Jetzt brannte überall im Gehöft Licht. Alle Jungs rannten herum und redeten gleichzeitig. Einige saßen in der Ecke und weinten. Es herrschte absolutes Chaos.

Thomas schenkte all dem keine Beachtung.

Er rannte auf den Flur und sprang drei Treppenstufen auf einmal hinunter. Er drängelte sich unten zwischen den in der Diele versammelten Jungen hindurch, stürmte aus dem Gehöft und rannte zum Westtor. Er blieb kurz an der Schwelle zum Labyrinth stehen, sein Instinkt zwang ihn sich den nächsten Schritt gut zu überlegen. Hinter ihm rief Newt seinen Namen und zögerte seine Entscheidung hinaus.

»Minho ist ihm da raus gefolgt!«, rief Thomas, als Newt ihn einholte. Der drückte ein weißes Handtuch auf die Wunde an seinem Kopf, an einigen Stellen war schon Blut durchgesickert.

»Ich hab’s gesehen«, sagte Newt. Er nahm das Handtuch ab und sah es sich an. Dann verzog er das Gesicht und legte es wieder drauf. »Das tut verdammt weh. Minho sind wohl gerade die letzten Gehirnzellen durchgebrannt – von Gally ganz zu schweigen. Hab doch gewusst, dass der nicht ganz dicht ist.«

Thomas machte sich bloß Sorgen um Minho. »Ich renne hinterher.«

»Wieder mal Zeit für eine verfluchte Heldentat, was?«

Thomas warf Newt einen finsteren Blick zu. Er war verletzt. »Du denkst, ich mach das alles, um euch Strünke zu beeindrucken? Bestimmt nicht. Mich interessiert nur, wie ich hier rauskomme.«

»Ja, klar. Du bist ein ganz Harter. Aber im Moment haben wir andere Probleme.«

»Und die wären?« Thomas wusste, dass er wertvolle Zeit verlieren würde.

»Jemand –«, setzte Newt an.

»Da ist er!«, rief Thomas. Minho war um eine Ecke gebogen und kam auf sie zu. Thomas legte die Hände um den Mund und rief: »Was machst du da, du Idiot?«

Minho rannte weiter bis durch das Tor, beugte sich vornüber, die Hände auf den Knien, und atmete ein paarmal tief durch, bevor er antwortete. »Ich wollte … nur … nachschauen.«

»Nachschauen? Was nachschauen?«, fragte Newt. »Und was hätten wir davon gehabt, wenn sie dich auch noch mitgenommen hätten?«

Minho richtete sich auf und stemmte die Hände in die Seiten. Er atmete immer noch schwer. »Kommt mal runter, Jungs. Ich wollte nur sehen, ob sie sich Richtung Klippe bewegen. Zum Griewerloch.«

»Und?«, fragte Thomas.

»Volltreffer.« Minho wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Nicht zu fassen«, sagte Newt beinahe flüsternd. »Was für eine Nacht.«

Thomas interessierte sich zwar sehr für das Loch und dessen Bedeutung, aber der Gedanke an das, was Newt ihm hatte sagen wollen, bevor Minho aufgetaucht war, ließ ihn nicht los. »Was wolltest du mir sagen?«, fragte er. »Du meintest, wir hätten andere –«

»Ja.« Newt deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Man kann den verfluchten Rauch noch sehen.«

Thomas schaute nach hinten. Die schwere Metalltür des Kartenraums war angelehnt und ein schmaler Rauchstreifen entwich in den grauen Himmel.

»Jemand hat die Karten verbrannt«, sagte Newt. »Alle.«

Aus irgendeinem Grund lag Thomas nicht besonders viel an den Karten – sie schienen sowieso nutzlos zu sein. Er stand vor dem Fenster am Bau. Newt und Minho waren zum Kartenraum gegangen. Thomas hatte gesehen, wie sie sich einen merkwürdigen Blick zuwarfen, als er sie verlassen hatte, als hätten sie irgendein Geheimnis. Aber Thomas beschäftigte nur eins.

»Teresa?«, fragte er.

Ihr Gesicht tauchte auf, sie rieb sich die Augen. »Gab es Tote?«, fragte sie ein bisschen groggy.

»Du hast geschlafen?«, fragte Thomas. Er war erleichtert, dass es ihr gut zu gehen schien, und entspannte sich ein wenig.

»Ja«, antwortete sie. »Bis ich gehört habe, wie das Gehöft zerlegt worden ist. Was ist passiert?«

Thomas schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass du bei dem Höllenlärm schlafen konntest.«

»Versuch du mal aus einem Koma aufzuwachen. Dann wirst du schon sehen.« Und jetzt beantworte meine Frage, sagte sie in seinem Kopf.

Thomas blinzelte, einen Moment lang war er überrascht von ihrer Stimme, weil sie das eine Weile nicht mehr gemacht hatte. »Lass den Quatsch.«

»Erzähl mir einfach, was los war.«

Thomas seufzte. Es war eine lange Geschichte und er hatte keine Lust, alles zu erzählen. »Gally kennst du nicht. Er ist ein Verrückter, der abgehauen war. Er ist wiederaufgetaucht, auf einen Griewer draufgesprungen und mit ihm im Labyrinth verschwunden. Das Unheimlichste, was ich seit langem gesehen habe.« Er konnte es immer noch nicht fassen.

