Zum zweiten Mal an diesem Morgen war Thomas so geschockt, dass ihm die Worte fehlten.
»Na, dann los«, sagte Newt zu Thomas und zog ihn am Arm hinter sich her. »Ich komme mit.«
Thomas folgte ihm, Chuck im Schlepptau, aus dem Versammlungsraum durch den Flur zu einer engen Wendeltreppe, die er bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Newt bedachte Chuck mit einem eisigen Blick. »Du bleibst unten.«
Ausnahmsweise nickte Chuck nur und sagte nichts. Thomas vermutete, dass irgendetwas an Albys Verhalten den Kleinen total aus der Fassung gebracht hatte.
»Mach dir nichts draus«, sagte Thomas im Hochgehen zu Chuck. »Sie haben mich gerade zum Läufer ernannt, du hast jetzt also einen ganz tollen Hecht als besten Freund.« Er wollte einen Witz machen, um zu verbergen, dass er eine Heidenangst vor dem Wiedersehen mit Alby hatte. Was war, wenn er ihm genauso schreckliche Beschuldigungen an den Kopf werfen würde wie Ben? Oder womöglich noch schlimmere?
»Jaja«, brummte Chuck nur und starrte gedankenverloren die Treppe an.
Thomas zuckte mit den Schultern und lief die Wendeltreppe hoch. Seine Handflächen waren klatschnass und ein bisschen Angstschweiß lief ihm die Stirn herunter. Er wollte wirklich nicht da hoch.
Grimmig wartete Newt oben auf dem Treppenabsatz. Sie befanden sich am gegenüberliegenden Ende des langen, dunklen Flurs, wo die andere Holztreppe war, die Thomas am ersten Tag hochgegangen war, um Ben zu sehen. Bei der Erinnerung an dieses erste Zusammentreffen wurde ihm ganz schlecht. Er hoffte von ganzem Herzen, dass Alby schon vollständig geheilt war, damit er nicht noch einmal so etwas mit ansehen musste – die grünliche Haut, die krank aussehenden, geschwollenen Adern, die Zuckungen. Aber er machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Er folgte Newt zur zweiten Tür rechts, an die dieser leise klopfte; als Antwort ertönte ein Ächzen. Newt machte die Tür auf und das Knarren erinnerte Thomas wieder ganz vage an etwas aus der Kindheit: einen Gruselfilm von einem Spukhaus. Da war es wieder – ein winziges Fenster zur Vergangenheit. Er konnte sich an Filme erinnern, aber nicht an die Gesichter der Schauspieler oder mit wem er sie angesehen hatte. Er konnte sich ans Kino erinnern, aber nicht, wie ein bestimmtes ausgesehen hatte. Wie frustrierend das war, konnte er nicht erklären, noch nicht einmal sich selbst.
Newt war im Zimmer und winkte Thomas ebenfalls herein. Beim Eintreten machte er sich auf das Schlimmste gefasst. Aber als er den Blick hob, sah er nichts weiter als einen sehr schwach aussehenden Teenager, der mit geschlossenen Augen im Bett lag.
»Schläft er?«, flüsterte Thomas, weil er sich nicht traute das auszusprechen, was er wirklich fragen wollte: Er ist doch nicht etwa tot, oder?
»Ich weiß nicht«, antwortete Newt leise. Er setzte sich neben das Bett auf einen Holzstuhl. Thomas nahm auf der anderen Seite Platz.
»Alby«, flüsterte Newt. Dann etwas lauter: »Alby! Chuck hat gesagt, du willst mit Tommy sprechen.«
Mühsam öffnete Alby die Augen – blutunterlaufen und im Licht glitzernd traten sie aus ihren Höhlen. Er sah Newt an, dann hinüber zu Thomas. Mit einem Ächzen schob er sich im Bett nach oben und lehnte sich mit dem Kopf an die Rückenlehne. »Ja«, krächzte er heiser.
»Chuck meinte, du würdest dich herumschmeißen und wie ein Irrer im Bett herumpropellern.« Newt beugte sich zu ihm vor. »Was ist los? Bist du noch krank?«
Alby stieß jedes Wort einzeln aus, begleitet von einem pfeifenden Atemgeräusch, als koste ihn jedes davon eine Woche seines Lebens. »Alles … wird anders … das Mädchen … Thomas … ich hab sie gesehn …« Flackernd schlossen sich seine Augenlider, dann gingen sie wieder halb auf. Er sank zurück und starrte an die Decke. »Mir geht’s gar nicht gut.«
»Bitte erklär es uns doch! Was hast du gesehen?«, flehte Newt ihn an.
