Thomas drehte sich zu seinem ursprünglichen Verfolger um, der immer näher kam, wenn auch etwas langsamer, und jetzt eine Metallklaue auf- und zuklappen ließ, als würde er ihn verhöhnen oder auslachen.
Er weiß, dass ich erledigt bin, dachte Thomas. Er hatte sich so angestrengt, nur um jetzt von vier Griewern eingekreist zu werden. Es war vorbei. Nicht mal eine Woche, keine richtigen Erinnerungen, und sein Leben war zu Ende.
Obwohl es ihn schrecklich traurig machte, fällte er eine Entscheidung. Er würde nicht kampflos untergehen.
Einer war ihm wesentlich lieber als drei, weshalb er geradewegs auf den Griewer zurannte, der ihn bisher gejagt hatte. Das hässliche Vieh hörte auf den Greifarm zu bewegen und zog sich vielleicht einige Zentimeter zurück, als sei es über Thomas’ Verwegenheit schockiert. Das kurze Zögern machte Thomas Mut und er rannte mit lautem Gebrüll auf ihn zu.
Der Griewer erwachte aus seiner Erstarrung, fuhr die Spikes aus der Haut aus, rollte vorwärts und bereitete sich auf den frontalen Zusammenstoß mit seinem Gegner vor. Die plötzliche Bewegung hätte Thomas beinahe zum Stehenbleiben veranlasst, sein wahnsinniger Todesmut war schon wieder wie weggeblasen, aber er rannte trotzdem weiter.
In der letzten Sekunde vor der Kollision, als Thomas das Metall und die Borsten und den Schleim aus nächster Nähe sah, bremste er mit dem linken Fuß abrupt ab und tauchte nach rechts weg. Der Griewer war nicht in der Lage, seinen Schwung so schnell abzustoppen, und zischte an ihm vorbei, bevor er schwabbelnd zum Stehen kam – wie Thomas merkte, bewegte sich das Ding jetzt wesentlich schneller. Mit einem metallischen Aufheulen änderte es die Richtung und wollte sich erneut auf sein Opfer stürzen. Aber jetzt war Thomas nicht mehr eingekesselt und hatte freie Bahn, den gleichen Gang zurück.
Er sprang auf die Füße und sprintete los. Dicht hinter ihm waren die Verfolgungsgeräusche aller vier Griewer. Er wusste genau, dass er die Grenzen seines körperlichen Durchhaltevermögens längst erreicht hatte, rannte aber trotzdem weiter und versuchte das Gefühl der Aussichtslosigkeit, dass sie ihn früher oder später sowieso kriegen würden, abzuschütteln.
Drei Gänge entfernt schossen auf einmal zwei Hände vor und rissen ihn ruckartig in einen Nebengang. Thomas hüpfte das Herz in die Kehle, wild um sich schlagend versuchte er sich zu befreien. Er hörte erst damit auf, als er merkte, dass es Minho war.
»Was –?«
»Sei still und komm mit!«, schrie Minho, wobei er Thomas mit sich zerrte, bis der endlich wieder seine Füße in Bewegung setzte.
Ohne eine Sekunde nachzudenken, folgte Thomas ihm. Zusammen durchliefen sie lange Gänge und bogen um eine Kurve nach der anderen. Minho schien haargenau zu wissen, wo sie hinmussten; er legte nicht die kleinste Pause ein, um nachzudenken, in welche Richtung sie weiterrennen sollten.
Als sie um die nächste Ecke bogen, versuchte Minho zu sprechen. Während er nach Luft japste, stieß er keuchend aus: »Hab eben gesehen … das mit dem Wegducken … was du gemacht hast … Hab eine Idee … Wir müssen nur … noch ein bisschen … länger durchhalten.«
Thomas verschwendete das bisschen Luft, das ihm blieb, nicht mit Fragen; er lief einfach weiter und folgte Minho. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass die Griewer mit alarmierendem Tempo aufholten. Jeder Zentimeter seines Körpers brannte, innen und außen, und alle seine Glieder schrien nach einer Pause. Aber er rannte weiter und hoffte, dass sein Herz nicht aufhören würde zu pumpen.
Ein paar Ecken später sah Thomas in dem schwachen Licht, das von ihren Verfolgern her kam, etwas vor sich, das er nicht in seine Hirnwindungen bekam. Etwas … stimmte einfach nicht.
Der Gang endete nicht in einer weiteren Steinwand.
Er endete in Finsternis.
Beim Zurennen auf dieses schwarze Nichts verengte Thomas die Augen, um zu begreifen, was da vor ihnen lag. Die beiden efeubedeckten Wände zu seiner Linken und Rechten schienen in nichts als Himmel zu enden. Er konnte Sterne sehen. Als sie näher kamen, merkte er endlich, dass es eine Öffnung war – das Ende des Labyrinths.
Was?, fragte er sich. Wie kann es sein, dass sie jahrelang gesucht haben, und jetzt haben wir den Ausgang so einfach gefunden?
Minho schien seine Gedanken zu ahnen. »Freu dich nicht zu früh«, brachte er keuchend hervor.
Ein oder zwei Meter vor dem Ende des Gangs blieb Minho unvermittelt stehen und streckte den Arm vor Thomas aus, um ihn ebenfalls zu stoppen. Thomas verlangsamte sein Tempo und ging zu der Stelle, wo das Labyrinth sich zum Himmel hin öffnete. Die Geräusche der näher kommenden Griewer wurden immer lauter, aber er musste es sich einfach ansehen.
