Thomas war fassungslos. Von jetzt an würde alles anders werden. Keine Sonne, keine Vorräte, kein Schutz vor den Griewern. Teresa hatte von der ersten Minute an Recht gehabt – es hatte sich tatsächlich alles verändert. Thomas glaubte zu ersticken, als wäre der Atem in seiner Kehle zu Beton geworden.
Alby zeigte auf das Mädchen. »Ich will, dass sie eingesperrt wird. Auf der Stelle. Billy! Jackson! Steckt sie in den Bau und hört nicht auf das, was aus ihrem Neppmund kommt.«
Teresa zeigte keine Reaktion, aber Thomas regte sich für beide auf. »Was soll das? Alby, das kannst du nicht –« Es verschlug ihm die Sprache, als Alby ihn mit einem so zornigen Blick anfunkelte, dass sein Herz einen Aussetzer machte. »Aber … wie kannst du denn bloß ihr die Schuld dafür geben, dass die Tore nicht zugehen?«
Newt trat vor, legte Alby leicht die Hand an die Brust und schob ihn ein wenig zurück. »Das ist doch nur logisch, Tommy! Sie hat’s verdammt noch mal selbst zugegeben.«
Thomas drehte den Kopf zu Teresa um. Als er die Traurigkeit in ihren blauen Augen sah, war es, als hätte ihm jemand in die Brust gepackt und das Herz zusammengequetscht.
»Sei nur froh, dass du nicht mit reinmusst, Thomas«, sagte Alby und bedachte beide mit einem letzten zornigen Blick, bevor er davonstürmte. Thomas hatte sich noch nie so sehr gewünscht jemanden zu verprügeln.
Billy und Jackson traten vor, fassten Teresa an beiden Armen und wollten sie abführen.
Doch Newt hielt sie an, bevor sie im Wald verschwanden. »Bleibt die ganze Zeit bei ihr. Egal was passiert, niemand darf dieses Mädchen anrühren. Schwört mir das bei eurem Leben.«
Beide Wächter nickten und gingen dann mit Teresa in der Mitte davon. Es tat Thomas in der Seele weh, wie willig sie mitzugehen schien. Und er konnte nicht glauben, wie unglaublich traurig ihn die Sache machte – er wollte nicht aufhören mit ihr zu reden. Dabei habe ich sie doch gerade erst kennengelernt, dachte er. Ich kenne sie gar nicht richtig. Dabei wusste er ganz genau, dass das nicht stimmte. Er spürte jetzt bereits eine Nähe zu ihr, die er sich nur dadurch erklären konnte, dass sie sich schon vor dem Gedächtnisverlust und der Lichtung gekannt hatten.
Komm mich besuchen, sagte sie in seinem Kopf.
Er wusste nicht, wie er ihr antworten konnte. Aber er versuchte es trotzdem.
Mach ich. Wenigstens bist du im Bau in Sicherheit.
Sie gab keine Antwort.
Teresa?
Nichts.
Die nächste halbe Stunde war ein einziger Wahnsinn.
Seit Sonne und blauer Himmel am Morgen nicht aufgegangen waren, hatte es keine nennenswerte Lichtveränderung mehr gegeben, doch jetzt schien es, als legte sich eine Dunkelheit über die Lichtung. Newt und Alby riefen die Hüter zusammen und verteilten Aufgaben. Alle sollten ihre Gruppen innerhalb einer Stunde im Gehöft zusammentrommeln. Thomas fühlte sich wie ein Zuschauer und wusste nicht, was er tun sollte.
Die Baumeister – ohne ihren Hüter Gally, der immer noch verschwunden war – bekamen die Aufgabe, an allen offen stehenden Toren Barrikaden zu errichten. Sie gehorchten, auch wenn klar war, dass weder genug Zeit blieb noch ausreichend Material da war, um wirklich viel auszurichten. Es schien, als wollten die Hüter alle beschäftigen, um die zu befürchtende Panik hinauszuzögern. Thomas half den Baumeistern dabei, alle losen Gegenstände, die sie finden konnten, in den Öffnungen zum Labyrinth aufzuhäufen und notdürftig zusammenzunageln. Es sah scheußlich und albern aus und ängstigte ihn zu Tode – ausgeschlossen, dass man die Griewer damit aufhalten konnte.
