Zum zweiten Mal in Folge wurde Thomas beim Einschlafen von Bens schrecklichem Gesicht gequält. Ob alles ganz anders gelaufen wäre, wenn dieser eine Junge nicht wäre? Fast konnte Thomas sich einreden, dass er völlig glücklich und zufrieden wäre, sich begeistert auf sein neues Leben und sein Ziel, Läufer zu werden, stürzen würde. Aber leider nur fast. Tief in sich wusste er, dass Ben nur eines von vielen Problemen darstellte.

Doch jetzt war er weg, verbannt ins Reich der Griewer, dahin verschleppt, wohin sie ihre Beute brachten, dem ausgeliefert, was dort mit ihm passieren würde. Obwohl Thomas genügend Gründe hatte, Ben zu hassen, jetzt verspürte er einfach nur Mitleid für ihn.

Thomas konnte sich nicht vorstellen so zu enden, aber Bens letzten Augenblicken nach zu schließen, in denen er wie ein Wahnsinniger um sich geschlagen, geschrien und gespuckt hatte, hegte er keinerlei Zweifel mehr an der Unumstößlichkeit von Regel Nummer eins – niemand außer den Läufern durfte das Labyrinth betreten. Ben war irgendwie von den Griewern angegriffen und gestochen worden und wusste insofern besser als alle anderen, was genau da auf ihn wartete.

Der arme Kerl, dachte er. Der arme, arme Kerl.

Thomas schauderte und rollte sich auf die Seite. Je mehr er darüber nachdachte, desto schlechter schien ihm die Idee, Läufer werden zu wollen. Aber trotzdem war ihm seine Berufung vollkommen klar.

Am nächsten Morgen war der Himmel fast vollkommen dunkel und die Sonne noch lange nicht aufgegangen, als Thomas von Geräuschen auf der Lichtung aus dem tiefsten Schlaf seit seiner Ankunft geweckt wurde. Er richtete sich auf, rieb sich die Augen und versuchte seine Benommenheit abzuschütteln. Da es nicht klappte, legte er sich wieder hin und hoffte, dass ihn niemand wecken würde.

Keine Minute ging das gut.

Jemand klopfte ihm auf die Schulter und er machte widerwillig die Augen auf. Es war Newt. Was jetzt schon wieder?, dachte er.

»Raus aus den Federn, du Schnarchtüte.«

»Ja, ja, du mich auch. Wie spät ist es?«

»Sieben Uhr, Neuer«, sagte Newt mit einem höhnischen Grinsen. »Durftest heute mal ausschlafen, nach den harten letzten Tagen.«

Thomas wälzte sich mühsam hoch und fand es einfach nur schrecklich, dass er nicht noch ein paar Stunden liegen bleiben konnte. »Ausschlafen?! Was ist mit euch los, sind wir hier auf dem Bauernhof oder was?« Woher wusste er, dass man auf einem Bauernhof früh aufstehen musste? Wieder einmal verwirrte Thomas die weitgehende, aber nicht totale Löschung seines Gedächtnisses.

»Öh … stimmt, wo du’s so sagst.« Newt ließ sich neben Thomas auf den Boden rutschen und schlug die Beine unter. Er saß still da und blickte hinaus zu all dem Treiben, das sich jetzt überall auf der Lichtung bemerkbar machte. »Heute kommst du zu den Wurzelseppen, Frischling. Vielleicht hast du daran mehr Spaß als am Auseinandernehmen von blutigen Schweinchen.«

Newts Klugscheißerei ging ihm schrecklich auf den Wecker. »Wolltest du nicht aufhören mich so zu nennen?«

»Wie, blutiges Schweinchen?«

Thomas lachte gekünstelt und schüttelte den Kopf. »Nein, Frischling. Ich bin ja nicht mehr der Neue, stimmt’s? Das ist das Koma-Mädchen. Die kannst du ja Frischling nennen – ich heiße jedenfalls Thomas.« Die Gedanken an das Mädchen krachten in seinem Kopf ineinander und erinnerten ihn wieder an die rätselhafte Verbindung, die er zu ihr spürte. Traurigkeit überkam ihn, als würde er sie vermissen oder sich nach ihr sehnen. Das ist doch Schwachsinn, dachte er. Ich weiß ja nicht mal, wie sie heißt.

