13. Geführter Rundgang

Am nächsten Morgen wurde Matt von einem sanften Klopfen an der Zimmertür geweckt. Seit dem Sturm hatte er nicht mehr in einem so bequemen Bett gelegen. Er hatte geschlafen wie ein Stein.

Das Tageslicht schimmerte durch die dicken, samtartigen Vorhänge. Er hatte ein Zimmer ganz für sich allein, Tobias und Ambre ebenfalls. Ambre hatte das gefallen, die beiden Jungen sahen darin eher ein Mittel, sie zu trennen und dadurch zu schwächen.

Matt stand verschlafen auf und öffnete die Tür. Es war Torshan, der ihm erklärte, wo es Frühstück gab.

Kurz darauf saßen sie zu viert auf einer Terrasse in etwa zwanzig Metern Höhe. Durch das Laub hatten sie eine herrliche Aussicht auf den Kai, die Bootshäuser und die vielen Stege, die zwischen den fünf Eichen verliefen. Auf zahlreichen weiteren Terrassen über ihnen standen kleine runde oder quadratische Häuser. Im Großen Nest ging es bereits hoch her: Tonnen und Kisten wurden über Gewinde in die Höhe gehievt, lange Bretter wurden entlang des Kais zu Bauplätzen getragen, und Matt sah eine Gruppe auf das Mutterschiff steigen, um es zu inspizieren.

»Wie viele seid ihr?«, fragte er Torshan.

»Sechshundertzwölf. Halt, jetzt nur noch sechshundertelf.«

»Wegen der Verbannung von Paleos, stimmt’s?«

Torshan blickte ihn überrascht an.

»Ja.«

»Was hat er getan?«

Torshan zögerte, bevor er sich zu einer Antwort durchrang.

»Er hat ›die höchste Schande‹ begangen. Ich meine, er hat … Ihr wisst schon, mit einem Mädchen …«

»Er hat mit einem Mädchen geschlafen?«, rief Tobias mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen.

»Das ist strengstens verboten!«, erwiderte Torshan und gewann seine Fassung wieder.

»Wurde das Mädchen auch verbannt?«, fragte Matt.

»Nein, denn sie hat ihr Verbrechen gestanden, und sie hat erklärt, dass sie sich von Paleos überreden ließ, weil sie in ihn verliebt war. Der Rat hat ihr verziehen und gibt ihr eine zweite Chance.«

»Warum ist es verboten?«, entrüstete sich Ambre. »Das ist doch etwas vollkommen Natürliches, und da wagt ihr zu behaupten, dem Leben und der Natur nahe zu sein!«

»Es ist kein Zufall, dass der Baum des Lebens gerade uns gerettet hat und uns das Privileg gewährt, anders zu sein«, entgegnete Torshan mit einem Anflug von Gereiztheit. »Wenn es stimmt, was ihr berichtet, dann sind die überlebenden Erwachsenen alle böse. Der Baum des Lebens entscheidet über alles, und wenn er gewollt hätte, dass es neue Kinder gibt, dann hätte er auch die Erwachsenen gerettet! Wir sind Kinder oder Jugendliche, und wir müssen es bleiben!«

»Und ihr glaubt im Ernst, dass ihr jung bleibt, wenn ihr keine sexuellen Beziehungen zulasst?«, fragte Ambre belustigt.

»Erinnert euch an euer Versprechen von gestern!«, raunzte Torshan. »Ihr müsst unseren Glauben respektieren!«

Ambre wollte etwas erwidern, begnügte sich dann aber mit einem Kopfschütteln, während sie sich in ihrem Stuhl aus Holz und geflochtenem Bambus zurücklehnte.

Matt und Tobias starrten sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Schock an. Sie hielt nicht nur dagegen, nein, sie redete ohne Scham über ein Tabuthema.

Das restliche Frühstück verlief in drückendem Schweigen. Torshan zeigte ihnen, wo sie ihr Geschirr abspülen konnten, und erklärte, dass das Große Nest über riesige Wasserspeicher verfügte, die hoch oben in den Bäumen installiert waren und das Regenwasser sammelten. Da der Höhenunterschied ausreichend Druck erzeugte, brauchte man unten nur den Wasserhahn aufzudrehen. Das gleiche System versorgte auch das Mutterschiff, dessen kugelförmige Auffangbecken eine gesamte Längsseite einnahmen.

»Woher habt ihr die Wasserhähne, Fensterscheiben und all die anderen Dinge aus unserem früheren Leben?«, fragte Ambre.

Torshan musterte sie eindringlich.

»Durch Expeditionen in die Abgründe. Dort findet man noch Ruinen aus der ehemaligen Welt.«

»Steigt ihr oft hinab?«

»Hin und wieder. Es ist so gefährlich, dass wir es vermeiden, wenn es geht.«

»Und stimmt es wirklich, dass man auf diesem Trockenen Meer schwimmen kann?«, wollte Tobias wissen.

Torshan nickte.