Sämtliche Taschenlampen der Lichtung wurden eingesammelt und verteilt, so dass möglichst viele Jungs eine hatten. In dieser Nacht sollten alle im Gehöft schlafen und die Lampen ausgeschaltet lassen, außer in Notfällen. Bratpfanne hatte die Aufgabe, alle nicht verderblichen Lebensmittel aus der Küche zu holen und im Gehöft unterzubringen, falls sie nicht mehr rauskonnten – Thomas mochte sich gar nicht vorstellen, wie schlimm das werden könnte. Andere sammelten Materialien und Werkzeug zusammen; Thomas sah Minho Waffen aus dem Keller ins Gebäude schleppen. Alby hatte allen klargemacht, dass sie keine Risiken eingehen durften: Sie würden das Gehöft zu einer Festung ausbauen und diese, so gut es ging, verteidigen.
Thomas schlich sich irgendwann von den Baumeistern davon und half Minho dabei, Kisten voller Messer und mit Stacheldraht umwickelte Knüppel hochzuschleppen. Dann sagte Minho, er hätte einen Spezialauftrag von Newt und Thomas solle verschwinden, ohne blöde Fragen zu stellen.
Das verletzte Thomas, aber er ging. Es gab eine andere Sache, über die er unbedingt mit Newt sprechen wollte. Schließlich fand er ihn, beim Überqueren des Hofs hinüber zum Bluthaus.
»Newt!«, rief er und rannte ihm hinterher. »Ich muss dir was sagen!«
Newt blieb so unvermittelt stehen, dass Thomas ihn beinahe über den Haufen gerannt hätte. Der Ältere drehte sich mit einem genervten Gesichtsausdruck zu Thomas um.
»Mach’s kurz«, sagte Newt.
Das machte Thomas störrisch, weil er sowieso nicht wusste, wie er das, was er dachte, ausdrücken sollte.
»Du musst das Mädchen freilassen. Teresa.« Er wusste genau, dass sie ihnen helfen konnte und sich womöglich noch an wichtige Dinge erinnerte.
»Ach, das freut mich ja, dass ihr zwei euch so gut versteht.« Newt ging schon wieder weiter. »Verschwende meine Zeit nicht mit so einem Quatsch, Tommy.«
Thomas hielt ihn am Arm fest. »Jetzt hör mir doch zu! Da ist etwas – ich glaube, sie und ich sind hergeschickt worden, um die ganze Sache hier zu Ende zu bringen.«
»Allerdings – zu Ende zu bringen, indem die Griewer hier angewalzt kommen und uns alle plattmachen? Ich hab schon einen Haufen beknackter Pläne im Leben gehört, aber das ist mit Abstand der beschissenste.«
Thomas stöhnte, damit Newt verstand, dass er ebenfalls völlig frustriert war. »Nein, ich glaube nicht, dass das damit gemeint ist.«
Newt verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte unglaublich genervt. »Was laberst du da für einen Klonk, Frischling?«
Seit Thomas zum ersten Mal die Worte im Labyrinth an der Wand gelesen hatte – ABTEILUNG NACHEPIDEMISCHE GRUNDLAGENFORSCHUNG, SONDEREXPERIMENTE TODESZONE –, dachte er darüber nach. Wenn es irgendjemanden gab, der ihm glauben würde, dann war das Newt, das wusste er genau. »Ich glaube … ich glaube, dass wir hier sind, weil wir an irgendeinem komischen Experiment teilnehmen oder an einem Versuch oder irgend so was. Das Experiment muss irgendwie zum Abschluss kommen. Wir können nicht ewig hier leben – diejenigen, die uns hergeschickt haben, wollen es zu Ende bringen. So oder so.« Thomas war erleichtert, dass er es endlich losgeworden war.