Newt lehnte sich auf die Hände gestützt zurück und zog anerkennend die Augenbrauen hoch. »Aber holla – für die Uhrzeit bist du nicht gerade auf den Mund gefallen, was?«

Thomas reagierte nicht, sondern kam zurück zum Thema. »Was ist ein Wurzelsepp?«

»So nennen wir die Jungs, die in den Gärten schuften – umgraben, Unkraut rupfen, pflanzen und so.«

Thomas machte eine Kopfbewegung in die Richtung. »Und wer ist da der Hüter?«

»Zart. Netter Kerl, solang man bei der Arbeit nicht faulenzt. Er ist der Große, der gestern Abend ganz vorn gestanden hat.«

Dazu sagte Thomas nichts, weil er nur einen Wunsch hatte, nämlich den Tag zu überstehen, ohne über Ben und seine Verbannung reden zu müssen. Davon wurde ihm übel. Schnell wechselte er das Thema. »Und warum hast du mich so wahnsinnig nett aufgeweckt?«

»Was, du brichst nicht in Jubelgeschrei aus, wenn du beim Wecken als Erstes meine hübsche Fresse sichtest?!«

»Nee, nicht wirklich. Und –« Bevor er den Satz beenden konnte, schnitt ihm das Rumpeln der aufgehenden Wände das Wort ab. Er blickte in Richtung Osttor, als würde Ben noch dahinterstehen. Er sah Minho, der dort Dehnübungen machte. Dann ging er zum Tor und hob etwas auf.

Es war der Teil der Stange mit dem Lederhalsband daran. Minho schien dem weiter keine Beachtung zu schenken und warf ihn einem der anderen Läufer zu, der ihn zurück in den Werkzeugschuppen im Garten brachte.

Thomas drehte sich verständnislos zu Newt um. Wie konnte Minho so tun, als wäre nichts gewesen? »Was zum –?«

»Ich hab auch erst drei Verbannungen miterlebt, Tommy. Waren alle so abartig wie die gestern Abend. Und jedes verdammte Mal lassen die Griewer das Halsband bei uns vor der Tür liegen. Absolut gruselig.«

Dem musste Thomas zustimmen. »Was machen sie bloß mit den Jungen, die sie erwischen?« Wollte er das wirklich wissen?

Newt zuckte nur die Achseln, was allerdings nicht sehr überzeugend wirkte. Wahrscheinlich wollte er nicht darüber reden.

»Erzähl mir was über die Läufer«, sagte Thomas unvermittelt. Die Worte schienen wie von selbst zu kommen. Er wollte sich entschuldigen und am liebsten sofort davon ablenken, aber er blieb ganz still. Er wollte ja wirklich alles über sie erfahren. Selbst nach dem, was er gestern Abend miterlebt hatte, selbst nach dem Auftauchen des Griewers hinter der Fensterscheibe, er wollte es wissen. In ihm war ein ungeheurer Drang, alles zu erfahren, den er nicht richtig einordnen konnte. Es war einfach das Gefühl, dass er zum Läufer geboren worden war.

Newt wirkte verwirrt. »Die Läufer? Warum?«

»Nur so.«

Newt warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Sind die Besten, die Jungs. Die Allerbesten. Müssen sie auch sein. Alles hängt von ihnen ab.« Er hob einen Kiesel hoch und ließ ihn über die Steinplatten springen. Gedankenverloren sah er ihm hinterher.

»Und warum bist du dann keiner?«

Mit einem Ruck blickte Newt zurück zu Thomas. »War ich doch, bis ich mich vor ’n paar Monaten am Fuß verletzt habe. Läuft sich nicht mehr so gut seitdem.« Geistesabwesend rieb er sich den rechten Fußknöchel, wobei sich sein Gesicht kurz vor Schmerz verzerrte. Thomas hatte den Eindruck, dass es nicht mehr unbedingt die eigentlichen körperlichen Schmerzen waren, sondern eher die Erinnerung daran.

»Und wie ist das passiert?«, fragte Thomas, weil er Newt unbedingt zum Reden bringen wollte.

»Beim Wegrennen vor den Arschgriewern natürlich, wie sonst? Hätten mich um ein Haar gekriegt.« Er machte eine Pause. »Mir wird immer noch ganz mulmig, wenn ich mir vorstelle, dass ich auch beinah durch die Verwandlung durchgemusst hätte.«

Die Verwandlung. Davon erhoffte sich Thomas die meisten Antworten. »Und was ist das überhaupt? Was verwandelt sich denn da? Drehen alle so ab wie Ben und versuchen andere abzumurksen?«

»Bei Ben war’s schlimmer als bei den meisten anderen. Aber ich dachte, du wolltest über die Läufer reden.« Newts Tonfall warnte ihn die Verwandlung nicht mehr zu erwähnen.

