Jemand schüttelte Thomas, bis er wach wurde. Er klappte die Augen auf und sah ein Gesicht, das aus nächster Nähe auf ihn herunterstarrte. Alles um ihn herum war noch in die Schatten vor Sonnenaufgang getaucht. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber eine kalte Hand drückte sich darauf. Panik überflutete ihn, bis er sah, wer es war.
»Psst, Frischling. Wir wollen doch Chucky nicht aufwecken, was?«
Es war Newt – der hier der stellvertretende Chef zu sein schien; er stank nach morgendlichem Mundgeruch.
Thomas war überrascht, aber sofort mit allem einverstanden. Er war einfach zu neugierig auf das, was der Junge mit ihm vorhatte. Thomas nickte und versuchte mit den Augen »Ja« zu sagen, bis Newt endlich die Hand wegnahm.
»Also los, Frischling«, flüsterte der große Junge. Er streckte Thomas die Hand hin und half ihm hoch – er war so stark, dass Thomas das Gefühl hatte, er könnte ihm den Arm abreißen. »Ich muss dir vorm Wecken noch was zeigen.«
Der letzte Rest Schlaftrunkenheit war schon längst aus Thomas’ Kopf verschwunden. »Okay«, sagte er. Er wusste, dass er ihm nicht so einfach folgen und eigentlich misstrauisch sein sollte, da er noch keinen Grund sah, irgendjemandem hier zu trauen. Aber die Neugierde siegte. Er schlüpfte schnell in seine Schuhe. »Wo gehen wir hin?«
»Komm einfach mit. Und bleib direkt hinter mir.«
Sie suchten sich einen Weg zwischen den dicht beieinanderliegenden schlafenden Gestalten hindurch, über die Thomas mehrmals fast gestolpert wäre. Er trat jemandem auf die Hand, was mit einem Schmerzensschrei und einem Fausthieb gegen seine Wade quittiert wurde.
»’tschuldigung«, flüsterte er, ohne Newts finsteren Blick zu beachten.
Sobald sie die Rasenfläche überquert hatten und auf den harten grauen Steinboden des Hofs traten, rannte Newt Richtung Westwand los. Erst zögerte Thomas und fragte sich, warum er wohl rennen sollte, aber dann folgte er ihm im gleichen Tempo.
Es war immer noch sehr düster, aber Hindernisse im Weg waren als noch dunklere Schatten zu erkennen und er kam schnell voran. Er blieb direkt neben Newt stehen, bei der riesigen Mauer, die wie ein Wolkenkratzer vor ihnen aufragte – wieder ein Bild, das im trüben Teich seines verlorenen Gedächtnisses schwamm. Thomas bemerkte hier und da kleine rote Lichter, die an der Mauer aufblitzten, sich bewegten und an- und ausgingen.
»Was sind das für Dinger?«, flüsterte er, so laut er es wagte. Er fragte sich, ob seine Stimme so zittrig klang, wie er sich fühlte. Das grellrote Aufblitzen der Lichter wirkte wie eine Warnung.
Newt stand ungefähr einen halben Meter vor dem dicken Efeuvorhang an der Wand. »Wirst es schon noch rausfinden, Frischling, keine Sorge.«
»Das ist ja wohl reichlich bescheuert, mich irgendwohin zu verfrachten, wo nichts einen Sinn ergibt, und dann meine Fragen nicht zu beantworten.« Thomas machte eine Pause und wunderte sich über sich selbst. »Strunk«, fügte er hinzu und sprach die Silbe so sarkastisch wie irgend möglich aus.
Newt fing an zu lachen, unterbrach sich aber schnell wieder. »Du gefällst mir, Frischling. Jetzt mal kurz Klappe, ich zeig dir was.«
Newt machte einen Schritt nach vorn, grub die Hände in den dicken Efeu und schob einige Ranken zur Seite. Ein staubbedecktes Fenster kam zum Vorschein, ein ungefähr fünfzig Zentimeter breites Viereck aus Glas. Momentan sah es so dunkel aus, als wäre es mit schwarzer Farbe gestrichen.
»Wonach halten wir denn Ausschau?«, flüsterte Thomas.
»Mach dir nicht ins Hemd, Kleiner. Einer wird bald vorbeikommen.«
Eine Minute verging und dann noch eine. Noch etliche. Thomas trat von einem Fuß auf den anderen und fragte sich, wie Newt so völlig gelassen und ruhig dastehen und ins schwarze Nichts starren konnte.
Auf einmal passierte etwas.
