Normalerweise schliefen die meisten draußen. Jetzt war es reichlich eng, weil alle ins Gehöft gequetscht waren. Die Hüter hatten die Lichter mit Decken und Kissen auf die Zimmer verteilt. Trotz der vielen Jungen und des Chaos dieser Neuorganisation hing eine verstörende Stille über dem Gewusel, als wollte niemand Aufmerksamkeit erregen.

Als jeder seinen Platz gefunden hatte, saß Thomas mit Newt, Alby und Minho im oberen Stockwerk. Endlich hatten sie Zeit, ihr Gespräch fortzusetzen. Alby und Newt saßen auf dem einzigen Bett im Zimmer, Thomas und Minho daneben auf Stühlen. Ansonsten waren im Raum nur noch eine schiefe Holzkommode und ein kleiner Tisch, auf dem die Taschenlampe stand, die ihnen notdürftig ein bisschen Licht spendete. Die graue Dunkelheit schien sich von außen gegen die Fenster zu pressen und weiteres Unheil anzukündigen.

»Ich war noch nie so nah dran, alles hinzuschmeißen«, sagte Newt. »Alles hinzuschmeißen und dem nächsten Griewer ’nen Gutenachtkuss zu geben. Kein Nachschub mehr, der verfluchte graue Himmel, die Tore, die sich nicht schließen. Aber wir dürfen nicht aufgeben, das wissen wir alle. Die Drecksäcke, die uns hierher verfrachtet haben, wollen entweder, dass wir krepieren, oder sie wollen uns anspornen. Jedenfalls müssen wir uns den Arsch aufreißen, bis wir hopsgehen oder eben nicht.«

Thomas nickte, sagte aber nichts. Er war völlig seiner Meinung, hatte aber keine konkreten Ideen, was man machen könnte. Wenn er nur bis morgen durchhielt, würde ihm und Teresa vielleicht etwas Hilfreiches einfallen.

Thomas schaute hinüber zu Alby, der den Boden anstarrte und ebenfalls düsteren Gedanken nachzuhängen schien. Sein Gesicht hatte immer noch einen ausgelaugten, depressiven Ausdruck, seine Augen wirkten leer. Die Verwandlung wurde zu Recht so genannt, wenn man bedachte, was sie aus ihrem Anführer gemacht hatte.

»Alby?«, fragte Newt. »Willst du was dazu sagen?«

Alby schaute hoch, ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht, als hätte er gar nicht gewusst, dass noch jemand im Zimmer war. »Hm? Oh. Ja. Gut, das. Aber ihr habt gesehen, was nachts passiert. Nur weil unser verdammter Frischling es geschafft hat, heißt das nicht, dass wir Übrigen das auch können.«

Thomas sah zu Minho und verdrehte ein wenig die Augen – Albys Einstellung nervte ihn gewaltig.

Falls Minho das Gleiche dachte, ließ er es sich nicht anmerken. »Ich finde, Thomas und Newt haben Recht. Wir müssen mit dem Geflenne und Gejammer aufhören.« Er rieb sich die Hände und lehnte sich nach vorn. »Morgen früh könnt ihr als Erstes Mannschaften einteilen, um die Karten zu studieren, während die Läufer unterwegs sind. Wir packen uns alles Nötige ein, damit wir ein paar Tage draußen bleiben können.«

»Was?«, fragte Alby, dessen Stimme jetzt doch Anteilnahme erkennen ließ. »Was soll das heißen, Tage

»Na, was wohl: Tage. Wenn die Tore offen sind und es keinen Sonnenuntergang gibt, ist es sowieso sinnlos, abends zurückzukommen. Es wird Zeit, dass wir draußen bleiben und schauen, ob irgendwas aufgeht, wenn die Mauern sich bewegen. Falls sie sich noch bewegen.«

»Vergiss es«, sagte Alby. »Wir haben das Gehöft, in dem wir uns verstecken können. Und, wenn das nicht funktioniert, den Kartenraum und den Bau. Wir können doch von keinem verlangen da rauszugehen und zu krepieren, Minho! Verdammt, wer würde sich denn dafür freiwillig melden?«

»Ich«, sagte Minho. »Und Thomas.«

Alle sahen Thomas an. Er nickte nur. Auch wenn er eine Höllenangst hatte, wollte er das Labyrinth erkunden – genauestens erkunden –, und zwar seit dem Moment, in dem er davon erfahren hatte.

