klippenrand entfernt erreicht hatten, dann verlagerten sie ihren Zielbereich einen halben Meter nach rechts und bewegten sich dann systematisch zurück in Richtung Labyrinth.

Alle Steine fielen. Eine Reihe nach draußen, dann eine Reihe nach drinnen. Alle Steine fielen. Sie warfen so viele Steine, dass sie die gesamte linke Hälfte des Bereichs vor ihnen, die man – oder Griewer – bestenfalls springen konnte, abgedeckt hatten. Mit jedem Wurf wurde Thomas entmutigter, bis eine gigantische Masse Frust ihn zu erdrücken drohte.

Er haderte mit sich – das Ganze war eine beknackte Idee gewesen.

Dann verschwand Minhos Stein.

Es war das Seltsamste, das Unfassbarste, was Thomas jemals gesehen hatte.

Minho hatte einen dicken Felsbrocken geworfen, ein großes Stück, das aus einer Mauerspalte gefallen war. Thomas hatte konzentriert hingesehen. Der Stein verließ Minhos Hand, segelte vorwärts, fast genau in der Mitte über die Klippe, und begann seinen Abwärtsflug in Richtung des unsichtbaren Bodens ewig weit unter ihnen. Und dann war er auf einmal weg, als sei er ins Wasser oder in eine Wolke gefallen.

Im einen Augenblick da, fallend. Im nächsten weg.

Thomas war sprachlos.

»Wir haben schon jede Menge Zeug die Klippe runtergeschmissen«, sagte Minho. »Wie kann es sein, dass wir das nicht mitbekommen haben? Ich habe noch nie etwas verschwinden sehen. Nie.«

Thomas hustete, seine Kehle war trocken. »Mach’s noch mal. Vielleicht haben wir ja gerade geblinzelt oder so.«

Minho warf den nächsten Stein an die gleiche Stelle. Und wieder verschwand er aus der Welt.

»Vielleicht habt ihr früher nicht so genau hingeguckt, wenn ihr was runtergeschmissen habt«, sagte Thomas. »Ich meine: Es ist ja im Grunde unmöglich. Oft guckt man ja nicht richtig hin bei Dingen, die unvorstellbar sind.«

Sie warfen auch noch die restlichen Steine hinunter, wobei sie auf die Stelle und alles im näheren Umkreis zielten. Zu Thomas’ Erstaunen war der Bereich, in dem die Steine verschwanden, nur ungefähr einen Quadratmeter groß.

»Kein Wunder, dass uns das bisher nicht aufgefallen ist«, sagte Minho, der sich rasend schnell Notizen machte und, so gut er konnte, ein Diagramm zeichnete. »Das ist ja echt nicht groß.«

»Die Griewer müssen da nur mit Ach und Krach durchpassen.« Thomas starrte den Bereich mit dem unsichtbar schwebenden Quadrat, ohne zu blinzeln, an und versuchte sich die Entfernung und den Ort ganz genau einzuprägen. »Wenn sie rauskommen, müssen sie wahrscheinlich auf der Kante von dem Loch balancieren und dann über den Abgrund bis zum Klippenrand springen – so weit ist das ja nicht. Wenn ich das schaffen kann, ist es für die Viecher bestimmt ein Kinderspiel.«

Minho beendete die Zeichnung und betrachtete dann wieder die magische Stelle. »Wie kann das möglich sein, Alter? Das, was wir da vor uns haben?«

»Na, wie du gesagt hast, Zauberei ist es garantiert nicht. Es muss so ähnlich funktionieren wie der Himmel, der auf einmal grau wird. Eine Art optische Täuschung oder ein Hologramm, das eine Tür oder Öffnung verbirgt. Alles an diesem Klonkladen ist irgendwie abartig.« Und auch irgendwie faszinierend, wie Thomas sich eingestehen musste. Er hätte zu gern gewusst, was für eine Art Technik dahinterstecken mochte.

»Das kannst du laut sagen. Komm.« Minho rappelte sich ächzend hoch und setzte den Rucksack wieder auf. »Ist besser, wenn wir so viel vom Labyrinth ablaufen wie möglich. Da wir jetzt einen schönen neuen Himmel haben, sind vielleicht auch andere Sachen da draußen passiert. Wir berichten Alby und Newt heute Abend davon. Weiß nicht, was es uns bringt, aber wenigstens wissen wir, wohin die Arschgriewer verschwinden.«

»Und wahrscheinlich auch, woher sie kommen«, sagte Thomas und warf einen letzten Blick auf den versteckten Ausgang. »Das Griewerloch.«

»Ja, der Name trifft’s. Gehen wir.«

Thomas saß immer noch da, starrte vor sich hin und wartete, dass Minho loslief. Doch mehrere Minuten vergingen und nichts passierte, und Thomas merkte, dass sein Freund genauso fasziniert von der Sache war wie er. Schließlich wandte Minho sich, ohne ein Wort zu sagen, ab. Widerstrebend folgte Thomas ihm und sie rannten in das dunkle Labyrinth.

