50. Gespräch im Feuerschein
Der Zeppelin war in Flammen aufgegangen; eine Stunde nach der Havarie schwelten die Überreste immer noch schwach vor sich hin.
Eine menschliche Gestalt näherte sich den Trümmern und durchsuchte sie vorsichtig. Sie stieß auf zwei Körper, kniete neben ihnen nieder und stellte fest, dass es sich um zwei tote Jugendliche handelte.
Dann entdeckte sie ein Tier, das sie zunächst für ein Pferd hielt. Als sie erkannte, dass sie einen riesigen Hund vor sich hatte, zückte sie ein Beil und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Der Hund leckte einem dritten Jungen übers Gesicht.
»Du scheinst mir ja nicht sehr aggressiv zu sein«, sagte der Fremde und schob sich langsam näher.
Da der Hund ihn nicht weiter beachtete, horchte er den Jungen ab. Er atmete noch.
»He«, sprach er ihn an, »wach auf! Na los, komm zu dir!«
Matt schlug die Augen auf.
»Wo bin ich?«, flüsterte er, betäubt und wie gelähmt vor Schmerz.
»Hier, trink einen Schluck Wasser. Ich heiße Floyd, ich bin ein Weitwanderer. Ich habe von weitem gesehen, wie ihr abgestürzt seid.«
»Und die anderen? Wie geht es den anderen?«
»Leider scheinst du der Einzige zu sein, der überlebt hat.«
»Nein, das ist unmöglich, sie können doch nicht …«
Matt versuchte aufzustehen, musste innehalten und kam schließlich schwankend auf die Füße. Ihm schwindelte, und jede Faser seines Körpers tat ihm weh. Er war zwar von Schürfwunden und Beulen übersät, hatte sich aber zum Glück nichts gebrochen. Plusch ließ hechelnd die Zunge heraushängen und sah ihn fröhlich an. Sie schien den Absturz unversehrt überstanden zu haben.
Matt streifte zwischen den Trümmern umher, entdeckte die Leichen zweier Pans, die Jon begleitet hatten, und stieß ein Stück weiter auf eine dritte. Nach einer Weile fand er Mia, die bewusstlos unter einer Platte aus der Außenwand der Gondel lag. Eine Eisenstange hatte ihr die Schulter durchbohrt. Als Matt und Floyd sie mühsam befreiten, wachte sie auf und begann laut zu schreien, woraufhin der Weitwanderer hastig eine kleine Blume aus seinem Rucksack holte und sie ihr unter die Nase hielt. Mia schlief augenblicklich ein.
»So wird sie die Schmerzen eine Weile nicht spüren.«
In diesem Augenblick wankten Jon und Nournia auf sie zu. Die Kleider hingen ihnen nur noch in Fetzen am Leib.
»Xian und Vernon sind tot«, sagte Jon mit Tränen in den Augen.
»Ich weiß«, nickte Matt. »Der Junge mit den kurzgeschorenen Haaren auch.«
»Harold. Wie geht’s Mia?«
»Sie ist schwer verletzt. Habt ihr Ambre irgendwo gesehen?«
Als die beiden den Kopf schüttelten, machte sich Matt wieder auf die Suche.
Endlich sah er unter einem Fetzen roten Plüschs eine Hand hervorragen. Fieberhaft räumte er die Wrackteile beiseite, bis Ambre zum Vorschein kam. Sie atmete flach.
Matt wusste nicht, was er tun sollte. Im Fernsehen hatten sie in solchen Fällen immer Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassagen gemacht, und er fragte sich, ob er jetzt nicht Erste Hilfe leisten müsste. Aber nein, ihr Herz schlug ja noch, und ihr Brustkorb hob und senkte sich leicht. Vielleicht bekam sie nur nicht genügend Luft?
In seiner Verzweiflung beschloss er, es einfach zu versuchen, schließlich konnte er nicht tatenlos zusehen, wie sie vor seinen Augen starb!
Er presste seine Lippen auf Ambres Mund und hauchte ihr Luft ein.
Ambre begann zu husten und schlug die Augen auf.
»Gott sei Dank! Ich hatte solche Angst um dich!«, rief Matt aus.
Ambre sah sich auf dem rauchenden Trümmerfeld um, ohne zu begreifen, wo sie war.
