Der Bau stand in einem versteckten Winkel zwischen Gehöft und Nordwand hinter wild wucherndem Dornengebüsch, das aussah, als wäre es seit Ewigkeiten nicht mehr zurückgeschnitten worden. Es war ein viereckiger Kasten aus rohem Beton mit einem winzigen, vergitterten Fenster und einer dicken Holztür mit einem finster aussehenden Eisenriegel daran, wie etwas aus dem Mittelalter.
Newt holte einen Schlüssel heraus, schloss auf und bedeutete Thomas einzutreten. »Da drin gibt’s nur einen Stuhl und absolut nichts für dich zu tun. Viel Spaß dann.«
Thomas stöhnte innerlich, als er über die Schwelle trat und den einzigen Gegenstand im Bau sah – einen hässlichen, wackligen Stuhl, bei dem ein Bein kürzer war als die anderen, wahrscheinlich absichtlich. Nicht mal ein Polster hatte er.
»Bis später«, sagte Newt, bevor er die Tür zuzog. Thomas hörte, wie von draußen der Riegel vorgeschoben und das Vorhängeschloss zugeschlossen wurde. Newts Gesicht tauchte an dem kleinen Fenster ohne Scheibe auf und guckte zu den Gitterstäben herein. »Das ist deine nette Belohnung dafür, dass du gegen die Regeln verstoßen hast. Du hast zwei Leuten das Leben gerettet, Tommy, aber du musst trotzdem lernen, dass –«
»Ja, ja, ich weiß. Ordnung.«
Newt lächelte. »Du bist schon okay, Strunk. Aber Freundschaft hin oder her, wir müssen den Laden hier sauber und ordentlich führen, sonst gehen wir dabei drauf. Darüber kannst du schön nachdenken, während du hier die Wand anstarrst.«
Und dann war er weg.
Die erste Stunde verging und Thomas spürte die Langeweile wie Ratten unter der Tür hereinhuschen. In Stunde Nummer zwei wollte er nur noch mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Zwei Stunden später war er überzeugt, dass ein Abendessen mit Gally und den Griewern allemal besser wäre, als in dem verdammten Bau zu sitzen. Er hockte da und versuchte irgendwelche Erinnerungen in sich wachzurufen, aber jeder Versuch verpuffte, bevor irgendetwas greifbar wurde.
Gott sei Dank kam Chuck um zwölf mit dem Mittagessen.
Nachdem Chuck ihm mehrere Hähnchenstücke und ein Glas Wasser durchs Fenster gereicht hatte, spielte er seine übliche Rolle und quasselte Thomas das Ohr ab.
»Heute scheint alles wieder normal zu laufen«, erzählte der Junge. »Die Läufer sind draußen im Labyrinth, alle sind beim Arbeiten – vielleicht überleben wir ja doch. Von Gally immer noch keine Spur – Newt hat den Läufern befohlen ruck, zuck zurückzukommen, falls sie seine Leiche finden. Und, ach so, ja – Alby ist auch wieder auf den Beinen. Es scheint ihm gut zu gehen – und Newt ist heilfroh, dass er nicht mehr den großen Boss zu markieren braucht.«
Bei der Erwähnung von Alby wurde Thomas aufmerksam. Er sah wieder vor seinem inneren Auge, wie der Ältere am Tag zuvor wie wild um sich getreten und sich selbst gewürgt hatte. Dann fiel ihm wieder ein, dass niemand wusste, was Alby gesagt hatte, nachdem Newt aus dem Zimmer gegangen war – vor seinem Anfall. Was allerdings nicht hieß, dass Alby es jetzt, wo er wieder mit den anderen zusammen war, für sich behalten würde.
Chuck redete weiter, allerdings unerwartet von etwas ganz anderem. »Ich bin völlig fertig, Mann. Es ist ziemlich schlimm, wenn man so traurig ist und ständig Heimweh hat, aber keine Ahnung, wonach man sich eigentlich sehnt, findest du nicht auch? Ich weiß nur eins, nämlich dass ich nicht hier sein will. Ich will zurück zu meiner Familie. Dahin, wo ich herkomme, wo sie mich weggeholt haben. Ich will meine Erinnerungen.«
Thomas war erstaunt. Er hatte Chuck noch nie etwas so Wahres und Tiefgehendes sagen hören. »Ich weiß, was du meinst«, murmelte er.
Chuck war zu klein, so dass Thomas ihn beim Sprechen nicht sehen konnte, aber Thomas vermutete, seine Augen standen voller Trauer und vielleicht sogar Tränen. »Früher habe ich immer geflennt. Jede Nacht.«
Alle Gedanken an Alby waren wie weggeblasen. »Ja?«
»Wie ein Hosenscheißerbaby. Fast, bis du hergekommen bist. Dann habe ich mich wahrscheinlich einfach dran gewöhnt. Das hier ist mein Zuhause geworden, auch wenn wir jeden Tag hoffen, dass wir aus dem Saftladen rauskommen.«
»Ich habe nur einmal geheult, seit ich hier bin, und das war, nachdem ich beinah bei lebendigem Leib gefressen worden wäre. Ich bin wahrscheinlich ein alter gefühlloser Neppdepp.« Das hätte Thomas bestimmt niemals erzählt, wenn Chuck nicht auch seine Geheimnisse verraten hätte.
