Thomas wollte sie nicht sehen. Er wollte niemanden sehen.
Sobald Newt weg war, um mit dem Mädchen zu reden, verdrückte Thomas sich unauffällig und hoffte, dass in der Aufregung niemand auf ihn achten würde. Das erwies sich als relativ einfach, da alle voll und ganz mit der aus dem Koma erwachten Unbekannten beschäftigt waren. Er streifte am Rand der Lichtung entlang und rannte dann in Richtung seines Rückzugsorts im Wald hinter dem Schädelfeld.
Er kauerte sich in der Ecke im weichen Efeu zusammen und warf sich die Decke über den Kopf. Er hoffte irgendwie Teresa dadurch davon abzuhalten, in seinem Kopf herumzuspuken. Etliche Minuten vergingen und sein Herzschlag verlangsamte sich endlich wieder.
»Dich zu vergessen war das Schlimmste an der Sache.«
Zuerst hielt Thomas es für eine weitere Nachricht in seinem Kopf und presste die Fäuste mit aller Macht auf seine Ohren. Aber nein, es war … anders. Er hatte es mit den Ohren gehört. Eine Mädchenstimme. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter, während er sich ganz langsam die Decke vom Kopf zog.
Teresa stand rechts von ihm an die dicke Steinmauer gelehnt. Sie wirkte so ganz anders, wach und lebendig – in der Senkrechten. Sie hatte eine langärmlige weiße Bluse, Jeans und braune Schuhe an und sah – falls das möglich war – noch umwerfender aus als schlafend im Koma. Ihr blasses Gesicht wurde von schwarzen Haaren eingerahmt, mit Augen vom Blau einer sehr heißen Flamme.
»Weißt du wirklich nicht, wer ich bin, Tom?« Ihre Stimme war sanft, ganz anders als der harte, wahnsinnige Klang ihrer Stimme, als sie direkt nach ihrer Ankunft die Nachricht übermittelt hatte, dass sich alles ändern wird.
»Willst du damit etwa sagen, dass du … weißt, wer ich bin?«, fragte Thomas und schämte sich, weil seine Stimme am Ende des Satzes in ein hohes Quäken umgeschlagen war.
»Ja. Nein. Vielleicht.« Sie zuckte frustriert mit den Achseln. »Ich kann’s nicht erklären.«
Thomas machte den Mund auf und ließ ihn dann wieder zuklappen, ohne etwas zu sagen.
»Ich weiß noch, wie es ist, sich an Sachen zu erinnern«, sagte sie mit einem Riesenseufzer und setzte sich hin. Sie zog die Knie heran und schlang die Arme darum. »Gefühle. Empfindungen. Als ob ich lauter Schubladen in meinem Kopf hätte, mit schönen Schildern dran für Erinnerungen und Gesichter, aber sie sind alle leer. Als ob alles von vorher hinter einem weißen Vorhang verborgen wäre. Du auch.«
»Aber woher kennst du mich denn?« Er hatte das Gefühl, als würden die Wände anfangen sich zu drehen.
Teresa wandte sich ihm zu. »Ich weiß nicht. Es hat etwas mit früher zu tun, bevor wir ins Labyrinth gekommen sind. Etwas mit uns beiden. Aber wie gesagt, es ist eigentlich alles verschwommen und leer.«
»Du weißt über das Labyrinth Bescheid? Wer hat dir das erklärt? Du bist doch gerade erst aufgewacht.«
»Ich … es ist momentan alles sehr verwirrend.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Aber ich weiß, dass wir Freunde sind.«
Wie betäubt zog Thomas die Decke ganz herunter und beugte sich vor, um ihr die Hand zu schütteln. »Es ist schön, wenn du mich Tom nennst.« Sobald ihm das über die Lippen gekommen war, war er schon überzeugt, dass er unmöglich etwas Beknackteres hätte sagen können.