»Ich mache auch mit, wenn’s sein muss«, sagte Newt. Thomas war überrascht. Auch wenn er nie darüber sprach, war das Humpeln des älteren Jungen eine ständige Erinnerung daran, dass ihm draußen im Labyrinth etwas Schreckliches passiert war. »Und ich bin sicher, die anderen Läufer sind auch dabei.«

»Mit deinem Hinkebein?«, fragte Alby mit einem rauen Lachen.

Newt runzelte die Stirn und schaute auf den Boden. »Na ja, ich will von den Lichtern nichts verlangen, was ich nicht selbst machen würde.«

Alby rutschte auf dem Bett nach hinten und legte die Füße hoch. »Von mir aus. Mach, was du willst.«

»Machen, was ich will?«, fragte Newt und stand auf. »Was ist bloß mit dir los, Mann? Willst du behaupten, wir hätten eine Wahl? Sollen wir uns hier den Hintern platt sitzen und warten, bis die Griewer uns das Licht ausblasen?«

Thomas wollte aufstehen und applaudieren. Er war sicher, dass Alby sich jetzt endlich am Riemen reißen würde.

Aber ihr Anführer wirkte kein bisschen reumütig. »Na ja, immer noch besser, als ihnen direkt in die Arme zu rennen.«

Newt setzte sich wieder hin. »Alby, du musst endlich zur Vernunft kommen.«

Auch wenn er es ungern zugab, wusste Thomas, dass sie Alby brauchten, wenn sie etwas erreichen wollten. Die anderen Lichter schauten zu ihm auf.

Alby atmete tief ein, dann blickte er einen nach dem anderen an. »Ihr wisst, dass ich total durch den Wind bin. Ehrlich, es … tut mir leid. Ich sollte hier nicht mehr den Anführer markieren.«

Thomas hielt die Luft an. Er konnte nicht fassen, was Alby gerade gesagt hatte.

»Oh, verdammte –«, fiel Newt ein.

»Nein!«, rief Alby. Er machte einen durch und durch niedergeschlagenen Eindruck. »So war das nicht gemeint. Hört mir zu. Ich will nicht sagen, dass wir tauschen sollen oder so ’n Klonk. Ich will nur sagen … Ich brauche euch, um Entscheidungen zu treffen. Ich traue mir selbst nicht mehr über den Weg. Also … ich mache, was ihr wollt.«

Thomas merkte, dass Minho und Newt genauso überrascht waren wie er.

»Äh … okay«, sagte Newt langsam und etwas unsicher. »Wir kriegen das hin, versprochen. Du wirst schon sehen.«

»Ja«, murmelte Alby. Nach einer langen Pause setzte er wieder an, mit einer merkwürdigen Erregung in der Stimme. »Hey, ich sag euch was: Überlasst mir die Karten. Ich bring die anderen Lichter dazu, die Dinger bis zum Erbrechen zu studieren.«

»Klingt gut«, sagte Minho. Thomas wollte ihm zustimmen, wusste aber nicht, ob ihm das zustand.

Alby setzte sich aufrechter hin. »Wisst ihr, es war wirklich blöd von uns, heute Nacht hier drin zu schlafen. Wir könnten im Kartenraum sein und arbeiten.«

Thomas fand, das war das Klügste, was er seit langem von Alby gehört hatte.

Minho zuckte mit den Schultern. »Könnte sein.«

»Also … Ich geh rüber«, sagte Alby mit einem selbstbewussten Nicken. »Jetzt gleich.«

Newt schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Alby. Ich hab draußen schon die verfluchten Griewer stöhnen gehört. Wir können bis zum Wecken warten.«

Alby lehnte sich vor, die Ellbogen auf den Knien. »Ihr seid doch diejenigen, die hier ständig rumlabern, dass was passieren muss! Jetzt fangt nicht an zu jammern, nur weil ich tatsächlich auf euch höre. Wenn ich das wirklich machen soll, muss ich ran, dann bin ich auch bald wieder der Alte. Ich brauch was, wo ich mich reinhängen kann.«

Thomas war erleichtert. Der ganze Hickhack ging ihm auf die Nerven.