Tatsächlich, sie hatten den Ausgang aus dem Labyrinth gefunden! Aber wie Minho schon gesagt hatte: Zu übermäßiger Freude bestand kein Anlass. In alle Richtungen, nach oben und unten, zu beiden Seiten, war nichts als Luft und verblassende Sterne. Es war ein unglaublicher und beunruhigender Anblick, als stände er am Rand des Universums, und einen kurzen Moment wurde ihm ganz schwindlig und die Knie butterweich, bis er sich wieder fing.
Das erste Morgengrauen machte sich ganz schwach bemerkbar und der Himmel schien in der letzten Minute etwas heller geworden zu sein. Thomas konnte einfach nicht begreifen, dass das alles möglich sein sollte. Als hätte jemand das Labyrinth mitten in den Himmel gebaut, wo es für alle Ewigkeit im Nichts schwebte.
»Ich glaub es nicht«, flüsterte er, ohne zu wissen, ob Minho ihn hören konnte.
»Vorsicht«, erwiderte der Läufer. »Du wärst nicht der Erste, der die Klippe runterfällt.« Er fasste Thomas an der Schulter. »Schon vergessen?« Er nickte zurück in Richtung Gang.
Thomas erinnerte sich das Wort Klippe schon mal gehört zu haben, konnte es aber momentan nicht einordnen. Den riesigen, endlosen Himmel vor sich zu sehen hatte ihn in eine Art Trance versetzt, ihn praktisch hypnotisiert. Er schüttelte sich und versuchte zurück in die Realität zu kommen und sich den Griewern zu stellen. Sie waren jetzt nur noch etwa fünfzig Meter entfernt und kamen in einer Reihe hintereinander in vollem Tempo auf sie zu.
Alles war klar, noch bevor Minho erklärte, was sie zu tun hatten.
»Die Dinger sind vielleicht widerlich«, sagte Minho, »aber sie sind doof wie Klonk. Stell dich neben mich, ganz dicht, mit dem Gesicht zu –«
Thomas schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, was ich machen muss. Ich bin bereit.«
Sie drehten sich um, so dass sie wie eine geballte Faust zusammen vor der Abbruchkante in der Mitte des Gangs standen, und blickten den Griewern entgegen. Ihre Hacken waren nur ein paar Zentimeter vom Rand der Klippe und der leeren Luft hinter ihnen entfernt.
Außer Mut blieb ihnen nichts mehr.
»Gleichzeitig!«, schrie Minho, was in dem ohrenbetäubenden Lärm der Metallspikes auf dem Steinboden kaum noch zu hören war. »Auf mein Kommando!«
Warum die Griewer hintereinander anrollten, blieb unklar. Vielleicht war ihnen das Labyrinth zu eng und sie konnten sich nebeneinander nicht richtig bewegen. Einer nach dem anderen rollte den steinernen Gang entlang, klickende und stöhnende Killermaschinen. Aus fünfzig Metern waren drei oder vier geworden und es blieben nur noch Sekunden, bis die Bestien in die wartenden Jungen krachen würden.
»Auf die Plätze«, sagte Minho ruhig. »Noch nicht … noch nicht …«
Jede Millisekunde des Wartens war die reinste Folter für Thomas. Er wollte einfach nur die Augen zumachen und nie wieder einen Griewer sehen.
»Jetzt!«, schrie Minho.
Genau als der Arm des ersten Griewers sich nach ihnen ausstreckte, tauchten Minho und Thomas in entgegengesetzte Richtungen davon, beide auf die Wände des Gangs zu. Die Taktik hatte bei Thomas bereits einmal funktioniert, und dem schrecklichen Kreischen nach, das dem ersten Griewer entfuhr, funktionierte sie wieder. Das Ungeheuer flog über die Klippenkante ins Nichts. Merkwürdigerweise endete sein Kampfschrei ganz abrupt, statt allmählich zu verhallen, als es in die Tiefe stürzte.
Thomas knallte gegen die Mauer und fuhr in dem Augenblick herum, in dem die zweite Kreatur über die Kante taumelte, ohne stoppen zu können. Der dritte Griewer bohrte einen mit Spikes besetzten Arm ins Gestein, aber der Schwung war zu groß. Beim nervenzerfetzenden Quietschen der Metallsporen, die über den Steinboden schabten, lief es Thomas eiskalt den Rücken herunter, doch eine Sekunde später stürzte auch dieser Griewer ins Nichts. Wieder machte keiner von ihnen beim Fallen ein Geräusch – als ob sie plötzlich weg wären, statt in den Tod zu stürzen.
Die vierte und letzte ankommende Bestie konnte noch rechtzeitig anhalten und taumelte auf der Kante der Klippe, wo sie sich mit den Spikes und einem Greifarm festkrallte.
Instinktiv wusste Thomas, was er tun musste. Er blickte zu Minho hinüber und nickte. Beide Jungs rannten auf den Griewer zu und sprangen mit den Füßen voran auf das Horrorwesen und traten in der letzten Sekunde mit allem, was sie noch an Kraft besaßen, zu. Beide trafen und beförderten auch den letzten auf den Weg in den Tod.
Thomas kroch schnell bis an den Rand des Abgrunds und streckte seinen Kopf vor, um die fallenden Griewer zu sehen. Aber sie waren weg, obwohl das ganz unmöglich war – keinerlei Spuren von ihnen in der Leere, die sich unter ihm erstreckte. Nichts.
Er konnte einfach nicht verstehen, wo die Klippe hinführte oder was mit den schrecklichen Monstern passiert war. Sein letztes bisschen Kraft war weg und er krümmte sich auf dem Steinboden so klein wie möglich zusammen.
Und dann kamen endlich die Tränen.