Das machte Thomas nur noch neugieriger, auch wenn ihn die Läufer ebenso brennend interessierten. »Klar, ich bin ganz Ohr.«

»Na, wie gesagt. Die besten der Besten.«

»Und wie findet ihr das raus? Werden alle getestet, wie schnell sie rennen können?«

Newt sah Thomas an, als ob er total bescheuert wäre, dann stöhnte er. »Mann, streng mal deinen Grips ’n bisschen an, Frischling, Tommy, mir egal. Wie schnell man rennt, ist lange nicht alles. Genauer gesagt nur ein kleiner Teil.«

»Und warum?«

»Wenn ich sage, die Besten, dann meine ich in allem. Um das Labyrinth zu überleben, muss man schlau, schnell und stark sein. Man muss Entscheidungen treffen können, wissen, welche Risiken man eingehen darf und welche nicht. Man darf nicht lebensmüde sein, aber auch nicht zu vorsichtig.« Newt streckte die Beine aus und stützte sich auf die Hände. »Es ist wirklich zum Kotzen da draußen, glaub’s mir. Ich vermisse es kein Stück.«

»Ich dachte, die Griewer würden nur nachts rauskommen.« Ob er nun zum Läufer bestimmt war oder nicht, einem von den Dingern wollte er sicher nicht begegnen.

»Ja, meistens schon.«

»Und warum ist es dann so schlimm da draußen?«

Newt seufzte. »Jede Menge Stress. Jeden Tag ist das Labyrinth anders, man muss es sich abstrakt vorstellen können und einen Weg finden, wie wir hier rauskommen. Muss sich den Kopf über die verdammten Karten zerbrechen. Das Schlimmste ist, dass man ständig Angst hat, man schafft es nicht rechtzeitig wieder zurück. Das ist schon in einem normalen Labyrinth schwierig genug – aber wenn sich das Scheißding jede Nacht verändert, braucht man bloß einen Fehler zu machen und schon kann man die Nacht mit fürchterlichen Ungeheuern verbringen. Schwachmaten und Dummschwätzer haben da nichts zu suchen.«

Thomas runzelte die Stirn, weil er diesen Drang in sich einfach nicht verstand, besonders nach gestern Abend. Aber er war trotzdem da. Er spürte ihn in jeder Faser seines Körpers.

»Warum fragst du?«, wollte Newt wissen.

Thomas zögerte, weil er Angst hatte, es laut auszusprechen. »Ich will Läufer werden.«

Newt drehte sich zu ihm um und sah ihm fest in die Augen. »Du bist noch nicht mal ’ne Woche da, Strunk. Ist das nicht ein bisschen früh, um sich in den Tod zu stürzen?«

»Nein, ich meine das ganz ernst.« Selbst Thomas verstand eigentlich nicht, was er da sagte, aber er wusste es einfach. Der Wunsch, Läufer zu werden, war das Einzige, was ihn antrieb und ihm dabei half, seine Situation zu akzeptieren.

Newt sah ihn unverwandt an. »Ich auch. Vergiss es. Es ist noch nie einer im ersten Monat Läufer geworden, geschweige denn in der ersten Woche. Du musst dich erst beweisen, bevor wir dich dem Hüter empfehlen.«

Thomas stand auf und faltete seine Schlafsachen zusammen. »Das ist kein Witz, Newt. Ich kann nicht den ganzen Tag Unkraut rupfen – da dreh ich durch. Ich habe keinen Schimmer, was ich gemacht habe, bevor ich hier abgeliefert worden bin, aber ich weiß genau, dass ich zum Läufer bestimmt bin. Ich kann das.«

Newt saß immer noch da und starrte zu Thomas hoch. »Hat ja auch keiner gesagt, dass du das nicht kannst. Aber jetzt musst du es erst mal auf sich beruhen lassen.«

Ungeduld durchflutete Thomas. »Aber –«

»Hör zu, Tommy. Vertrau mir. Wenn du anfängst hier überall rumzuerzählen, du wärst dir zu gut für die Arbeit, dass du kein Bauer bist und laberlaber und auf der Stelle Läufer werden willst – dann machst du dir im Handumdrehen einen Haufen Feinde. Also vergiss die Sache fürs Erste.«

Sich Feinde zu machen war das Letzte, was Thomas wollte, aber trotzdem. Er schlug eine andere Taktik ein. »Na gut, dann rede ich halt mit Minho darüber.«

»Viel Glück, du Strunkarsch. Die Läufer werden vom Hüterrat gewählt. Und der ist wirklich knallhart, kein Schmusekurs wie bei mir. Die lachen dich nur aus.«

»Aber ihr wisst doch gar nichts über mich! Kann doch sein, dass ich richtig gut bin. Dann ist es reine Zeitverschwendung, wenn ich so lange warten muss!«

Newt sprang auf und hielt Thomas den Zeigefinger ins Gesicht. »So, jetzt hör mir mal gut zu. Hast du die Lauscher aufgeklappt?«

Thomas war überrascht, wie wenig er sich von ihm eingeschüchtert fühlte. Er verdrehte die Augen, nickte dann aber.