Alby stand auf. »Ehrlich. Ich brauch das.« Er ging zur Zimmertür, als wollte er tatsächlich nach draußen.

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Newt. »Du kannst jetzt nicht da rausgehen!«

»Ich gehe und basta.« Alby nahm seinen Schlüssel aus der Tasche und schüttelte ihn schadenfroh – Thomas konnte seinen plötzlichen Mut kaum fassen. »Wir sehen uns morgen früh, ihr Neppdeppen.«

Und damit ging er raus.

Es war merkwürdig zu wissen, dass die Nacht voranschritt und die Welt um sie herum eigentlich im Dunkeln hätte verschwinden müssen. Thomas wurde von dem blassgrauen Licht ziemlich aus der Bahn geworfen, als wäre sein von Minute zu Minute zunehmendes Schlafbedürfnis irgendwie unnatürlich. Die Zeit verlangsamte sich zu einem unerträglichen Schneckentempo und er hatte das Gefühl, der nächste Tag würde nie kommen.

Die anderen Lichter kamen langsam zur Ruhe und bereiteten sich mit ihren Kissen und Decken auf den fast unmöglichen Schlaf vor. Es wurde kaum geredet, die Stimmung war düster. Außer leisem Geraschel und Geflüster war nichts zu hören.

Thomas gab sich die größte Mühe einzuschlafen. Er wusste, dass die Zeit dann schneller rumging, aber nach zwei Stunden war er immer noch wach. Er lag auf dem Boden in einem der Zimmer im oberen Stockwerk, auf einer dicken Decke, fast Schulter an Schulter mit mehreren anderen Jungen. Das Bett hatte Newt bekommen.

Chuck war in einem anderen Zimmer gelandet und Thomas stellte ihn sich aus irgendeinem Grund zusammengekauert und heulend in einer Ecke vor, seine Decke wie einen Teddybären an sich gepresst. Der Gedanke erfüllte Thomas mit einer tiefen Traurigkeit, die sich nicht vertreiben ließ.

Fast jeder hatte für den Notfall eine Taschenlampe neben sich liegen. Ansonsten hatte Newt angeordnet, dass alle Lampen gelöscht wurden – wozu unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken? Alles, was man so kurzfristig zum Schutz vor einem Griewerangriff unternehmen konnte, war getan: die Fenster verbarrikadiert, Möbel vor die Türen geschoben, Messer als Waffen verteilt …

Trotzdem fühlte Thomas sich nicht sicher.

Der Gedanke an das, was ihnen bevorstand, war wie eine erstickende Wolke aus Entsetzen und Angst, die ein Eigenleben entwickelte. Er wünschte sich fast, die elenden Viecher würden endlich kommen, damit er es hinter sich bringen konnte.

Das entfernte Jaulen der Griewer kam näher, während die Nacht voranschritt. Jede Minute schien länger zu dauern als die davor.

Eine weitere Stunde verging. Dann noch eine. Endlich kam der Schlaf, allerdings immer nur erbärmlich kurz. Thomas schätzte, dass es zwei Uhr morgens war, als er sich zum millionsten Mal in dieser Nacht vom Rücken auf den Bauch drehte. Er schob die Hände unters Kinn und starrte den Bettpfosten an, der im schummrigen Licht fast wie ein Schatten wirkte.

Dann wurde alles anders.

Von draußen ertönte ein mechanisches Maschinengrollen und dann das metallene Rasseln eines Griewers auf dem steinigen Boden, als hätte jemand eine Handvoll Nägel verstreut. Thomas sprang auf, genau wie die meisten anderen.

Newt war vor allen anderen wach geworden, wedelte mit den Armen und brachte mit einem Finger an den Lippen alle zum Schweigen. Auf Zehenspitzen ging er zum einzigen Fenster im Zimmer, das mit drei hastig festgenagelten Brettern verbarrikadiert war. Große Ritzen dazwischen boten reichlich Platz zum Rausschauen. Vorsichtig lehnte sich Newt vor, um nachzusehen. Thomas schlich zu ihm und spähte auch hinaus.