Teresa verdrehte die Augen. »Ja, aber so heißt du doch, oder?«
»Schon, aber die meisten Leute nennen mich Thomas. Außer Newt, der sagt immer Tommy zu mir. Bei Tom … da habe ich irgendwie das Gefühl, als ob ich zu Hause wäre oder so. Obwohl ich nicht mal weiß, was Zuhause überhaupt ist.« Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Wir sind ganz schön fertig, was?«
Sie lächelte zum ersten Mal und er hatte fast das Gefühl, als müsste er weggucken – als ob etwas so Schönes nichts an diesem traurigen, grauen Ort zu suchen und er kein Recht hätte, ihr Gesicht so zu sehen.
»Ja, wir sind ziemlich fertig«, sagte sie. »Und ich habe Angst.«
»Ich auch, das kannst du mir aber glauben.« Das war vermutlich die Untertreibung des Tages.
Ein langer Augenblick verging, in dem beide zu Boden blickten.
»Was …?«, fing er an, wusste aber nicht recht, wie er die Frage stellen sollte. »Wie … wie redest du in meinem Kopf?«
Teresa schüttelte den Kopf. Keine Ahnung – ich kann es einfach, dachte sie. Dann sprach sie laut weiter. »Es ist so, als würdest du hier versuchen Fahrrad zu fahren – wenn es hier Fahrräder gäbe. Das könntest du, ohne auch nur drüber nachzudenken. Aber ich wette, du erinnerst dich trotzdem nicht mehr dran, wie du das mal gelernt hast.«
»Nein, ich meine … ich weiß noch, dass ich früher Fahrrad gefahren bin, aber nicht, wie ich das gelernt habe.« Er unterbrach sich, weil er eine Welle der Traurigkeit über sich zusammenbrechen fühlte. »Oder wer es mir beigebracht hat.«
»Na ja«, sagte sie blinzelnd, als sei ihr seine plötzliche Traurigkeit peinlich. »Jedenfalls ist lautlos sprechen so ähnlich.«
»Super, jetzt ist mir alles so richtig klar!«, sagte er ironisch.
Teresa zuckte die Achseln. »Du hast es doch niemandem erzählt, oder? Die andern würden uns für verrückt halten.«
»Tja … als es zum ersten Mal passiert ist, da hab ich schon was gesagt. Aber Newt glaubt wahrscheinlich, dass ich in diesem Augenblick nur total durch den Wind war.« Thomas fühlte sich zappelig, als würde er durchdrehen, wenn er sich nicht bewegte. Er sprang hoch und lief vor ihr auf und ab. »Wir müssen unbedingt ’n bisschen Klarheit in dieses ganze Chaos bringen. Diese komische Botschaft, die du in der Hand hattest, dass du der letzte Mensch sein würdest, der herkommt, dein Koma, die Tatsache, dass du telepathisch mit mir reden kannst. Irgendwelche Erklärungen?«
Teresa folgte ihm mit dem Blick, während er nervös hin und her lief. »Die vielen Fragen kannst du dir sparen. Ich weiß nichts mehr außer ganz schwachen Eindrücken – dass wir beide wichtig sind, dass wir irgendwie benutzt worden sind. Dass wir besonders schlau sind. Dass wir aus einem bestimmten Grund hier sind. Ich weiß, dass ich das Ende ausgelöst habe, auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, was das heißt.« Ihre Wangen röteten sich und sie stöhnte. »Meine Erinnerungen sind so wertlos wie deine.«
Thomas kniete sich vor sie hin. »Nein, das sind sie nicht. Ich meine: Du weißt, dass ich das Gedächtnis verloren habe, ohne dass du mich erst fragen musstest – und das ganze andere Zeug. Du bist uns anderen ziemlich weit voraus.«
Sie sahen sich lange in die Augen und es schien, als würde es in Teresas Kopf rotieren, während sie das alles zu verstehen versuchte.
Ich weiß es einfach nicht, sagte sie lautlos zu ihm.
