Thomas lehnte sich an den Baum und wartete auf Chuck. Er ließ den Blick über die Lichtung schweifen: An diesem albtraumhaften Ort schien er jetzt leben zu müssen. Die Schatten der Wände waren wesentlich länger geworden und krochen an den gigantischen, efeubedeckten Steinmauern gegenüber empor.

Das ermöglichte Thomas zumindest die Himmelsrichtungen zu bestimmen: Das Holzhaus lehnte sich in die Nordwestecke, wo es bereits in tiefem Schatten stand, das Wäldchen war im Südwesten. Der Bauernhof, auf dem immer noch ein paar Jungs die Felder bearbeiteten, nahm das gesamte nordöstliche Viertel der Lichtung ein. Die muhenden und krähenden und meckernden Tiere waren in der Südostecke untergebracht.

Exakt in der Mitte der Lichtung stand immer noch das klaffende Loch der Box offen, als lüde es ihn ein hineinzuspringen und zurück nach Hause zu fahren. Ganz in der Nähe, vielleicht sechs Meter entfernt, stand ein niedriges Gebäude aus rohen Zementblöcken, an dem es nur eine abweisend wirkende Eisentür, aber keine Fenster gab. An der Tür war etwas, das wie ein rundes Steuerrad aus Metall aussah, mit dem die Tür offensichtlich geöffnet wurde, wie bei einem U-Boot. Trotz allem, was er gerade erlebt hatte, wusste Thomas nicht, was stärker war – die Neugier, herauszufinden, was da drin war, oder die Furcht, es zu erfahren.

Thomas hatte den Blick gerade auf die vier großen Öffnungen in den Wänden gerichtet, als Chuck zurückkam, zwei belegte Brote und Äpfel unterm Arm und zwei Metallbecher mit Wasser in der Hand. Thomas war überrascht, wie erleichtert er sich fühlte – er war doch nicht ganz allein hier.

»Bratpfanne war nicht gerade begeistert, dass ich vor dem Abendessen die Küche gestürmt habe«, sagte Chuck, während er sich unter den Baum setzte und Thomas aufforderte es ihm gleichzutun. Thomas nahm sich eins der Brote, zögerte aber, als ihm der Anblick des sich fürchterlich windenden Jungen wieder vor Augen trat. Doch der Hunger siegte und er nahm einen Riesenbissen. Der herrliche Geschmack nach Schinken und Käse und Butter füllte seinen Mund.

»Oh, Mann«, murmelte Thomas mit vollem Mund. »Ich war am Verhungern.«

»Ich hab’s doch gewusst.« Chuck vertilgte sein Butterbrot ebenfalls rasend schnell.

Nach ein paar weiteren Bissen stellte Thomas die Frage, die ihn die ganze Zeit über beschäftigte. »Was ist eigentlich los mit diesem Ben? Der sieht ja kaum noch menschlich aus.«

Chuck warf einen Blick in Richtung Bruchbude. »Keine Ahnung«, brummte er. »Ich habe ihn ja nicht gesehen.«

Thomas merkte, dass das gelogen war, beschloss aber ihn nicht weiter zu bedrängen. »Du willst ihn auch nicht sehen, das kannst du mir glauben.« Er kaute auf seinem Apfel herum, während er die riesig hohen Lücken in den Wänden betrachtete. Er konnte es zwar nicht richtig erkennen, aber irgendetwas war seltsam an den Kanten der Ausgänge zu den Gängen draußen. An den ewig hohen Wänden hinaufzublicken erzeugte ein unangenehmes Schwindelgefühl, als ob er von oben auf sie hinunterschaute, statt unten an ihrem Fuß zu sitzen.