Er hockte sich unter Newt und presste ein Auge an einen Spalt über dem untersten Brett. Es war beängstigend, so nah an der Wand zu sein. Aber er sah nur den offenen Hof. Man konnte nicht nach oben oder unten oder zur Seite schauen. Nur geradeaus. Nach einer Minute gab er auf, drehte sich um und ließ sich an der Wand zu Boden gleiten. Newt ging zum Bett und setzte sich wieder hin.

Ein paar Minuten vergingen, Griewergeräusche drangen alle zehn oder zwanzig Sekunden durch die Wände. Das Aufheulen kleiner Motoren, gefolgt von schleifenden, metallischen Drehgeräuschen. Das Schaben der Spikes auf dem harten Stein. Etwas schnappte zu, öffnete sich und schnappte wieder zu. Thomas zuckte bei jedem Geräusch zusammen.

Es klang, als wären drei oder vier von ihnen da draußen. Mindestens.

Er hörte die perversen Tier-Maschinen näher kommen, irrsinnig nah. Sie warteten unten auf dem Boden. Motorengeheul und metallisches Klappern.

Thomas’ Mund wurde trocken. Er hatte direkt vor ihnen gestanden – er erinnerte sich nur zu gut an die Monster. Er musste sich selbst ermahnen weiterzuatmen. Keiner im Raum gab einen Mucks von sich. Angst hing in der Luft wie ein schwarzer Vorhang.

Es klang, als würde sich einer der Griewer auf das Haus zubewegen. Dann verwandelte sich das Klacken seiner Spikes auf dem Stein plötzlich in ein tieferes, dumpfes Geräusch. Thomas konnte es fast vor sich sehen: wie die Metallspikes sich in die hölzernen Seiten des Gehöftes gruben, der massige Körper vorwärtsrollte, zu ihrem Zimmer nach oben kroch, ohne dass die Schwerkraft ein Hindernis darstellte. Thomas hörte, wie die Spikes der Griewer die Holzverschalung zerfetzten, sich hineingruben, herunterkrachten, durch die Luft wirbelten und dann wieder neuen Halt suchten. Das ganze Gebäude bebte.

Außer dem Knirschen, Ächzen und Zerbersten des Holzes hörte Thomas nichts mehr. Das blanke Entsetzen. Die Griewer wurden lauter, kamen näher – die anderen Jungs drängten sich an der Rückwand des Zimmers zusammen, so weit vom Fenster entfernt wie möglich. Thomas folgte ihnen, Newt direkt an seiner Seite. Alle quetschten sich an die Wand und starrten das Fenster an.

Als es unerträglich wurde – gerade als der Griewer direkt vor dem Fenster war –, wurde es auf einmal ganz still. Thomas konnte fast seinen eigenen Herzschlag hören.

Draußen flackerten Lichtkegel und warfen vereinzelte Strahlen durch die Ritzen zwischen den Holzbrettern. Dann schob sich ein schmaler Schatten vor das Licht und bewegte sich hin und her. Thomas war klar, dass der Griewer gerade seine Fühler und Waffen ausfuhr, auf der Suche nach fetter Beute. Er stellte sich vor, wie die Käferklingen ihnen draußen den richtigen Weg zeigten. Ein paar Sekunden später hielt der Schatten inne. Drei bewegungslose, helle Strahlen fielen in den Raum.

Es lag eine Spannung in der Luft, die man mit dem Messer hätte schneiden können. Thomas konnte niemanden mehr atmen hören. Dasselbe musste sich in allen Räumen des Gehöfts abspielen. Dann dachte er an Teresa im Bau.

Er wünschte sich, dass sie mit ihm sprechen würde, als plötzlich die Tür zum Flur aufsprang. Alle zuckten zusammen – sie hatten erwartet, dass etwas vom Fenster her kommen würde, nicht von hinten. Thomas drehte sich um, damit er sehen konnte, wer die Tür geöffnet hatte. Er rechnete mit dem verängstigten Chuck oder Alby, der es sich noch einmal anders überlegt hatte. Aber als er sah, wer da stand, hatte er das Gefühl, dass sein Schädel sich zusammenzog und ihm vor Entsetzen das Gehirn zerquetschte.

Es war Gally.