»Siehst du, du machst es schon wieder«, sagte Thomas, mittlerweile erleichtert, dass ihr Trick ihn nicht mehr völlig aus der Fassung brachte. »Wie schaffst du das bloß?«
»Ich mach’s einfach und ich wette, du kannst es auch.«
»Keine Ahnung, aber ich glaub nicht, dass ich das ausprobieren will.« Er setzte sich wieder hin und zog auch die Knie an, genau wie sie. »Du hast was gesagt – in meinem Kopf –, direkt bevor du hier zu mir in den Wald gekommen bist. Du hast gesagt: ›Das Labyrinth ist ein Code.‹ Was hast du damit gemeint?«
Sie schüttelte ein wenig den Kopf. »Als ich aufgewacht bin, da war’s, als ob ich in einem Irrenhaus gelandet wäre – lauter unbekannte Typen, die direkt über meinem Bett hingen, es war, als ob die Wände einstürzen würden, die Erinnerungen sind durch meinen Kopf geschwirrt. Ich habe versucht irgendwelche Gedanken festzuhalten und das war einer davon. Aber ich weiß eigentlich gar nicht mehr, warum ich das gesagt habe.«
»War da sonst noch irgendwas?«
»Ja, schon.« Sie zog links den Ärmel hoch und zeigte ihm ihren Unterarm. Mit dünner schwarzer Tinte waren kleine Buchstaben auf die Haut geschrieben.
»Was ist das?«, fragte er und beugte sich vor, um es besser zu sehen.
»Lies selbst.«
Die Buchstaben waren verschmiert, aber als er nahe genug heranging, konnte er sie entziffern.
ANGST ist gut
Thomas’ Herz schlug schneller. »Das Wort habe ich schon gesehen – Angst.« Er durchforstete sein Hirn, was dieser Satz bloß heißen könnte. »Auf den kleinen Viechern, die hier rumkrabbeln. Den Käferklingen.«
»Was ist das?«, fragte sie.
»Das sind so kleine Maschinen, die ein bisschen wie Eidechsen aussehen, die spionieren uns aus, für die Schöpfer – so nennen wir die Leute, die uns hierher verfrachtet haben.«
Teresa ließ sich das einen Augenblick durch den Kopf gehen und starrte ins Leere. Dann richtete sie den Blick wieder auf ihren Arm. »Ich weiß nicht mehr, warum ich das geschrieben habe«, sagte sie, leckte ihren Daumen an und fing an die Buchstaben abzurubbeln. »Aber wir dürfen es nicht vergessen – es muss was Wichtiges sein.«
Thomas wiederholte die drei Worte immer wieder in seinem Kopf. »Wann hast du das geschrieben?«
»Als ich aufgewacht bin. Neben dem Bett lag ein Stift und ein Block. In dem Riesengewusel hab ich’s schnell auf meinen Arm geschrieben.«
Thomas war wirklich baff – er musste sich immer wieder über dieses Mädchen wundern. Erst die Verbundenheit, die er von Anfang an mit ihr gespürt hatte, dann die Gedankenübertragung, jetzt das. »Du bist wirklich ganz schön seltsam. Das weißt du, oder?«
»Wenn ich mir hier dein kleines Versteck im Wald angucke, würde ich sagen, du bist auch nicht gerade total normal. Waldschrat oder was?«
Thomas versuchte sie finster anzusehen, lächelte aber nur. Es war ihm peinlich, dass er versucht hatte sich zu verstecken. »Na ja, du siehst irgendwie vertraut aus und behauptest mit mir befreundet zu sein. Also sind wir wohl Freunde.«
Er streckte die Hand aus und sie nahm sie, schüttelte sie aber nicht nur, sondern hielt sie lange fest. Ein Schauder lief Thomas den Rücken herunter, der erstaunlich angenehm war.
