Thomas sah zu, wie Alby das Halsband aufschnappen ließ und es Ben um den Nacken legte. Als der Druckknopf mit einem lauten Popp zuschnappte, blickte Ben schließlich auf. Tränen standen ihm in den Augen, der Rotz lief ihm aus den Nasenlöchern. Die Lichter sahen schweigend zu.
»Bitte, Alby«, flehte Ben mit einem so jämmerlichen Stimmchen, dass Thomas es nicht glauben konnte: Das sollte derselbe Kerl sein, der ihm am Vortag noch die Kehle durchbeißen wollte? »Ich schwör’s dir. Ich war nur völlig neben mir wegen der Verwandlung. Ich hätte ihn nie umgebracht – ich war nur ganz kurz nicht richtig da. Bitte, Alby, bitte.«
Jedes Wort des Jungen war für Thomas wie ein Faustschlag in die Magengrube, bei dem er sich immer schuldiger und verwirrter fühlte.
Alby gab keine Antwort; er zog an dem Halsband, um zu überprüfen, ob es richtig saß. Er ging an Ben und dem langen Stab vorbei, hob ihn vom Boden hoch und ließ ihn dabei durch die Hand gleiten. Als er ans Ende der Rute kam, nahm er sie fest in die Hand und drehte sich zu den anderen herum. Mit seinen blutunterlaufenen Augen, dem vor Wut verzerrten Gesicht und dem schweren Atem wirkte Alby auf einmal seltsam böse.
Der Anblick am anderen Ende war ebenfalls sehr seltsam: der zitternde, heulende Ben, eine Art dicke Hundeleine aus altem Leder um den mageren, bleichen Hals, die an einer langen Rute befestigt war und sich bis zum sechs Meter entfernten Alby erstreckte. Der Aluminiumschaft bog sich ein wenig in der Mitte durch, aber nur ein bisschen. Er wirkte überraschend stabil auf Thomas.
Alby sprach mit einer lauten, fast feierlichen Stimme und sah in die Runde. »Ben von den Baumeistern, du wirst zur Verbannung verurteilt für den versuchten Mord an Thomas dem Neuling. Die Hüter haben gesprochen und daran gibt’s nichts zu rütteln. Du kommst nicht mehr zu uns zurück. Nie mehr.« Eine lange Pause. »Hüter, nehmt euren Platz an der Verbannungsstange ein.«
Thomas fand es schrecklich, dass jetzt alle über Ben und ihn Bescheid wussten, und er hasste seine Schuldgefühle. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen würde das Misstrauen gegen ihn von neuem schüren. Seine Schuldgefühle wurden zu Wut. Er wollte einfach nur, dass Ben weg und alles vorbei war.
Ein Junge nach dem anderen trat aus der Menge vor und ging zu der langen Stange hin, die sie mit beiden Händen packten, als wollten sie Tauziehen spielen. Newt war einer von ihnen, genau wie Minho, was Thomas’ Vermutung bestätigte, dass er der Hüter der Läufer war. Zuletzt kam Winston der Schlitzer.
Als alle an ihrem Platz standen – elf Hüter im gleichmäßigen Abstand zwischen Alby und Ben –, wurde es mucksmäuschenstill. Nichts war mehr zu hören außer Bens erstickten Schluchzern. Er rieb sich immer wieder Augen und Nase und zuckte mit dem Kopf nach links und rechts, aber das Halsband hinderte ihn daran, die Stange und die Hüter hinter sich zu sehen.
Thomas’ Gefühle schlugen schon wieder um. Ganz offensichtlich stimmte etwas nicht mit Ben. Warum musste er so bestraft werden? Konnte man ihm denn nicht helfen? Würde Thomas sich den Rest seines Lebens für sein Schicksal verantwortlich fühlen? Es soll einfach vorbei sein, schrie er innerlich. Schluss!