»Ich will Thomas!«, schrie Alby in einem plötzlichen Energieausbruch, den Thomas noch Sekunden zuvor für unmöglich gehalten hätte. »Ich will nicht dich sehen, Newt! Thomas! Ich habe nach Thomas gefragt, verdammt –«
Newt sah auf und musterte Thomas mit hochgezogenen Augenbrauen. Thomas zuckte mit den Achseln und fühlte sich jede Sekunde unbehaglicher. Was wollte Alby bloß von ihm?
»Na schön, du alter Muffelnepp«, sagte Newt. »Da ist er – rede mit ihm.«
»Geh«, sagte Alby schwer atmend mit geschlossenen Augen.
»Kommt nicht in die Tüte – ich will’s auch hören.«
»Newt.« Eine Pause. »Verschwinde. Sofort.« Die ganze Sache war Thomas unglaublich unangenehm. Er wollte nicht, dass Newt schlecht über ihn dachte, und fürchtete sich vor dem, was Alby ihm zu sagen hatte.
»Aber –«, protestierte Newt.
»Raus!« Alby richtete sich auf, während sich seine Stimme überschlug. Er rutschte wieder hoch und lehnte sich an das Kopfteil. »Raus mit dir!«
Newt sah verletzt aus – Thomas war überrascht keinerlei Ärger auf seinem Gesicht zu entdecken. Nach einem Moment des Schweigens stand Newt auf und ging zur Tür. Lässt er mich hier wirklich allein?, dachte Thomas.
»Und glaub ja nicht, dass ich dir den Hintern küssen werde, wenn du dich für dein Benehmen entschuldigst«, sagte er und trat hinaus auf den Flur.
»Tür zu!«, schrie Alby, eine letzte Beleidigung. Newt knallte die Tür hinter sich zu.
Thomas’ Herzschlag beschleunigte sich – er war jetzt allein mit einem Typen, der schon sowieso ständig schlecht gelaunt gewesen war, bevor er vom Griewer gestochen und verwandelt worden war. Er konnte nur hoffen, Alby würde einfach ausspucken, was er zu sagen hatte, und fertig. Ein langes Schweigen dehnte sich zu minutenlanger Ewigkeit aus und Thomas zitterten vor Angst die Hände.
»Ich weiß, wer du bist«, durchbrach Alby schließlich die Stille.
Thomas fand keine Worte. Er versuchte zu antworten, brachte aber nur unzusammenhängendes Gemurmel heraus. Er war total verwirrt. Und voller Angst.
»Ich weiß, wer du bist«, wiederholte Alby langsam. »Hab’s gesehen. Hab alles gesehen. Wo wir herkommen, wer du bist. Wer das Mädchen ist. Ich erinnere mich an Den Brand.«
Den Brand? Thomas zwang sich zum Sprechen. »Ich weiß nicht, was du da redest. Was hast du gesehen? Ich wüsste zu gern, wer ich bin.«
»Es ist nicht schön«, antwortete Alby, der zum ersten Mal, seit Newt weg war, aufblickte und Thomas direkt ansah. Er hatte vor Kummer tiefe, dunkle Ringe unter den Augen. »Es ist fürchterlich, weißt du. Warum wollen diese Neppdeppen, dass wir uns erinnern? Warum können wir nicht einfach hier wohnen bleiben und glücklich sein?«
»Alby …« Thomas wünschte, er könnte in den Kopf ihres Anführers hineingucken und sehen, was er gesehen hatte. »Die Verwandlung«, bedrängte er ihn, »was ist dabei passiert? Was ist zurückgekommen? Ich kapier nicht, was du sagst.«
»Du –«, fing Alby an, dann fasste er sich urplötzlich im Würgegriff an die eigene Kehle und stieß ein ersticktes Gurgeln aus. Er trat mit den Beinen wie wild um sich und rollte auf die Seite, als versuchte jemand ihn zu erdrosseln. Die Zunge hing ihm aus dem Mund und er biss sich immer und immer wieder darauf.
Thomas sprang auf und stolperte entsetzt rückwärts – Alby zuckte herum und trat um sich, als hätte er einen Anfall. Seine dunkle Haut, die noch eine Minute zuvor seltsam blass gewesen war, war jetzt lila angelaufen und seine Augen hatten sich so weit nach oben verdreht, dass sie wie gleißend weiße Murmeln aussahen.
»Alby!«, schrie Thomas, traute sich aber nicht, nach seinen Händen zu greifen.
»Newt!«, brüllte er, die Hände am Mund. »Komm sofort her, Newt!«
Die Tür wurde aufgerissen, noch bevor er den Satz beendet hatte.