Außer Steinwänden und Efeu fanden Thomas und Minho nichts.

Thomas übernahm das Efeuabschneiden und Notizenmachen. Es fiel ihm schwer, die Veränderungen zum Vortag zu bemerken, aber Minho zeigte ohne jedes Nachdenken auf die Stellen, an denen die Wände sich bewegt hatten. Als sie an die abschließende Sackgasse kamen und umkehren mussten, verspürte Thomas den Drang, einfach über Nacht dazubleiben, um zu sehen, was passieren würde.

Minho schien das zu spüren und fasste ihn an der Schulter. »Noch nicht, Alter, noch nicht.«

Und so drehten sie um.

Über der Lichtung hing eine gedrückte Stimmung, was bei einem dauergrauen Himmel nur verständlich war. Seit sie am Morgen aufgewacht waren, hatte sich das trübe Licht kein bisschen verändert und Thomas fragte sich, was bei »Sonnenuntergang« passieren würde.

Als sie zum Westtor hereinkamen, ging Minho direkt zum Kartenraum.

Thomas war erstaunt. Er hielt das für nicht so wichtig. »Willst du Alby und Newt denn nicht sofort vom Griewerloch erzählen?«

»Hey, wir sind immer noch Läufer«, erwiderte Minho, »und haben nach wie vor einen Job.« Thomas folgte ihm zur Eisentür des massiven Betonblocks, wo Minho ihm ein schwaches Lächeln zuwarf. »Aber klar, wir fassen uns kurz, damit wir bald mit ihnen reden können.«

Etliche andere Läufer waren bereits im Raum, als sie hereinkamen. Keiner sagte ein Wort, als ob sich sämtliche Spekulationen über den neuen Himmel erschöpft hätten. Die hoffnungslose Stimmung im Raum gab Thomas ein Gefühl, als würde er durch schlammiges Wasser waten. Er wusste, dass er eigentlich todmüde sein müsste, aber er war zu aufgedreht, um es zu merken – er konnte es nicht erwarten, Newts und Albys Reaktion auf ihre Entdeckung zu sehen.

Er setzte sich an den Tisch und zeichnete aus dem Gedächtnis, gestützt auf die Notizen, eine Karte, wobei Minho ihm über die Schulter schaute und Hinweise gab. »Der Gang hat da geendet, nicht da, würde ich sagen« und »Hey, pass auf die Proportionen auf« oder »Zeichne gefälligst ein bisschen gerader, du Strunk«. Es war nervtötend, aber hilfreich. Eine Viertelstunde nachdem sie den Raum betreten hatten, begutachtete Thomas sein fertiges Werk. Er war sehr stolz auf seine Karte – sie war auch nicht schlechter als die anderen, die er bisher gesehen hatte.

»Gar nicht übel«, sagte Minho. »Zumindest für einen Frischling.«

Minho stand auf, ging zur Truhe von Abschnitt eins und klappte sie auf. Thomas kniete sich davor, nahm die Karte vom Vortag heraus und hielt sie neben die, die er gerade gezeichnet hatte.

»Und wonach soll ich suchen?«, fragte er.

»Nach Wiederholungen. Wenn du nur zwei Tage miteinander vergleichst, kapierst du gar nichts. Man muss sich schon mehrere Wochen auf einmal ansehen und nach Mustern oder irgendwelchen Übereinstimmungen suchen. Ich weiß, dass sie was enthalten, das uns helfen kann. Ich weiß bloß noch nicht, wie man das herausfindet. Wie ich schon sagte: Es ist zum Kotzen.«

Irgendwo in Thomas’ Hinterkopf war wieder dieses Jucken, genau wie beim ersten Mal, als er den Kartenraum betreten hatte. Die sich verschiebenden Labyrinthwände. Muster. Lauter gerade Linien – deuteten die etwa auf eine Karte ganz anderer Art hin? Zeigten sie auf etwas? Er hatte den starken Verdacht, dass er etwas ganz Offensichtliches übersah.

Minho tippte ihm auf die Schulter. »Na komm, du kannst ja nach dem Abendessen wiederkommen und die Dinger studieren, bis dir die Augen rausfallen. Jetzt müssen wir erst mal mit Newt und Alby reden.«

Thomas legte die Blätter in die Truhe und klappte sie zu, fühlte sich aber unwohl dabei. Es war wie ein Stechen in seiner Seite. Sich verschiebende Wände, gerade Linien, Muster … es musste eine Lösung geben. »Okay, gehen wir.«

Die schwere Tür zum Kartenraum war gerade hinter ihnen ins Schloss gefallen, als Newt und Alby auf sie zukamen, beide mit unglücklichen Mienen. Thomas’ Begeisterung war augenblicklich verflogen.