»Was ist da draußen?«, durchbrach er schließlich das Schweigen. »Ist das hier ein Teil von einer Riesenburg oder so was?«

Chuck wirkte betreten und zögerte. »Äh … ich habe die Lichtung noch nie verlassen.«

Thomas wartete. »Du verschweigst mir doch was«, erwiderte er schließlich, aß den letzten Bissen und nahm einen großen Schluck Wasser. Dass ihm niemand Antworten gab, ging ihm langsam fürchterlich auf die Nerven. Noch schlimmer war die Vorstellung, dass er nicht wusste, ob die Antworten, die er bekam, stimmten. »Warum macht ihr so eine Geheimniskrämerei um alles?«

»So ist das halt bei uns. Es läuft ziemlich merkwürdig hier und die meisten von uns wissen nicht alles. Oder auch nur ansatzweise alles.«

Thomas fand es seltsam, weil Chuck sich gar nicht daran zu stören schien. Es machte ihm nichts aus, dass ihm jemand sein Leben geklaut hatte. Was war bloß mit den Leuten hier los? Er stand auf und ging zu der Öffnung im Osten. »Niemand hat gesagt, ich dürfte mich nicht umgucken.« Er musste irgendetwas herausfinden, sonst drehte er noch durch.

»Ey – warte!«, schrie Chuck und rannte ihm hinterher. »Du musst vorsichtig sein, die Dinger gehen jeden Augenblick zu.« Er klang schon nach ein paar Schritten ziemlich außer Atem.

»Wie, zu?«, fragte Thomas. »Wovon redest du?«

»Die Tore, du Strunk!«

»Tore? Ich sehe keine Tore.« Thomas wusste, dass Chuck sich das nicht einfach ausdachte – er selbst schien irgendetwas Offensichtliches nicht zu bemerken. Ihm wurde mulmig zu Mute und er verlangsamte seinen Schritt, weil er auf einmal nicht mehr so erpicht darauf war, zur Mauer zu kommen.

»Und wie bitte schön nennst du die großen Löcher da?« Chuck zeigte hoch zu den unendlich hohen Zwischenräumen in den Wänden, die jetzt noch zehn Meter vor ihnen aufragten.

»Das sind große Löcher«, sagte Thomas, der seine Beklemmung durch beißende Ironie zu verbergen versuchte.

»Tja, das sind aber Tore. Und sie schließen sich jeden Abend.«

Thomas blieb stehen, weil er glaubte, dass er sich verhört hatte. Er blickte nach oben, nach rechts und links und untersuchte die massigen Steinquader, während das beklemmende Gefühl sich zu echter Angst auswuchs. »Was meinst du mit: Sie schließen sich?«

»Wirst du ja gleich selbst sehen. Die Läufer sind bald wieder da. Dann bewegen sich die Mauern, bis die Zwischenräume zu sind.«

»Du hast sie doch nicht mehr alle«, knurrte Thomas. Solche Mammutmauern konnten sich unmöglich bewegen – da war er sich so absolut sicher, dass er sich entspannte, weil er glaubte, dass Chuck ihn nur auf den Arm nehmen wollte.

Sie gelangten an die Öffnung, die auf steinerne Gänge hinausführte. Thomas musste schlucken, als er hinausblickte.

»Das hier ist das Osttor«, sagte Chuck stolz.

»Ach«, sagte Thomas und hörte kaum hin, weil er nicht fassen konnte, wie viel riesiger alles von nahem wirkte. Die Öffnung in der Mauer war mindestens sechs Meter breit und ging bis ganz nach oben. Die Kanten waren glatt, mit Ausnahme eines Musters, das sich auf beiden Seiten wiederholte. Auf der linken Seite des Osttors waren alle dreißig Zentimeter tiefe Löcher von mehreren Zentimetern Durchmesser in das Gestein gebohrt, angefangen am Boden bis nach oben.

Auf der rechten Seite der Türöffnung ragten dreißig Zentimeter lange und zehn Zentimeter dicke Stangen aus der Mauerkante, im selben Abstand wie die Löcher auf der anderen Seite. Ihr Sinn und Zweck war offensichtlich.

»Das ist kein Witz?«, fragte Thomas, wobei sich ihm der Magen umdrehte. »Du willst mich nicht verarschen? Die Mauern bewegen sich wirklich?«

»Na, was sollen sie denn sonst tun?«

Thomas bekam diese Vorstellung einfach nicht in seine Hirnwindungen. »Ich weiß nicht. Ich dachte, vielleicht gibt es eine Tür, die zufällt, oder eine kleinere Mauer, die aus der größeren herausfährt. Wie können sich diese Mauern bewegen? Sie sind riesig und sehen aus, als würden sie seit tausend Jahren so dastehen.« Und die Vorstellung, dass diese Wände sich schließen und ihn hier auf diesem Gefängnishof einschließen könnten, war zutiefst beängstigend.