»Warum liege ich in deinen Armen?«, fragte sie leise.
»Hast du irgendwo Schmerzen?«
»Überall, glaube ich.«
Sie bewegte nacheinander alle ihre Glieder. Zum Glück schien sie nicht ernsthaft verletzt zu sein.
»Und Toby?«, fragte sie plötzlich.
Matt schluckte schwer.
Sein Blick verschleierte sich.
»Der Torvaderon …« Er brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande. »Der Torvaderon hat ihn erwischt.«
Fünf Pans hatten den Absturz überlebt, darunter Mia, um die es nicht gut stand.
Der Himmel wurde allmählich heller, und die Sterne verblassten, bis schließlich die Sonne aufging. Weit und breit waren keine Gewitterwolken zu erkennen.
»Hat es hier in der Gegend heute Nacht ein Unwetter gegeben?«, fragte Matt Floyd.
»Nein. Ich habe Blitze gesehen, aber das war viel weiter südlich.«
Zitternd vor Kälte, Angst und Erschöpfung, setzte sich Ambre neben Matt und schmiegte sich an ihn.
»Und was jetzt?«
»Wir gehen nach Eden«, sagte er düster. »Uns bleibt keine andere Wahl.«
»Und … Toby?«
Matt ballte die Fäuste. Plötzlich hielt er es nicht länger aus. Er begann zu schluchzen, während er wieder vor sich sah, wie sein Freund sich schützend vor sie warf und vom Torvaderon verschlungen wurde.
Ambre nahm ihn in die Arme, und er weinte lange.
Als er keine Tränen mehr hatte, wandte er sich der aufgehenden Sonne zu und legte ein grimmiges Gelübde ab.
»Eines Tages werde ich ihn finden und vernichten, das schwöre ich. Koste es, was es wolle.«
Unter den Trümmern der Gondel fanden die Pans einen Großteil ihrer Ausrüstung wieder. Einige Rucksäcke waren zerfetzt und die Bogen und Köcher zerbrochen, doch Matts Schwert hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen. Er schob es behutsam in die Scheide und schnallte sie sich auf den Rücken.
Eines Tages, da war er ganz sicher, würde diese Klinge den schwarzen Schleier des Torvaderon durchtrennen.
Floyd hatte Mias Schulter verbunden, war aber nicht sonderlich optimistisch.
»Sie muss unbedingt von jemandem verarztet werden, der sich besser mit so etwas auskennt.«
»Wie weit ist es bis ins nächste Dorf?«
»Zwei Tagesmärsche.«
»Und Eden?«
»Eden?«, wiederholte der Weitwanderer erstaunt. »Etwa vier Tage.«
»Die Zeit drängt. Führe uns nach Eden.«
»Mia braucht Hilfe! Das nächste Dorf ist …«
»Wir gehen nach Eden, das Überleben der Pans steht auf dem Spiel.«
Floyd verkniff sich weitere Fragen. Diese seltsamen Reisenden, die soeben eine Bruchlandung mit einem Riesenquallenzeppelin hingelegt hatten, schienen mehr zu wissen als er.
Nachdem sie Mia wieder auf Pluschs Rücken gesetzt hatten, marschierten sie los. Sie gönnten sich nur wenige Pausen, und Matt blickte immer wieder nach Süden, da er fürchtete, dort ein Gewitter aufziehen zu sehen. Doch der Himmel blieb klar. Am ersten Abend tat er lange kein Auge zu. Unruhig lauschte er den Geräuschen im Wald ringsum und rechnete jeden Moment damit, ein fernes Donnergrollen zu hören.
Als ihn schließlich doch die Müdigkeit überwältigte, wurde ihm in einem Anflug von Scharfsichtigkeit, wie sie nur in Augenblicken völliger Erschöpfung eintritt, ganz klar bewusst, dass er nicht etwa aus Angst nach dem Gewitter Ausschau hielt.
Sondern aus Rachsucht.
Dass keine dunkle Wolke am Horizont auftauchte, frustrierte ihn geradezu.
Er wollte den Torvaderon zum Kampf herausfordern.