Newt rieb sich die Augen. »Und das soll mich jetzt davon überzeugen, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen ist und ich das Mädchen freilassen soll? Weil sie gekommen ist und es jetzt auf einmal um alles oder nichts geht?«
»Nein, du verstehst mich falsch! Ich glaube nicht, dass sie irgendwas damit zu tun hat, dass wir hier sind. Sie ist auch nur eine Figur in diesem Spiel – sie ist hergeschickt worden, als unser letztes Werkzeug oder Hinweis oder was weiß ich, um uns zu helfen hier rauszukommen.« Thomas atmete ganz tief durch. »Und mich haben sie auch deswegen hergeschickt, davon bin ich überzeugt. Nur weil sie als Auslöser für das Ende gedient hat, ist sie noch lange nicht böse.«
Newt blickte in Richtung Bau. »Weißt du was: Im Augenblick geht mir das gerade am Arsch vorbei. Eine Nacht im Knast wird sie schon überleben – wenn überhaupt, dann ist sie da drin besser aufgehoben als wir anderen.«
Thomas nickte, weil er eine Kompromissmöglichkeit sah. »Dann lass es uns so machen: Heute Nacht müssen wir irgendwie überleben. Morgen, wenn wir einen ganzen Tag lang in Sicherheit sind, dann überlegen wir uns, was wir mit ihr machen. Was wir unternehmen.«
Newt schnaubte. »Und was soll morgen bitte schön anders sein, Tommy? Wir machen seit zwei Jahren nichts anderes, wie du weißt.«
Thomas hatte das überwältigende Gefühl, dass all diese Veränderungen ein Motor waren, ein Auslöser für das Endspiel. »Weil wir das Rätsel jetzt lösen müssen. Wir sind dazu gezwungen. Wir können nicht mehr Tag für Tag weiterleben und glauben, das Wichtigste wäre es, vor dem Schließen der Tore zurück auf der Lichtung und in Sicherheit zu sein.«
Newt stand eine Minute da und dachte nach, während auf allen Seiten um sie herum hektische Betriebsamkeit herrschte. »Wir müssen das Labyrinth genauer untersuchen. Draußen bleiben, während die Mauern sich bewegen.«
»Genau«, bekräftigte Thomas. »Das ist haargenau das, was ich meine. Vielleicht können wir ja die Öffnung zum Griewerloch verbarrikadieren oder in die Luft sprengen. Mehr Zeit rausschinden, um uns im Labyrinth genau umzusehen.«
»Alby ist derjenige, der das Mädchen nicht rauslassen will«, sagte Newt mit einer Kopfbewegung in Richtung Gehöft. »Der Kerl hat euch zwei Strünke mächtig aufm Kieker. Aber im Augenblick müssen wir einfach cool bleiben und irgendwie bis zum Wecken durchhalten.«
Thomas nickte. »Wir können sie bekämpfen.«
»Da hast du ja Erfahrung, was, du Herkules?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ohne jedes Lächeln ging Newt davon und schrie den Leuten zu, sie sollten sich beeilen und ins Gehöft kommen.
Thomas fand, das Gespräch war gar nicht so schlecht gelaufen – jedenfalls nicht schlechter, als er sich erhofft hatte. Er beschloss, schnell zu Teresa zu rennen und mit ihr zu sprechen, bevor es zu spät war. Er sprintete zum Bau hinter dem Gehöft, wobei er sah, wie immer mehr Lichter in die Bruchbude strömten, viele mit irgendwelchen Sachen im Arm.
Thomas kam vor der Gefängniszelle zum Stehen und atmete tief durch. »Teresa?«, fragte er schließlich zum Gitterfenster der düsteren Zelle hinein.
Ihr Gesicht schnellte auf der anderen Seite hoch, worüber er sich ziemlich erschreckte. Er stieß einen kleinen Japser aus, bevor er es verhindern konnte – er brauchte eine Sekunde, bis er sich wieder gefasst hatte. »Du bist manchmal echt gruselig, wusstest du das schon?«
»Sehr nett«, sagte sie sarkastisch. »Danke für die Blumen.« Im Dunkeln sah es aus, als ob ihre blauen Augen leuchten würden wie die einer Katze.
»Bitte schön«, sagte er, ohne auf ihre Ironie einzugehen. »Hör zu, ich hab nachgedacht.« Er versuchte seine Gedanken zu sammeln.
»Was man von diesem Alby-Knilch ja nicht gerade behaupten kann«, brummte sie.
Der Meinung war Thomas allerdings auch, er musste aber das loswerden, weswegen er gekommen war. »Es muss einen Ausweg aus diesem Labyrinth geben – wir müssen uns nur mehr anstrengen und länger da draußen bleiben, dann finden wir ihn auch. Und das, was du da auf deinen Arm geschrieben hast und was du über den Code gesagt hast, das muss doch auch alles eine Rolle spielen, oder?« Es muss einfach, dachte er. Er verspürte einen kleinen Hoffnungsschimmer.