Frustriert zuckte Chuck mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Sie bewegen sich halt. Macht einen Riesenradau. Draußen im Labyrinth passiert dasselbe – die Mauern verschieben sich da auch jede Nacht.«

Bei diesem neuen Detail wachte Thomas plötzlich auf. »Was hast du gerade gesagt?«

»Häh?«

»Du hast gerade von einem Labyrinth geredet – du hast gesagt: Draußen im Labyrinth passiert dasselbe.«

Chuck lief rot an. »Du gehst mir auf den Geist. Und zwar gewaltig.« Er ging zurück zum Baum, unter dem sie gesessen hatten.

Thomas beachtete ihn nicht, weil ihn das, was außerhalb der Lichtung war, magisch anzog. Ein Labyrinth? Vor ihm, jenseits des Osttors, sah er Gänge, von denen einer nach links führte, einer nach rechts und einer geradeaus. Die Wände sahen dort draußen ähnlich wie auf der Lichtung aus, der Boden bestand aus denselben Steinquadern. Der Efeu schien dort draußen noch dichter zu sein. Weiter weg sah man weitere Öffnungen in den Wänden, die auf andere Pfade führten; der Gang geradeaus endete ganz weit hinten, sicher hundert Meter entfernt.

»Sieht wirklich aus wie ein Labyrinth«, flüsterte Thomas und hätte beinahe laut gelacht. Als wäre die Lage nicht auch so schon seltsam genug. Sein Gedächtnis war gelöscht und er in ein riesiges Labyrinth verfrachtet worden. Es war alles derart verrückt, dass es fast komisch war.

Das Herz blieb ihm kurz stehen, als auf einmal ein Junge rechts vor ihm um die Ecke bog und im Hauptgang auf ihn und die Lichtung zugerannt kam. Der Junge war völlig nass geschwitzt, sein Gesicht knallrot, die Kleider klebten ihm am Leib, aber er verlangsamte seinen Schritt nicht und würdigte Thomas im Vorbeirennen kaum eines Blickes. Er rannte geradewegs auf das flache Betongebäude zu, das in der Nähe der Box stand.

Thomas folgte dem erschöpften Dauerläufer mit den Augen und fragte sich, warum es ihn eigentlich so überraschte, dass jemand hinaus ins Labyrinth ging. Es war doch nur logisch, dort nach einem Ausgang zu suchen. Dann bemerkte er, dass auch zu den anderen drei Öffnungen Jungen hereingerannt kamen, die genauso erschöpft aussahen wie der erste, der an ihm vorbeigesaust war. Es versprach nichts Gutes, wenn die Jungen derart fertig aus dem Labyrinth zurückkamen.

Neugierig sah er zu, wie die Jungen sich vor der dicken Eisentür des kleinen Gebäudes trafen; einer drehte ächzend an dem rostigen Rad. Chuck hatte vorhin irgendwas über Läufer gesagt. Was hatten sie da draußen gemacht?

Die schwere Tür ging mit einem ohrenbetäubenden Quietschen von Metall auf Metall auf. Die Läufer verschwanden dahinter und zogen die Tür mit einem lauten Knall zu. Thomas’ graue Zellen ratterten wie verrückt, um irgendwie zu begreifen, was er da gerade erlebt hatte. Ihm fiel nichts ein, aber irgendetwas an dem unheimlichen alten Bunker verursachte ihm Gänsehaut.

Jemand zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus seinen Gedanken: Chuck war wieder da.

Thomas hatte tausend Fragen: »Wer ist das und was haben sie gemacht? Was ist in dem Haus da?« Er drehte sich um und zeigte zum Osttor hinaus: »Und warum wohnt ihr in einem gottverdammten Labyrinth?« Es schien, als würde ihm von den vielen Fragen fast der Kopf platzen.

»Ich sag kein Wort mehr«, gab Chuck mit neuer Selbstsicherheit zurück. »Ich finde, du solltest besser bald ins Bett gehen – du brauchst deinen Schlaf. Ah –« Er unterbrach sich, hielt einen Finger hoch und spitzte die Ohren. »– jetzt kommt’s gleich.«

»Was?«, fragte Thomas und wunderte sich, weil Chuck sich auf einmal wie ein Erwachsener benahm und nicht mehr wie ein kleines Kind, das verzweifelt nach einem Freund suchte.