»Bitte«, sagte Ben, dessen Stimme vor Verzweiflung immer höher wurde. »Biiiiittttteeee! Helft mir doch! Das könnt ihr doch nicht mit mir machen!«
»Sei still!«, brüllte Alby von hinten.
Aber Ben hörte nicht auf ihn, sondern flehte die anderen um Hilfe an, während er an dem Lederriemen um seinen Hals zog. »Haltet sie auf! Helft mir! Bitte!« Bettelnd sah er von einem Jungen zum nächsten, doch jeder wandte den Blick ab. Thomas stellte sich schnell hinter einen größeren Jungen, um nicht noch einmal mit Bens Blick konfrontiert zu werden. Ich kann nie wieder in diese Augen blicken, dachte er.
»Wenn wir Strünke wie dich mit so etwas davonkommen ließen«, sagte Alby, »hätten wir nie überleben können. Hüter, macht euch bereit.«
»Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte Ben immer wieder. »Ich schwör’s, ich mache, was ihr wollt! Ich schwör’s! Biiiiittttt-«
Sein schrilles Kreischen wurde von dem Rumpeln des Osttors übertönt, das sich zu schließen begann. Funken sprühten, als sich das Gestein der gigantischen rechten Mauer nach links verschob. Der Boden unter ihren Füßen bebte, als die Lichtung für die Nacht verschlossen wurde, und Thomas wusste nicht, ob er mit ansehen konnte, was als Nächstes passieren würde.
»Hüter, jetzt!«, schrie Alby.
Bens Kopf wurde nach hinten gerissen, als er mit einem Ruck von der Stange in Richtung Labyrinth geschoben wurde. Ein erstickter Schrei kam aus Bens Kehle, der lauter als das Donnern des sich schließenden Tors war. Er ließ sich auf die Knie fallen, wurde aber von dem ersten Hüter vorn, einem untersetzten Kerl mit schwarzen Haaren und einem höhnischen Gesichtsausdruck, wieder hochgerissen.
»Neeeeiiiiiihhnnnn!«, schrie Ben, schlug und trat wie wild um sich und riss mit den Händen an dem Halsband, während ihm der Speichel aus dem Mund flog. Aber gemeinsam hatten die Hüter zu viel Kraft und der Verurteilte wurde näher und näher auf den Rand der Lichtung geschoben. Die Mauer war schon fast zu. »Neeeeiiihhnn!«, schrie er wieder und wieder.
Ben versuchte sich mit den Füßen an der Schwelle abzustemmen, was ihm aber nur den Bruchteil einer Sekunde lang half, dann wurde er von der Stange mit einem Ruck ins Labyrinth geschleudert. Kurz darauf war er schon einen ganzen Meter im Labyrinth und warf sich hin und her, um sich aus dem Halsband zu befreien. Es blieben nur noch Sekunden, bevor die Tore sich schließen würden.
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung schaffte Ben es, seinen Hals in dem Lederband umzudrehen, so dass sein ganzer Körper jetzt den Lichtern zugewandt war. Thomas konnte nicht glauben, dass er immer noch ein menschliches Wesen vor sich sah – der Wahnsinn in Bens Augen, der Rotz, der ihm übers Gesicht lief, die weiße Haut, die sich über Adern und Knochen spannte. So sah kein Mensch aus.
»Halt!«, kommandierte Alby.
Ben schrie jetzt, pausenlos, ein Klang, der so in den Ohren gellte, dass Thomas sie sich zuhalten musste. Es war ein tierischer, irrer Schrei, der dem Jungen garantiert die Stimmbänder zerreißen würde. In der letzten Sekunde löste der vorderste Hüter irgendwie den Rest der Rute von dem an Ben befestigten Stück und riss ihn zurück in die Lichtung. Ben blieb in der Verbannung. Seine letzten Schreie waren nicht mehr zu hören, als die Wände sich mit einem fürchterlichen Knall schlossen.
Thomas machte die Augen ganz fest zu und merkte erstaunt, dass ihm Tränen die Wangen herunterliefen.