Newt rannte zu Alby hin, stützte sich mit dem ganzen Körpergewicht auf den sich windenden Jungen und versuchte ihn aufs Bett zu pinnen. »Halt ihn an den Beinen!«
Thomas sprang vorwärts, aber Alby trat so wild um sich, dass es unmöglich war, an ihn heranzukommen. Er traf Thomas mit dem Fuß am Unterkiefer und der Schmerz zuckte durch seinen ganzen Schädel. Thomas stolperte zurück und rieb sich das Kinn.
»Tu’s einfach, verdammt noch mal!«, schrie Newt.
Thomas spannte seine Muskeln an, dann sprang er auf Alby, packte seine Beine und drückte sie aufs Bett. Er umklammerte die Unterschenkel des Jungen mit den Armen und drückte sie mit aller Gewalt zusammen, während Newt sich auf Albys eine Schulter kniete und schnell nach seinen Händen fasste, mit denen Alby sich immer noch selbst zu erwürgen versuchte.
»Lass los!«, schrie Newt Alby an, während er zupackte. »Du bringst dich noch um!«
Thomas sah, wie die Venen auf Newts Armen hervortraten und er mit aller Macht Albys Hände zentimeterweise von seinem Hals wegdrückte. Er drückte sie dem nach wie vor zuckenden Jungen auf die Brust. Alby bäumte sich noch ein paarmal auf, die Mitte seines Rumpfs wölbte sich vom Bett hoch. Dann wurde er allmählich ruhiger, ein paar Sekunden später lag er still da, sein Atem ging wieder gleichmäßiger, seine Augen waren verschleiert.
Thomas hielt Albys Beine immer noch ganz fest, weil er Angst hatte, dass es wieder losgehen würde, sobald er losließ. Eine geschlagene Minute lang wartete Newt ab, bis er langsam Albys Hände losließ. Noch eine endlose Minute, bis er die Knie wegnahm und sich aufrichtete. Daraufhin ließ Thomas ebenfalls los und hoffte, dass der Albtraum damit vorüber war.
Alby sah hoch, Augenlider auf halbmast, als würde er jeden Moment einschlafen. »Tut mir leid, Newt«, flüsterte er schwach. »Ich weiß nicht, was los war. Als ob … ich von etwas besessen gewesen wäre. Sorry …«
Thomas atmete tief durch und dachte, dass er garantiert nie wieder etwas derartig Beunruhigendes miterleben wollte.
»Jaja, von wegen sorry«, gab Newt zurück. »Du hast versucht dich verdammt noch mal selbst zu erdrosseln!«
»War ich nicht, ich schwör’s«, murmelte Alby.
Newt schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Was soll das heißen, du warst das nicht?«, fragte er.
»Ich weiß nicht. Das … war nicht ich.« Alby sah genauso verwirrt aus, wie Thomas sich fühlte.
Aber Newt schien der Sache nicht weiter auf den Grund gehen zu wollen. Zumindest im Augenblick nicht. Er hob die Decken auf, die bei Albys Kampf vom Bett gefallen waren, und deckte den Kranken wieder damit zu. »Schlaf dich aus, du Strunk, wir reden später drüber.« Er tätschelte ihm den Kopf und fügte hinzu: »Du bist ganz schön fertig, Alter.«
Aber Alby schlief schon beinahe ein und nickte nur noch ein wenig, während ihm die Augen zufielen.
Newt sah Thomas in die Augen und machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür. Thomas konnte es kaum abwarten, dieses Irrenhaus zu verlassen, und folgte Newt hinaus auf den Flur. Gerade als sie zur Tür hinausgingen, murmelte Alby im Bett etwas.
Beide Jungen blieben wie angewurzelt stehen. »Was?«, fragte Newt.
Alby klappte ganz kurz die Augen auf und wiederholte das, was er gerade gesagt hatte, ein wenig lauter. »Passt auf das Mädchen auf.« Und damit fielen ihm die Augen zu.
Da war es wieder: Das Mädchen. Irgendwie schien alles immer zu dem Mädchen zu führen. Newt sah Thomas fragend an, der aber nur mit den Achseln zucken konnte. Er hatte keinen Schimmer, was das alles zu bedeuten hatte.
»Gehn wir«, flüsterte Newt.
»Newt?«, rief Alby vom Bett herüber, ohne die Augen noch einmal aufzumachen.
»Ja?«
»Schütz die Karten.« Damit drehte Alby sich auf die Seite und schlief ein.
Thomas fand, dass das nicht gut klang. Ganz und gar nicht gut. Er und Newt schlichen aus dem Zimmer und machten leise die Tür hinter sich zu.