»Du hast auch mal geweint?«, hörte er Chuck von draußen sagen. »Wann?«
»Ja. Als der letzte Griewer endlich die Klippe runtergestürzt ist, bin ich voll zusammengeklappt und hab rumgeflennt, bis mir alles wehgetan hat.« Thomas erinnerte sich nur zu gut daran. »Alles ist auf einmal über mir zusammengebrochen. Hinterher habe ich mich allerdings viel besser gefühlt. Also schäm dich nicht fürs Heulen. Niemals.«
»Schon komisch, aber danach fühlt man sich echt besser.«
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Thomas hoffte, dass Chuck nicht weggehen würde.
»Du, Thomas?«, sagte Chuck.
»Bin noch da.«
»Glaubst du, ich habe Eltern? Echte Eltern?«
Thomas lachte, zum größten Teil, um die Traurigkeit zu unterdrücken, die durch die Frage in ihm hochkam. »Natürlich, du Strunk. Muss ich dir das mit den Bienchen und den Blümchen erklären?« Thomas tat es in der Seele weh – er wusste noch, dass ihm mal jemand etwas über Aufklärung erzählt hatte, aber nicht, wer das gewesen war.
»Nein, das meine ich doch nicht, du Depp«, sagte Chuck mit niedergeschlagener Stimme. Sie war so tonlos, dass man ihn kaum noch verstehen konnte. »Die meisten Lichter, die die Verwandlung mitgemacht haben, erinnern sich an so schreckliche Sachen, dass sie noch nicht mal darüber reden wollen. Und deswegen bezweifle ich manchmal, dass irgendetwas Gutes zu Hause auf mich wartet. Trotzdem. Glaubst du, dass ich wirklich irgendwo da draußen auf der Welt eine Mom und einen Dad habe, die mich vermissen? Glaubst du, die weinen auch nachts?«
Thomas merkte entsetzt, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Seit seiner Ankunft war alles so derartig verrückt gewesen, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte. Alle Lichter waren echte Jungs mit echten Familien, die sich nach ihnen sehnten. Es war seltsam, aber er hatte noch nicht mal richtig an seine eigene Familie gedacht. Nur daran, was es alles bedeutete, wer sie hierhergeschickt hatte und wie sie jemals hier rauskommen sollten.
Zum ersten Mal spürte er etwas, was ihn so wütend machte, dass er am liebsten jemanden umgebracht hätte. Chuck war sein Freund. Dieser Junge sollte bei seinen Eltern sein, zur Schule gehen, mit den Kindern in der Nachbarschaft spielen. Er verdiente es, abends zu einer Familie zurückzukehren, die ihn liebte und sich um ihn sorgte. Eine Mom, die ihn zwang jeden Tag zu duschen, und einen Dad, der ihm bei den Hausaufgaben half.
Thomas hasste die Leute, die diesen armen, unschuldigen Kerl seiner Familie entrissen hatten. Er hasste sie mit einer Leidenschaft, die er nie bei sich vermutet hätte. Er wollte, dass sie tot waren, am besten hingemetzelt. Er wollte, dass Chuck glücklich war.
Aber alles Glück war ihnen geraubt worden. Die Liebe war ihnen geraubt worden.
»Hör mir gut zu, Chuck«, sagte Thomas ganz langsam, damit seine Stimme nicht zu zittern anfing. »Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass du Eltern hast. Ich weiß es genau. Es klingt gemein, aber ich wette, dass deine Mom jetzt gerade in deinem Zimmer sitzt und dein Kopfkissen an sich drückt und aus dem Fenster guckt und sich immer wieder fragt, wo du sein magst. Und ich wette, dass sie weint. Mit roten Augen und ganz viel Schnodder. Volle Kanüle.«
Chuck sagte nichts, aber Thomas meinte, ganz leise ein Schniefen zu hören.
»Gib nicht auf, Chuck. Wir finden den Ausgang und kommen raus aus diesem Ding. Ich bin jetzt Läufer – und ich verspreche dir, dass ich dich zurückbringe in dein Zimmer. Ich verspreche es bei meinem Leben. Damit deine Mom nicht mehr zu weinen braucht.« Und das meinte Thomas auch so. Er fühlte es von ganzem Herzen.
»Ich hoffe, du hast Recht«, sagte Chuck mit zitteriger Stimme. Er streckte den Daumen vor dem Fenster hoch und ging dann davon.
Thomas lief in der winzigen Zelle auf und ab. Der Wunsch, sein Versprechen zu halten, erfüllte ihn völlig. »Ich schwör’s dir, Chuck«, flüsterte er vor sich hin. »Ich schwöre, dass ich dich zurück nach Hause bringe.«