Ein unheimliches Licht schimmerte durchs Fenster; es ließ ein schwankendes Lichtspektrum über Newts Körper und Gesicht tanzen, als würde er neben einem von unten beleuchteten Swimmingpool stehen. Thomas machte keinen Mucks, kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen. Er hatte einen Kloß im Hals. Was ist das?, dachte er.
»Da draußen ist das Labyrinth«, flüsterte Newt, die Augen wie in Trance aufgerissen. »Alles, was wir tun – unser ganzes schönes Leben, Frischling –, dreht sich um dieses Labyrinth. Jede verfluchte Sekunde, jeden verfluchten Tag verbringen wir im Labyrinth und versuchen aus dem Ding rauszukommen, obwohl wir keinen Schimmer haben, ob es einen Ausgang gibt. Und wir wollen, dass du kapierst, warum man dem werten Labyrinth lieber nicht auf die Füße tritt, verstehst du? Wollen dir zeigen, warum die Wände da jeden Abend zugehen. Dir zeigen, warum du nie, nie auf die hirnrissige Idee kommen solltest, deinen Arsch da reinzubewegen.«
Newt trat zurück, die Efeuranken immer noch in der Hand. Er bedeutete Thomas an seinen Platz zu treten und zum Fenster hinauszusehen.
Das tat Thomas und lehnte sich vor, bis er mit der Nase gegen die kalte Glasscheibe stieß. Es dauerte einen Augenblick, bis seine Augen sich auf das eingestellt hatten, was sich da draußen bewegte, durch Staub und Dreck hindurchzublicken und das zu erkennen, was Newt ihm zeigen wollte. Und dann – blieb ihm die Luft weg, die sich auf einmal wie ein frostiger Wind anfühlte, der angefegt kam und die Luft in Eis verwandelte.
Ein großes, wulstiges Wesen von der Größe einer Kuh, aber ohne klar erkennbare Gestalt wälzte sich draußen durch den Gang. Das schleimige Ding kroch außen an der Wand hoch und warf sich mit einem dumpfen Schlag gegen die dicke Glasscheibe. Thomas konnte nicht anders: Er schrie laut auf und zuckte vom Fenster weg – aber das Ding prallte ab und die Scheibe blieb unbeschädigt.
Thomas atmete zweimal ganz tief durch und beugte sich wieder vor. Es war zu dunkel, um wirklich etwas erkennen zu können, aber Lichter blitzten aus einer unsichtbaren Lichtquelle auf, so dass silberne Spikes und schleimglänzendes Fleisch sichtbar wurden. Bösartig aussehende Fortsätze ragten wie Arme aus dem Rumpf: ein Sägeblatt, eine Schere, lange Stäbe, deren Zweck man nur erraten konnte.
Das Wesen war eine entsetzliche Mischung aus Tier und Maschine und schien zu wissen, dass es beobachtet wurde und was hinter den Mauern der Lichtung lag. Es schien hineinkommen und sich über Menschenfleisch hermachen zu wollen. Thomas spürte, wie eisiges Grauen in seiner Brust wuchs wie ein Tumor, so dass er kaum noch atmen konnte. Trotz Gedächtnisverlust war er sich sicher, dass er noch nie etwas so unglaublich Schreckliches gesehen hatte.
Er wich zurück und sein Mut, den er vor dem Einschlafen gespürt hatte, zerfloss wie Butter.
»Was ist das?«, fragte er ängstlich. Er spürte ein Zittern in seinem Bauch, als ob er nie wieder etwas essen könnte.
»Griewer nennen wir die«, antwortete Newt. »Eklige Schleimscheißer, was? Sei bloß froh, dass die Griewer nur nachts rauskommen. Freu dich über die Mauern.«
Thomas schluckte und fragte sich, ob er sich je dort hineinwagen könnte. Sein Wunsch, ein Läufer zu werden, hatte gerade einen herben Dämpfer erhalten. Aber er musste es tun. Aus irgendeinem Grund wusste er einfach, dass er es tun musste. Das Gefühl war seltsam, besonders nach dem, was er da gerade gesehen hatte.
Newt starrte geistesabwesend zum Fenster hinaus. »So, jetzt weißt du, was im Labyrinth lauert, mein Freund. Jetzt weißt du, dass wir keine Witze machen. Du bist auf die Lichtung geschickt worden, Frischling, und wir erwarten von dir, dass du überlebst und uns dabei hilfst, unsere Aufgabe hier zu erfüllen.«
»Und worin besteht die?«, fragte Thomas, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete.
