Nach Thomas’ Uhr war es Vormittag, als er mit Minho durch das Westtor zurück auf die Lichtung kam. Thomas war so erledigt, dass er sich am liebsten auf der Stelle hingelegt hätte. Sie waren fast vierundzwanzig Stunden im Labyrinth gewesen.
Obwohl es kein richtiges Licht mehr gab und alles zu zerbrechen drohte, schien der Tag auf der Lichtung erstaunlich normal zu verlaufen – es wurde geerntet, gepflanzt, aufgeräumt. Bald hatten einige Jungs sie bemerkt. Newt wurde benachrichtigt und kam angerannt.
»Ihr seid die Ersten, die wieder da sind«, sagte er noch im Laufen. »Was ist passiert?«
Sein kindlicher, hoffnungsvoller Blick brach Thomas das Herz – er dachte offensichtlich, dass sie etwas Wichtiges entdeckt hatten. »Sagt, dass ihr gute Nachrichten habt.«
Minhos Blick war leer, er starrte auf einen Punkt irgendwo in der grauen Ferne. »Nichts«, sagte er. »Das Labyrinth ist ein verdammter Riesenwitz.«
Newt sah Thomas verwirrt an. »Was soll das heißen?«
»Er ist frustriert«, sagte Thomas und zuckte erschöpft mit den Schultern. »Wir haben nichts Neues gefunden. Die Wände haben sich nicht bewegt, keine Ausgänge, nichts. Waren die Griewer letzte Nacht hier?«
Newt zögerte und sein Blick verfinsterte sich. Dann nickte er. »Ja. Sie haben Adam mitgenommen.«
Der Name sagte Thomas nichts und er fühlte sich schuldig, weil ihn die Nachricht kaltließ. Wieder nur einer, dachte er. Vielleicht hatte Gally wirklich Recht.
Newt wollte gerade etwas sagen, als Minho zu Thomas’ Überraschung komplett ausrastete.
»Mir reicht’s!« Minho spuckte in den Efeu und die Adern an seinem Hals traten hervor. »Mir steht das alles bis hier! Es ist vorbei! Es ist alles vorbei!« Er warf seinen Rucksack auf den Boden. »Es gibt keinen Ausgang, es gab nie einen, es wird nie einen geben. Wir sind alle im Arsch.«
Betroffen sah Thomas Minho hinterher, der zum Gehöft stiefelte. Er machte sich ernsthafte Sorgen – wenn Minho aufgab, hatten sie ein Riesenproblem.
Newt sagte kein Wort. Er ließ Thomas stehen und sah aus, als wäre er in Trance. Verzweiflung hing in der Luft, beißend wie der Rauch aus dem Kartenraum.
Die übrigen Läufer kamen innerhalb der nächsten Stunde zurück; nach dem, was Thomas hörte, hatte niemand etwas gefunden und alle hatten irgendwann aufgegeben. Überall auf der Lichtung sah man niedergeschlagene Gesichter und die meisten hatten ihre Arbeit stehen- und liegenlassen.
Thomas wusste, dass der Labyrinth-Code jetzt ihre einzige Hoffnung war. Er musste einfach einen Hinweis enthalten. Nachdem er ziellos über die Lichtung gewandert war und die Berichte der anderen Läufer gehört hatte, wollte er sich auf ein ganz konkretes Ziel konzentrieren.
Teresa?, fragte er in Gedanken. Er schloss dabei die Augen, als ob das helfen würde. Wo bist du? Habt ihr was rausgefunden?
Er wartete eine ganze Weile und war schon drauf und dran aufzugeben, weil er dachte, es hätte nicht geklappt.
Tom? Hast du was gesagt?
Ja, sagte er, ganz aufgeregt, dass er den Kontakt hergestellt hatte. Kannst du mich hören?
Manchmal kommen nur Bruchstücke an, aber es funktioniert. Ziemlich schräg, oder?
Thomas dachte darüber nach – irgendwie gewöhnte er sich langsam daran. Es ist gar nicht so übel. Seid ihr immer noch im Keller? Ich hab Newt gesehen, aber er ist wieder verschwunden.
Ja, wir sind immer noch hier. Newt hat uns drei oder vier Lichter vorbeigeschickt, die uns geholfen haben die Karten nachzuzeichnen. Ich glaub, wir haben den Code geknackt.
Thomas’ Herz machte einen gewaltigen Sprung. Im Ernst?
Komm runter.
Schon unterwegs. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr ganz so erschöpft.
Newt ließ ihn herein.
»Minho ist noch nicht aufgetaucht«, sagte er auf der Treppe hinunter in den Keller. »Manchmal rastet er ganz schön aus.«
Thomas war überrascht, dass Minho sich so in seinen Frust reinsteigerte – besonders wenn man an die Möglichkeiten dachte, die der Code eröffnete. Um den Tisch standen mehrere Lichter, die er nicht kannte; alle sahen erschöpft aus, mit tiefen Ringen unter den Augen. Die Karten stapelten sich überall, sogar auf dem Boden. Es sah aus, als hätte ein Orkan gewütet.