»Hey«, sagte Minho, »wir wollten gerade –«

»Spuck’s aus«, unterbrach Alby ihn. »Wir haben nicht viel Zeit. Was Neues? Irgendwas?«

Wegen der unfreundlichen Reaktion zuckte Minho ein wenig zurück, aber Thomas fand, dass er eher verwirrt als sauer wirkte. »Ja, du mich auch. Und außerdem haben wir tatsächlich was gefunden.«

Seltsam, aber Alby wirkte fast enttäuscht. »Dieser ganze Saftladen geht nämlich gerade vor die Hunde.« Dabei warf er Thomas einen so giftigen Blick zu, als sei alles seine Schuld.

Meine Güte, was hat der Typ bloß?, dachte Thomas und merkte, wie er wütend wurde. Den ganzen Tag lang hatten sie sich abgerackert wie verrückt und das war der Dank?

»Wieso?«, fragte Minho nach. »Was ist denn jetzt passiert?«

Newt antwortete mit einer Kopfbewegung in Richtung Box. »Die Arschversorgung ist heute nicht gekommen. Zwei Jahre lang haben wir jede Woche Nachschub gekriegt, am selben Tag, zur selben Zeit. Bis heute.«

Alle vier blickten hinüber zu der Stahltür, die mit dem Boden abschloss. Thomas wollte es so scheinen, als würde ein Schatten darüberhängen, der dunkler war als die graue Luft, die sie von allen Seiten umgab.

»Oh Gott, jetzt sind wir wirklich am Arsch«, flüsterte Minho, wodurch Thomas klar wurde, wie ernst die Lage sein musste.

»Keine Sonne für die Pflanzen«, seufzte Newt, »keinen Nachschub mehr aus der Box – ja, man könnte schon sagen, dass wir am Arsch sind.«

Alby hatte die Arme verschränkt und sah immer noch so zornig in Richtung Aufzugsschacht, als wollte er die Tür durch reine Willenskraft aufbekommen. Thomas hoffte nur, ihr Anführer würde nichts von dem erwähnen, was er bei der Verwandlung gesehen hatte – oder überhaupt irgendwas, was mit Thomas zu tun hatte. Jetzt erst recht nicht.

»Ja, also«, nahm Minho seinen Faden wieder auf. »Wir haben was total Schräges rausgefunden.«

Thomas wartete und hoffte von ganzem Herzen, dass Newt und Alby ihre Neuigkeiten positiv aufnehmen würden oder vielleicht sogar mehr darüber wussten, um das große Rätsel lösen zu können.

Newt zog die Augenbrauen hoch. »Und, was?«

Minho brauchte drei geschlagene Minuten, um alles zu erklären, angefangen vom Griewer, dem sie gefolgt waren, bis hin zu den Resultaten ihres Steinwurf-Experiments.

»Das muss dahin führen … wo … na ja … wo die Griewer hausen«, sagte er zum Abschluss.

»Das Griewerloch«, fügte Thomas hinzu. Alle drei sahen ihn leicht genervt an, als ob er kein Recht hätte, auch etwas zu sagen. Aber zum ersten Mal machte es ihm nicht mehr so viel aus, wie ein Frischling behandelt zu werden.

»Heilige Scheiße! Das muss ich mir selbst angucken«, sagte Newt. Dann murmelte er vor sich hin: »Kaum zu glauben.«

»Was wir dagegen tun können, weiß ich auch nicht«, sagte Minho. »Vielleicht könnten wir irgendeine Blockade bauen, die den Gang abriegelt.«

»Keine Chance«, sagte Newt. »Die Viecher können die verdammten Wände hochkriechen, wie du weißt. Wir können niemals was bauen, was die abhalten würde.«

Eine lautstarke Szene vor dem Gehöft erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine Gruppe Lichter stand vor dem Haus und schrie durcheinander, einer lauter als der andere. Chuck stand auch bei der Gruppe, und als er Thomas und die anderen bemerkte, kam er zu ihnen gerannt. Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung. Thomas war gespannt, was nun schon wieder passiert war.

»Was ist los?«, fragte Newt ihn.

»Sie ist wach!«, schrie Chuck. »Das Mädchen ist wach!«

Thomas hatte einen Knoten im Bauch, er musste sich an die Betonwand des Kartenbunkers lehnen. Das Mädchen. Das Mädchen, das in seinem Kopf sprach. Er wollte wegrennen, bevor es wieder passierte, bevor sie wieder in seine Gedanken eindrang.

Aber es war zu spät.

Tom, ich kenne niemanden von den Leuten hier. Komm zu mir und hol mich hier raus! … Ich vergesse schon wieder alles, außer dir … Ich muss dir so viel erzählen! Aber es wird alles ganz schwach … 

Er konnte einfach nicht fassen, wie sie das machte, wie sie in seinen Kopf hineinkam.

Eine Weile nichts von Teresa, dann sagte sie etwas, das keinen Sinn ergab.

Das Labyrinth ist ein Code, Tom. Das Labyrinth ist ein Code.