»Hör jetzt auf der Stelle mit dem Schwachsinn auf, bevor die anderen Strünke was davon mitbekommen. So läuft der Laden hier nun mal nicht und unser aller Leben hängt davon ab, dass der Laden hier läuft.«

Er machte eine Pause, aber Thomas sagte nichts, weil er wusste, dass jetzt mal wieder eine Moralpredigt kommen würde.

»Ordnung!«, fuhr Newt fort. »Ordnung. Das sagst du dir jetzt und immer wieder vor. Der einzige Grund, weswegen wir hier noch nicht völlig durchgedreht sind, ist, weil wir uns den Arsch abschuften und die Ordnung aufrechterhalten. Ordnung ist der Grund, weswegen wir Ben rausgeschmissen haben – können wir uns nicht leisten, dass hier Bekloppte rumrennen und andere umbringen wollen, oder? Ordnung. Wir können echt drauf verzichten, dass du kommst und alles durcheinanderbringst.«

Thomas gab seine Dickköpfigkeit auf. Er wusste, dass er jetzt den Mund halten musste. »Ja«, mehr sagte er nicht.

Newt schlug ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. »Komm, wir machen einen Deal.«

»Ja?« Thomas sah einen Hoffnungsschimmer.

»Du hältst brav die Klappe und dafür setze ich dich auf die Liste derer, die vielleicht zum Läufer ausgebildet werden. Wenn du die Klappe nicht hältst, dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass du nie raus ins Labyrinth kommst. Abgemacht?«

Die Vorstellung endloser Warterei nervte Thomas, der nicht wusste, wie lang das dauern würde. »Toller Deal.«

Newt runzelte drohend die Stirn.

Schließlich nickte Thomas doch. »Abgemacht.«

»Na komm, wir holen uns bei Bratpfanne was zu beißen. Hoffentlich werden wir’s überleben.«

An diesem Morgen lernte Thomas endlich den berühmt-berüchtigten Bratpfanne kennen, allerdings nur von weitem. Der Bursche hatte alle Hände voll zu tun, eine Armee ausgehungerter Lichter zu füttern. Er konnte nicht älter als sechzehn sein, hatte aber schon einen Vollbart und auch am restlichen Körper überall Haare, als ob aus jeder Pore etwas sprießen würde, um seinen fettverschmierten Klamotten zu entkommen. Er machte nicht gerade den saubersten Eindruck aller Zeiten, obwohl er den ganzen Tag mit Essen zu tun hatte. Thomas nahm sich vor, nach ekligen schwarzen Haaren in seinem Essen Ausschau zu halten.

Er und Newt hatten sich zu Chuck an einen Picknicktisch direkt vor der Küche gesetzt, als eine große Gruppe Lichter aufstand und aufgeregt auf das Westtor zurannte.

»Was ist da los?«, wollte Thomas wissen, selbst erstaunt, dass er das so locker fragte. Es war mittlerweile einfach Alltag geworden, dass auf der Lichtung ständig etwas Neues passierte.

Newt zuckte die Achseln und machte sich über sein Rührei her. »Die wollen sich von Minho und Alby verabschieden – die beiden gehen sich das tote Griewervieh angucken.«

»Übrigens«, sagte Chuck beim Kauen, wobei ihm ein Speckstückchen aus dem Mund flog. »Ich hab mal eine Frage.«

»Ja, kleiner Chucky?«, sagte Newt ziemlich sarkastisch. »Was für eine kleine Frage haben wir denn?«

Chuck schien schwer nachzudenken. »Er hat einen toten Griewer gefunden, stimmt’s?«

»Ja«, antwortete Newt gereizt. »Danke für diese hochinformative Auskunft.«

Chuck schlug ein paarmal gedankenverloren mit der Gabel auf den Tisch. »Wer hat das blöde Vieh dann umgebracht?«

Hervorragende Frage, dachte Thomas. Er war gespannt auf Newts Antwort, aber da kam nichts. Offensichtlich hatte er auch keine Ahnung.