Teresa lehnte an einer Regalwand und las eine einzelne Seite. Als er hereinkam, schaute sie hoch, senkte ihren Blick aber gleich wieder auf das Blatt Papier in ihrer Hand. Darüber war er ein bisschen traurig – er hatte gehofft, sie würde sich freuen ihn zu sehen –, aber dann kam er sich bescheuert vor. Sie war offensichtlich damit beschäftigt, den Code zu entschlüsseln.
Das musst du dir ansehen, sagte Teresa zu ihm, als Newt gerade seine Helfer entließ. Sie polterten die Treppe hoch und moserten, dass die ganze Arbeit für die Katz gewesen sei.
Thomas war erschrocken und fürchtete einen Moment lang, Newt könnte erraten, was vor sich ging. Sprich nicht in Gedanken mit mir, wenn Newt dabei ist. Ich will nicht, dass er über unsere … Fähigkeit Bescheid weiß.
»Komm her und sieh dir das an«, sagte sie laut, wobei sie ihr Grinsen kaum verbarg.
»Ich knie vor dir nieder und küss dir den verdammten Hintern, wenn du darin einen Sinn erkennen kannst«, sagte Newt.
Neugierig ging Thomas zu Teresa hinüber. Sie hielt ihm das Blatt mit hochgezogenen Augenbrauen hin.
»Das ist auf jeden Fall richtig«, sagte sie. »Ich hab bloß keine Ahnung, was es bedeuten soll.«
Thomas nahm das Blatt Papier und überflog es. Auf der linken Seite standen umkringelte Ziffern von Eins bis Sechs. Neben jeder stand in Großbuchstaben ein Wort geschrieben.
TREIBEN
FANGEN
BLUTEN
STERBEN
FALLEN
DRÜCKEN
Das war alles. Sechs Wörter.
Enttäuschung überkam Thomas – er war sicher gewesen, dass der Sinn des Codes offensichtlich sein würde, sobald sie ihn entziffert hatten. Niedergeschlagen sah er Teresa an. »Das ist alles? Bist du sicher, dass die Reihenfolge stimmt?«
Sie nahm ihm das Blatt wieder ab. »Das Labyrinth hat diese Wörter seit Monaten wiederholt – wir haben aufgehört, als uns das klar wurde. Nach dem Wort DRÜCKEN kam jedes Mal eine Woche lang gar kein Buchstabe und dann fing es wieder mit TREIBEN an. Also dachten wir uns, dass es das erste Wort sein muss und das hier die Reihenfolge ist.«
Thomas verschränkte die Arme und lehnte sich neben Teresa ans Regal. Ohne nachzudenken, hatte er sich die sechs Wörter eingeprägt, sie in sein Gedächtnis eingebrannt. Treiben. Fangen. Bluten. Sterben. Fallen. Drücken. Das klang nicht gut.
»Hört sich einladend an, oder?«, sagte Newt, als hätte er seine Gedanken gelesen.
»Ja«, antwortete Thomas mit einem frustrierten Stöhnen. »Wir müssen Minho holen – vielleicht weiß er was, das wir nicht wissen. Wenn wir nur mehr Hinweise hätten …« Er stockte, weil ihm furchtbar schwindlig wurde. Wenn er nicht am Regal gelehnt hätte, wäre er umgekippt. Er hatte eine Idee. Eine schreckliche, abscheuliche, furchtbare Idee. Die schlimmste Idee in der Geschichte der schrecklichen, abscheulichen, furchtbaren Ideen.
Aber sein Instinkt sagte ihm, sie war richtig. Dass es das war, was er tun musste.
»Tommy?«, fragte Newt, der mit besorgtem Blick näher kam. »Was ist los? Du bist gerade blass wie ’n Gespenst geworden.«
Thomas schüttelte den Kopf und sammelte sich. »Ach … nichts. Tut mir leid. Mir tun die Augen weh – ich glaube, ich brauch Schlaf.« Er rieb sich die Schläfen.
Alles in Ordnung?, fragte Teresa ihn in Gedanken. Er sah, dass sie genauso besorgt war wie Newt. Ein gutes Gefühl.
Ja. Ich bin wirklich müde. Ich muss mich bloß ausruhen.
»Na schön«, sagte Newt und legte Thomas die Hand auf die Schulter. »Du warst die ganze Nacht draußen im Labyrinth – hau dich erst mal hin.«
Thomas sah Teresa an, dann Newt. Er wollte ihnen von seiner Idee erzählen, aber er entschied sich dagegen. Stattdessen nickte er nur und ging zur Treppe.
Wenigstens hatte Thomas jetzt einen Plan. So schlimm er auch sein mochte.
Sie brauchten mehr Hinweise zum Code. Sie brauchten Erinnerungen.
Er würde sich von einem Griewer stechen lassen. Die Verwandlung durchmachen. Mit voller Absicht.