»Und unheimlich ist hier ja so einiges«, sagte Teresa.

»Allerdings.« Er schaute sich um, in der Hoffnung, Alby irgendwo zu entdecken. Bestimmt würde er Teresa jetzt rauslassen. Überall auf dem Gelände wuselten Lichter herum, aber ihr Anführer war nirgends zu sehen. Er wandte sich wieder Teresa zu. »Ich kapier das nicht. Warum sind die Griewer abgehauen, nachdem sie Gally hatten? Er hat irgendwas davon gesagt, dass sie nur einen pro Nacht umbringen würden, bis wir alle tot sind – das hat er mindestens zweimal wiederholt.«

Teresa streckte die Hände durch das Gitter und legte die Unterarme auf den Fenstersims. »Nur einen pro Nacht? Warum?«

»Keine Ahnung. Er sagte auch, es hätte was zu tun mit … Tests. Oder Variablen. So was in der Art.« Thomas hatte denselben merkwürdigen Drang wie am vorigen Abend – ihre Hand zu nehmen. Aber er hielt sich zurück.

»Tom, ich hab über das nachgedacht, was ich angeblich gesagt habe. Dass das Labyrinth ein Code ist. Hier eingesperrt zu sein ist eine wunderbare Gelegenheit, das Gehirn arbeiten zu lassen.«

»Weißt du, was es bedeutet?« Er war extrem neugierig und versuchte das Geschrei auszublenden, das jetzt von überall zu hören war, weil sich herumsprach, dass der Kartenraum abgebrannt war.

»Also, die Mauern bewegen sich jeden Tag, stimmt’s?«

»Ja.« Er hatte das Gefühl, dass sie auf einer heißen Spur war.

»Und Minho hat gesagt, dass sie ein Muster dahinter vermuten, richtig?«

»Richtig.« In Thomas’ Kopf fügten sich die ersten Puzzleteile zusammen und ergaben die vagen Umrisse eines Bildes, als wäre da eine Erinnerung, die hervorbrechen wollte.

»Also, ich weiß nicht, warum ich das über den Code gesagt hab. Als ich aus dem Koma aufgewacht bin, wirbelte alles Mögliche in meinem Kopf herum. Das war fast, als würde jemand meine Gedanken ausleeren, sie absaugen. Und ich wusste, dass ich das über den Code sagen muss, bevor es weg ist. Es muss also etwas Wichtiges dahinterstecken.«

Thomas hörte sie kaum – er dachte so intensiv nach wie seit langem nicht mehr. »Sie vergleichen immer die Karte eines Abschnitts mit der vom Vortag und vom Tag davor und so weiter. Tag für Tag schaut sich jeder Läufer seinen Abschnitt an. Was ist, wenn man sie mit den Karten der anderen Abschnitte vergleichen würde …« Die Lösung schien ihm fast zum Greifen nah.

Teresa war noch bei ihrer eigenen Theorie. »Bei dem Wort Code denke ich zuerst an Buchstaben. Das Alphabet. Vielleicht versucht das Labyrinth etwas zu buchstabieren

Das Bild in Thomas’ Kopf setzte sich so schnell zusammen, dass er fast hören konnte, wie alle Teile auf einmal einrasteten. »Du hast Recht – du hast Recht! Die Läufer haben die ganze Zeit nach dem Falschen gesucht!«

Teresa klammerte sich ans Gitter, dass ihre Knöchel weiß wurden, und drückte das Gesicht gegen die Eisenstäbe. »Was? Wovon redest du?«

Thomas griff nach den zwei Stangen neben denen, die sie umklammert hielt, und rückte nah genug heran, dass er ihren Geruch wahrnahm – erstaunlich angenehm, nach Schweiß und Blumen. »Minho meinte, dass sich die Muster wiederholen. Aber sie sind nicht dahintergekommen, was es bedeutet. Also haben sie immer Abschnitt für Abschnitt betrachtet, einen Tag mit dem nächsten verglichen. Was ist, wenn jeder Tag ein einzelner Teil des Codes ist und man alle acht Abschnitte irgendwie zusammenbringen soll?«

»Du meinst, vielleicht soll jeder Tag ein Wort ergeben?«, fragte Teresa. »Durch die Bewegung der Wände?«

Thomas nickte. »Oder ein Buchstabe pro Tag. Das weiß ich nicht. Aber sie haben immer gedacht, dass die Bewegungen einen Fluchtweg zeigen würden, auf Wörter sind sie nie gekommen. Sie haben das wie eine Landkarte studiert, nicht wie ein Bild. Wir müssen –« Er unterbrach sich, als ihm einfiel, was ihm Newt gerade erzählt hatte. »Oh nein.«

Teresa sah ihn besorgt an. »Was ist denn?«

»Nein, nein, nein …« Thomas ließ die Gitterstangen los und stolperte rückwärts, als ihm klar wurde, was passiert war. Er drehte sich nach dem Kartenraum um. Der Rauch war weniger geworden, aber die dunkle, fast durchsichtige Wolke schwebte immer noch darüber.

»Was ist denn los?«, fragte Teresa noch mal. Sie konnte den Kartenraum durch das Fenster nicht sehen.

Thomas drehte sich zu ihr. »Ich dachte, es ist egal …«

»Was?«, drängte sie ihn.

»Jemand hat alle Karten verbrannt. Wenn es einen Code gab, ist er futsch.«