Newt sah ihm direkt in die Augen. Die ersten Spuren des Morgengrauens waren da und Thomas erkannte jede Einzelheit in Newts Gesicht ganz deutlich, die glatte Haut, die gerunzelte Stirn.
»Den Ausgang zu finden, Frischling«, sagte Newt. »Wir müssen den Weg aus diesem verfluchten Labyrinth finden, damit wir zurück nach Hause können.«
Ein paar Stunden später, nachdem die Tore sich unter großem Rumpeln und Grollen, von dem die Erde bebte, wieder geöffnet hatten, saß Thomas an einem schiefen Picknicktisch vor dem Gehöft. Er konnte an nichts anderes als die Griewer denken, was ihr Sinn und Zweck sein mochte und was sie nachts dort draußen machten. Wie es wäre, von etwas so Fürchterlichem angegriffen zu werden.
Er versuchte das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben und an etwas Positives zu denken. Die Läufer, genau. Sie waren gerade ohne ein Wort des Abschieds losgerannt und in vollem Tempo im Labyrinth um die Ecke verschwunden. Während er mit der Gabel in seinem Rührei mit Schinken herumstocherte, dachte er an sie, sagte aber kein Wort, nicht mal zu Chuck, der verzweifelt versucht hatte ein Gespräch mit ihm anzufangen. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden.
Er kapierte das alles nicht; die Rädchen in seinem Hirn liefen heiß darüber, weil die ganze Situation einfach nicht zu begreifen war. Wie konnte ein Labyrinth mit derart dicken, hohen Mauern so groß sein, dass mehrere Dutzend Jungen seit wer weiß wie lang keinen Ausweg fanden? Wie konnte es so ein System geben? Und noch wichtiger: Warum? Was für einen Zweck konnte so ein Ding haben? Warum waren sie hier? Wie lange waren sie schon hier?
Sosehr er auch versuchte nicht daran zu denken, seine Gedanken wanderten immer wieder zurück zu dem teuflischen Griewer. Sobald Thomas blinzelte oder sich die Augen rieb, schien ihn dessen Phantombruder anzuspringen.
Thomas ahnte irgendwie, dass er halbwegs intelligent war – er spürte es in seinen Knochen. Trotzdem verstand er rein gar nichts. Nichts, außer einer Sache: Er war zum Läufer bestimmt. Warum war ihm das so klar? Sogar jetzt noch, da er wusste, was im Labyrinth hauste?
Als ihm jemand auf die Schulter tippte, zuckte er zusammen; er blickte auf und sah Alby mit verschränkten Armen hinter sich stehen.
»Hübsch ausgeschlafen?«, höhnte Alby. »Schöne Sicht heute Morgen zum Fenster raus?«
Thomas stand auf und hoffte, dass die Zeit für Antworten gekommen war – oder wenigstens Ablenkung von seinen düsteren Gedanken. »Jedenfalls habe ich genug gesehen, dass ich endlich über diesen Ort hier Bescheid wissen will«, sagte er, weil er Alby auf keinen Fall wieder zu einem Wutausbruch wie gestern Anlass geben wollte.
Alby nickte. »Du und ich, Kumpel. Die Tour geht los.« Er setzte sich in Bewegung, blieb aber noch mal stehen und hielt einen Finger hoch. »Keine Fragen bis zum Schluss, kapiert? Hab noch anderes zu tun.«
»Aber …« Thomas unterbrach sich, als er sah, wie Alby die Augenbrauen hochzog. Warum war der Typ nur so ein Idiot? »Aber erzähl mir alles – ich will alles wissen.« Er hatte letzte Nacht beschlossen, dass er niemandem verraten würde, wie seltsam bekannt ihm die Lichtung vorkam, das sonderbare Gefühl, dass er schon einmal hier gewesen war – dass er sich an gewisse Dinge erinnerte. Das zu verraten erschien ihm keine gute Idee.
»Du kriegst das zu hören, was ich dir sagen will, Neuer. Gehen wir.«
»Darf ich mitkommen?«, fragte Chuck am Tisch.
Alby fasste nach dem Ohr des Jungen und bog es ihm um.
»Autsch!«, schrie Chuck.
»Hast du keinen Job, du Schwachmat?«, fragte Alby. »Paar Latrinen putzen, zum Beispiel.«
Chuck verdrehte die Augen und sah Thomas an. »Viel Spaß dann.«
»Werd mir Mühe geben.« Chuck tat ihm auf einmal leid und er wünschte, die Leute wären netter zu dem Kleinen. Aber er konnte nichts dran ändern – er musste los.
Er ging mit Alby davon und hoffte, dass der Rundgang damit offiziell begann.