»Ich will zurück nach Hause, sonst nichts«, sagte sie und ließ seine Hand los. »Genau wie alle anderen.«
Die Realität holte Thomas wieder ein und ihm wurde schwer ums Herz, wenn er daran dachte, wie aussichtslos ihre Lage mittlerweile war. »Ja, momentan sieht’s hier ziemlich beschissen aus. Die Sonne ist verschwunden und der Himmel ist grau geworden, und unsere Wochenration haben sie uns auch nicht geschickt – wird wohl alles auf die ein oder andere Art auf jeden Fall bald zu Ende gehen.«
Bevor Teresa eine Antwort geben konnte, kam Newt durch den Wald auf sie zugerannt. »Wie in drei Teufels …?«, sagte er, als er vor ihnen zum Stehen kam. Alby und einige andere waren hinter ihm. Newt funkelte Teresa an. »Wie bist du hierhergekommen? Der Sani hat gesagt, eben wärst du noch da gewesen, und plötzlich warst du einfach weg, verdammt noch mal.«
Teresa stand auf und überraschte Thomas damit, wie selbstsicher sie sich verhielt. »Na, da hat er dir wohl den kleinen Teil verschwiegen, als ich ihm in die Eier getreten hab und aus dem Fenster geklettert bin.«
Thomas hätte beinah laut losgelacht, als Newt sich zu einem älteren Jungen hinter ihm umdrehte, der knallrot angelaufen war.
»Glückwunsch, Jeff«, sagte Newt. »Damit bist du hier offiziell der Erste, der sich von einem verdammten Mädel besiegen lässt.«
Teresa war nicht zu stoppen. »Noch so ein Spruch und du bist als Nächster dran.«
Newt drehte sich wieder zu den beiden um, alles andere als Angst im Gesicht. Er stand nur schweigend da und starrte sie an. Thomas starrte zurück und hätte zu gern gewusst, was dem Älteren gerade durch den Kopf ging.
Alby trat vor. »Mir geht das alles hier total gegen den Strich.« Er zeigte auf Thomas, berührte ihn fast mit dem ausgestreckten Zeigefinger. »Ich will jetzt wissen, wer du bist, wer dieses Strunk-Weib ist und woher ihr zwei euch kennt.«
Thomas hätte fast klein beigegeben. »Alby, ich schwör dir –«
»Sie ist nach dem Aufwachen schnurstracks zu dir gelaufen, du Neppdepp!«
Wut stieg in Thomas auf – allerdings begleitet von der Sorge, dass Alby womöglich genauso durchdrehen könnte wie Ben. »Na und? Ich kenne sie, sie kennt mich – zumindest haben wir uns früher gekannt. Das heißt doch gar nichts! Ich kann mich an nichts erinnern. Und sie auch nicht.«
Alby sah Teresa durchdringend an. »Was hast du getan?«
Thomas verstand die Frage nicht und sah verwirrt zu Teresa hinüber, ob sie wusste, was Alby meinte. Aber sie gab keine Antwort.
»Was hast du getan?«, brüllte Alby. »Erst der Himmel und jetzt das!«
»Ich habe irgendwas ausgelöst«, gab sie seelenruhig zurück. »Nicht absichtlich, das schwör ich dir. Das Ende. Was das bedeutet, weiß ich nicht.«
»Was ist denn los, Newt?«, fragte Thomas, weil er nicht mit Alby selbst reden wollte. »Was ist jetzt passiert?«
Aber Alby packte ihn vorn am Hemd. »Was passiert ist? Ich werd dir sagen, was passiert ist, du Strunk. Bist du zu beschäftigt mit Rumturteln, um dich mal umzugucken? Weißt du nicht, welche verdammte Uhrzeit wir haben?«
Thomas sah auf die Uhr und merkte voller Grauen, was ihm bisher nicht aufgefallen war und was Alby ihm gleich sagen würde.
»Die Wände, du Nepp. Die Tore. Sie haben sich heute Abend nicht geschlossen.«