Durch die Luft hallte ein lauter Knall, der Thomas zusammenfahren ließ. Dann folgte ein grässlich knirschendes, malmendes Geräusch. Thomas taumelte zurück und fiel zu Boden. Die ganze Erde bebte; voller Panik sah er um sich. Die Wände schlossen sich wirklich – und schlossen ihn auf der Lichtung ein. Eine fürchterliche Platzangst lähmte ihn und drückte seine Lunge zusammen, als wäre er unter Wasser.

»Beruhig dich, Frischling«, überschrie Chuck den Lärm. »Es sind nur die Wände!«

Thomas hörte ihn nicht, weil er sich ganz und gar auf das Schließen der Tore konzentrierte. Zitternd richtete er sich wieder auf und trat ein paar Schritte zurück, damit er besser sehen konnte, was seine Augen sich zu glauben weigerten.

Die gigantische Steinmauer zu seiner Rechten schien jedes physikalische Gesetz außer Kraft zu setzen, glitt über den Boden und wirbelte Funken und Staub auf, als Stein an Stein rieb. Das mahlende Geräusch ging ihm durch und durch. Wie Thomas sah, bewegte sich nur diese Mauer auf die andere linker Hand zu, wo sie sich mit ihren herausragenden Zapfen in die Löcher auf der anderen Seite bohrte. Er sah sich nach den andren Toren um. Es war ein Gefühl, als würde sein Kopf sich schneller als sein Körper bewegen, und der Magen drehte sich ihm vor lauter Schwindel um. Auf allen vier Seiten der Lichtung bewegten sich nur die rechten Seiten der Mauern nach links und verschlossen die Öffnungen.

Unmöglich, dachte er. Wie kann es so etwas geben? Er kämpfte den Drang nieder, hinauszurennen, sich an den zurumpelnden Mauerungetümen vorbeizuschlängeln, bevor sie geschlossen waren, und aus der Lichtung zu fliehen. Die Vernunft siegte – im Labyrinth kannte er sich noch weniger aus als mit der Situation hier.

Er versuchte zu begreifen, wie es funktionierte. Ungeheuer dicke Steinmauern, über hundert Meter hoch, die sich wie gläserne Schiebetüren bewegten – ein Bild aus seinem früheren Leben blitzte auf. Er versuchte die Erinnerung festzuhalten, das Bild mit Gesichtern, Namen, einem Ort zu ergänzen, aber schon war alles wieder dunkel. Traurigkeit erfasste ihn.

Er sah zu, wie die rechte Wand ihr Ziel erreichte, die Bolzen ihre Öffnung fanden und ohne jeden Widerstand hineinglitten. Ein lauter Knall hallte über die Lichtung, als alle vier Tore für die Nacht verschlossen waren. Thomas spürte einen letzten Augenblick der Erschütterung, dann war die Furcht wie weggeblasen.

Er atmete erleichtert auf. »Wow«, sagte er, ein gigantisches Understatement.

»Kinderspiel, wie Alby sagen würde«, murmelte Chuck. »Man gewöhnt sich irgendwie dran.«

Thomas sah sich noch einmal um. Die Lichtung hatte jetzt, wo alle Wände verschlossen waren und es keinen Ausweg mehr gab, eine ganz andere Atmosphäre. Er versuchte sich vorzustellen, was wohl der Sinn und Zweck des Ganzen sein mochte. Was war schlimmer: dass sie eingeschlossen wurden oder vor etwas da draußen geschützt werden mussten? Dieser Gedanke machte dem kurzen Augenblick des Friedens ein Ende und er stellte sich Millionen von grässlichen Möglichkeiten vor, die da draußen im Labyrinth sein konnten.

»Na komm«, sagte Chuck und zog Thomas wieder am Ärmel. »Glaub’s mir, wenn es Nacht wird, dann ist es besser, man liegt im Bett.«

Thomas wusste, dass ihm nichts anderes übrigblieb. Er versuchte seine Gefühle zu unterdrücken und folgte Chuck.