Dieser Gedanke hielt ihn so lange wach, dass er irgendwann aufstand und sich an die Feuerstelle setzte. Im Schein der schwach glimmenden Holzscheite säuberte er sein Schwert, wetzte die Klinge an einem Stein und polierte sie blank, während er sich das Duell ausmalte. Eines Tages würde es so weit sein. Das hatte er sich geschworen.
Und wenn er seinem Feind dafür ein Leben lang hinterherjagen musste.
Aber im Grunde wusste er, dass er sich nicht lange würde gedulden müssen.
Der Torvaderon würde zu ihm kommen.
Als sie am dritten Abend ihr Nachtlager aufschlugen, machte sich Floyd große Sorgen um Mia, die im Fieber delirierte. Jon legte sich neben sie, um sie die Nacht über im Auge zu behalten.
Ambre und Matt blieben noch eine Weile am Feuer sitzen, das allmählich herunterbrannte.
»Was wirst du tun, wenn wir in Eden sind?«, fragte sie.
»Ich werde die Ratsversammlung der Pans einberufen und ihr von der bevorstehenden Invasion der Zyniks berichten. Wir müssen uns zum Krieg rüsten.«
»Glaubst du, dass wir eine Chance haben?«
»Bei fünfzehntausend ausgebildeten und schwerbewaffneten Kämpfern gegen eine Handvoll Pans? Wohl kaum. Aber ich kenne ihre Pläne. Und außerdem … haben wir vielleicht noch einen Trumpf in der Hinterhand. Falls wir herausfinden, wie wir ihn ausspielen können.«
»Und der wäre?«
»Die Hautjagd! Malronce will unbedingt das Kind in die Finger bekommen, das diese Karte auf seiner Haut trägt. Tobias meinte, dass ich vielleicht derjenige bin und sie mich deswegen überall suchen lässt.«
Ambre schüttelte den Kopf.
»Nein, Matt. Da hat er sich geirrt.«
Matt wandte sich erstaunt zu ihr um.
»Woher weißt du das?«
Ambre zog die Beine an und umschlang ihre Knie mit den Armen, als wollte sie in dieser Haltung Schutz suchen.
»Der Unschuldstrinker ist an der Hautjagd beteiligt«, sagte sie, »er ist fast jedes Mal dabei, wenn die neuen Gefangenen untersucht werden. Er hat die Große Karte, die Zeichnung der richtigen Konstellation der Muttermale, so oft gesehen, dass er sie in- und auswendig kennt.«
»Ja, und?«
Ambre schluckte schwer und senkte die Stimme zu einem Flüstern.
»Der Unschuldstrinker hat uns nicht aus reiner Nächstenliebe geholfen. Er hat auf den ersten Blick erkannt, dass ich das gesuchte Kind bin. Ich trage die Karte auf mir.«
»Du?«, fragte Matt ungläubig.
»Ja. Ich war so naiv zu glauben, dass er das bei Gelegenheit zu seinem eigenen Vorteil nutzen und in der Zwischenzeit erst einmal dich in die Finger bekommen wollte. Also sagte ich nichts, weil ich mir einbildete, dass wir ihm schon irgendwie entwischen würden, sobald die Gemeinschaft der Drei wieder zusammen wäre. Dabei ging es ihm die ganze Zeit nur darum, uns Malronce auszuliefern! Er hatte von Anfang an vor, den spirituellen Berater zu verständigen und die Kopfgelder einzustreichen, die auf uns ausgesetzt waren.«
»Und du … Du hast also die Karte auf der Haut, die den Weg zum Ursprung allen Lebens weist?«
»Wir wissen nicht genau, ob es das ist. Ich vermute zwar, dass es so etwas in der Art sein muss, aber ich kann mich auch täuschen. Jedenfalls sollte die Karte den Zyniks lieber nicht in die Hände fallen, was auch immer sie anzeigt.«
»Wir müssen den Rat von Eden darüber informieren.«
Ambre nickte und blickte nachdenklich zu Boden.
»Als wir beim Team der Wilden waren, habe ich dir doch erzählt, dass ich Angst habe, erwachsen zu werden und mich irgendwann in eine Zynik zu verwandeln, weißt du noch? Damals hast du mir etwas versprochen.«
»Ja, dass ich auf dich aufpassen werde. Und dieses Versprechen werde ich auch halten, glaub mir!«
Ambre nahm seine Hand und unterdrückte ein Schluchzen.
»Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich will nicht, dass ich diese Karte bin, ich will nicht erwachsen werden, wenn ich mich dann in eine Zynik verwandle!«
»He, keine Angst, das wird nicht passieren. Ich werde da sein, um dich zu beschützen, ich werde dir helfen, du selbst zu bleiben.«
»Das sind solche Unmenschen! Ich will nicht werden wie sie!«
Da tat Matt etwas, womit er selbst nie gerechnet hätte: Er küsste Ambre ganz leicht auf die Stirn.
»Du bist nicht allein. Ich bin bei dir.«
So blieben sie ein paar Minuten lang sitzen, Hand in Hand.
Matt ließ sich noch einmal durch den Kopf gehen, was Ambre ihm gerade erzählt hatte, und plötzlich traf es ihn wie der Schlag.
»Moment mal«, stammelte er, »willst du damit sagen, dass der Unschuldstrinker dich …«
Ambre drückte Matts Hand.
»Er hat mich gezwungen, mich vor ihm auszuziehen, aber als er die Große Karte erkannte, hat er mich nicht angerührt und sofort eingewilligt, uns zu helfen.«
»Was für ein widerlicher Kerl! Hätte ich das gewusst, hätte ich keine Gnade mit ihm gekannt!«
»Der Fluss hat ihn vielleicht nicht wieder freigegeben«, sagte sie leise. »Er war es nicht wert, dass du seinetwegen zum Scharfrichter wirst, glaub mir.«
»Ambre, es tut mir so leid, und das alles nur wegen mir, das ist …«
Sie legte ihm den Zeigefinger an die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Erinnerst du dich an die ersten Worte, die du an mich gerichtet hast?«, fragte sie nach einer langen Pause.
Matt dachte an den Moment zurück, in dem er aus dem Koma aufgewacht war und einen Engel vor sich gesehen hatte. Seine Wangen begannen zu glühen.
»Ich glaube schon«, sagte er verlegen.
»›Ambre, sei mein Himmel.‹ Was wolltest du damit sagen?«
»Ähm … Ich weiß nicht«, log er. »Das lag bestimmt am Fieber.«
»Ach so. Na dann. Verstehe.«
Sie ließ seine Hand los.
Als er die Stille nicht mehr aushielt, kam Matt auf den Beginn ihrer Unterhaltung zurück.
»Morgen werden wir in Eden sein. Wir müssen ihnen alles erklären. Die Hautjagd, den bevorstehenden Krieg …«
»Eine wichtige Frage ist aber immer noch offen«, bemerkte Ambre. »Warum sie dir auf den Fersen sind! Denn wenn ich die Karte auf mir trage, die sie suchen, warum ist dann dein Gesicht auf sämtlichen Anschlägen im Königreich der Zyniks abgebildet?«
Matt holte tief Luft.
Ihm war soeben klargeworden, dass sie den ganzen weiten Weg bis hierher gekommen waren, ohne die Antwort auf ihre brennendste Frage gefunden zu haben.
Weil ich vor dem einzigen Menschen, der sie mir liefern kann, geflohen bin.
Als Gefangener hätte er die Kerker der Königin nicht mehr verlassen, das wusste er. Nur wenn er als freier Mensch vor sie trat, würde er seine Antwort bekommen.
Aber diese Möglichkeit verwarf er vorerst wieder.
»Wir sollten schlafen, wir haben morgen einen langen Tag vor uns«, sagte er und stand auf.
Am späten Vormittag des nächsten Tages erreichten sie den Gipfel eines Hügels. In der Ebene unter ihnen erstreckten sich leuchtend gelbe Weizenfelder.
Und am anderen Ende dieser goldenen Schatzkammer erhob sich eine Stadt.
Eine gewaltige Ansammlung von Häusern und Zelten, die von einem in der Sonne glitzernden Fluss geteilt wurde.
Alle Straßen und Gassen liefen auf einen zentralen Platz zu, auf dem ein mächtiger Baum stand und seine Äste wie ein jahrtausendealter Wächter über die Viertel der Stadt ausbreitete.
In den Obsthainen, die das Häusergewirr umschlossen, wuselten bereits Hunderte winziger Gestalten umher, um die saftigen Früchte zu pflücken.
Ein kleines Paradies mitten im Nirgendwo.
Eden.