»Ja, davon bin ich auch überzeugt. Aber kannst du mich zuerst mal hier rauslassen?« Ihre Hände tauchten auf und umklammerten die Gitterstäbe am Fenster. Thomas verspürte den lächerlichen Drang, diese Hände zu berühren.
»Na ja, Newt hat gesagt, morgen darfst du wahrscheinlich raus.« Thomas war froh, dass er ihm zumindest dieses Zugeständnis entlockt hatte. »Du musst die Nacht hier drin verbringen. Es kann allerdings gut sein, dass es das sicherste Plätzchen auf der ganzen Lichtung ist.«
»Danke, dass du mit ihm geredet hast. Wird bestimmt gemütlich hier auf dem kalten Steinboden.« Sie zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Allerdings vermute ich mal, dass die Griewer sich nicht durch das Gitter hier quetschen können und ich mich also freuen sollte, stimmt’s?«
Er war überrascht, dass sie über die Griewer Bescheid wusste – er glaubte nicht, darüber schon mit ihr gesprochen zu haben. »Bist du dir eigentlich wirklich sicher, dass du alles vergessen hast, Teresa?«
Sie dachte kurz nach. »Ist schon seltsam – an manche Sachen erinnere ich mich scheinbar noch. Oder ich habe irgendwie mitgekriegt, was die Leute geredet haben, als ich im Koma gelegen habe.«
»Na ja, ist ja jetzt auch egal. Ich wollte nur noch mal bei dir vorbeischauen, bevor ich die Nacht drinnen bleiben muss.« Aber er wollte nicht weggehen; fast wünschte er, er könnte sich mit ihr zusammen in den Bau sperren lassen. Er grinste in sich hinein – Newts Antwort auf die Bitte konnte er sich schon vorstellen.
»Tom?«, sagte Teresa.
Thomas merkte, dass er geistesabwesend vor sich hin gestarrt hatte. »’tschuldigung. Ja?«
Ihre Hände verschwanden wieder nach drinnen. Er konnte nichts mehr außer ihren Augen und dem schwachen Schimmer ihrer weißen Haut sehen. »Ich weiß nicht, ob ich das aushalte – die ganze Nacht eingesperrt zu sein.«
Thomas wurde tieftraurig. Er wollte Newt den Schlüssel stehlen und ihr zur Flucht verhelfen. Dabei wusste er, dass das eine idiotische Idee war. Sie würde es einfach über sich ergehen lassen müssen. Er blickte in ihre leuchtenden Augen. »Wenigstens wird es nicht mehr stockdunkel – so wie’s aussieht, haben wir das ekelhafte Zwielicht jetzt vierundzwanzig Stunden am Tag.«
»Ja …« Sie sah an ihm vorbei zum Gehöft, dann richtete sie den Blick wieder auf ihn. »Ich bin hart im Nehmen – ich werd’s überleben.« Thomas hatte schreckliche Schuldgefühle, dass er sie allein zurücklassen musste, aber er wusste genau, dass er keine Wahl hatte. »Ich tue alles, damit du morgen früh freigelassen wirst, okay?«
Sie lächelte, woraufhin er sich sofort besser fühlte. »Versprochen, ja?«
»Versprochen.« Thomas tippte sich an die rechte Schläfe. »Und wenn du dich zu einsam fühlst, dann kannst du ja mit deinem … Trick mit mir reden. Ich versuche dann zu antworten.« Er hatte die Gedankenübertragung mittlerweile akzeptiert, sehnte sich sogar fast danach. Er hoffte bloß, dass er auch bald herausfand, wie es funktionierte, damit sie sich richtig unterhalten konnten.
Du hast es bald raus, sagte Teresa in seinem Kopf.
»Na hoffentlich.« Er stand immer noch herum, weil er einfach nicht wegwollte. Gar nicht.
»Geh besser mal«, sagte sie. »Ich will nicht deine brutale Ermordung auf dem Gewissen haben.«
Thomas brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Na schön. Bis morgen dann.«
Und bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte, huschte er davon und um die Ecke zur Tür des Gehöfts, gerade als die allerletzten Lichter hineingingen. Newt scheuchte sie wie widerborstige Hühner nach drinnen. Thomas trat ein, gefolgt von Newt, der die Tür von innen verschloss.
Als er den Riegel zuschob, meinte Thomas das erste fürchterliche Gestöhn eines Griewers zu hören, das aus den Tiefen des Labyrinths kam.
Die Nacht hatte begonnen.