»Das Laubwerk an der Oberfläche ist so dicht, dass es die Körper und sogar ganze Schiffe trägt! Man muss aber auf schwarze Löcher aufpassen.«

»Schwarze Löcher? Was ist das?«

»Mehr oder weniger ausgedehnte Bereiche mit Lücken im Laubwerk. Ihr werdet merken, dass man recht gut im Trockenen Meer schwimmen kann, es ist nicht besonders angenehm, aber möglich. Wenn ihr jedoch zu einem schwarzen Loch kommt, tragen euch die Blätter nicht länger, und ihr stürzt ab.«

»Bis nach unten?«, entfuhr es Tobias.

»Manchmal schon.«

»Deshalb also sind eure Schiffe mit Ballonen ausgestattet«, sagte Matt nachdenklich. »So schweben sie über der Oberfläche und laufen nicht Gefahr, in ein schwarzes Loch zu fallen.«

»Genau.«

Jetzt war wieder Ambre an der Reihe:

»Wie produziert ihr die Heißluft für die Ballone?«

»Durch die sogenannten Bläser. Das sind fette Nacktschnecken, zum Teil sogar richtig fette, die beim Fressen Hitze erzeugen. Da sie sich von Blättern ernähren, machen sie uns keine Umstände. Wir fangen sie einfach, halten sie in einem Lagerraum und schließen sie bei Bedarf in Eisenkästen, von denen Schläuche zu den Ballonen führen. Ein Kinderspiel!«

Tobias stieß einen bewundernden Pfiff aus.

»Und wie habt ihr das Nest gebaut?«, fragte er.

»Ich verstehe, dass euch das interessiert. Kommt, ich zeige euch alles.«

Torshan führte sie über Stege, Terrassen und in die Baumstämme gehauene Treppen mit Absätzen, die wie Balkone an der Rinde befestigt waren. Überall, wo sie vorbeikamen, unterbrachen die Chloropanphylliker ihre Tätigkeit und musterten die drei Besucher neugierig.

»Sie wundern sich, weil die normalen Menschen, also Leute wie ihr, für gewöhnlich unsere Feinde sind«, erklärte Torshan. »Die würden wir hier nie im Leben frei herumlaufen lassen. Ihr seid die Ersten.«

»Wieso bekämpft ihr euch?«

»Wir sind erfindungsreich und gewieft und haben, wie ihr feststellen könnt, eine sehr lebenswerte Stadt aufgebaut. Die wollen sie uns wegnehmen.«

»Ihr könntet euch gegenseitig helfen!«

»Sie sind anders. Sie glauben nicht an den Baum des Lebens, weil er sie nicht verwandelt hat. Sie fühlen sich erniedrigt. Und um ehrlich zu sein: Wenn der Baum des Lebens sie nicht auserwählt hat, dann sind sie seiner nicht würdig!«

»Für dich sind wir drei also minderwertige Geschöpfe, oder wie?«

Wieder platzte Ambre fast vor Wut. Diesmal versuchte Torshan, sie zu beschwichtigen:

»Ihr kommt von unten, bei euch ist alles anders. Hier haben wir unsere eigenen Regeln und Verhaltensweisen, das ist eine ganz andere Welt.«

Um einer weiteren Diskussion mit Ambre aus dem Weg zu gehen, führte Torshan die drei zu den Werkstätten, in denen sämtliche nutzbare Pflanzenfasern zu Garn oder Stoff verarbeitet wurden, um daraus Gebrauchsgegenstände wie Kleider, Teppiche, Betttücher, Vorhänge, Seile und Segel herzustellen. Dann zeigte er der Gemeinschaft der Drei einen Bambuswald, der sich hinter dem Großen Nest auftat.

»Das war schon so, als wir hier ankamen. Dieser Bereich liegt auf einer Art Riesenwurzel, die bis an die Oberfläche reicht und auf der diese ganzen Pflanzen wachsen. Im Osten befindet sich unser Obstgarten, dort pflücken wir die meisten Früchte. Wir sammeln auch Wurzelknollen, die schmecken wie Kartoffeln.«

»Wohin kommt man auf diesem Weg, der in den Bambuswald hineinführt?«, fragte Matt.

»Das erfahrt ihr heute Abend. Gehen wir weiter, es gibt noch viel zu sehen.«

Torshan zeigte ihnen die Anlegeplätze. Die Boote wurden manchmal für Erkundungstouren benutzt, hauptsächlich aber für die Jagd, bei der das Fleisch, das sie verzehrten, erbeutet wurde. Unterwegs fragte Ambre ihn über ihre seltsamen Namen aus, und er gab zu, dass sie nach dem Sturm alle eine neue Identität angenommen hatten. Als sie mehr darüber wissen wollte, wiegelte er ab und wechselte das Thema, indem er sie zu einer Strickleiter geleitete, auf der sie sich zu einem Ausguck mit einem großen Fernrohr hinaufhangelten.

»Um nahende Gefahren schon von weitem zu erkennen«, erklärte er. »Egal, ob feindliche Angriffe oder hungrige Bestien. Solche Ausgucke gibt es hier mehrere.«

Der Wachposten begrüßte sie ebenso misstrauisch wie alle anderen Chloropanphylliker.

Als Nächstes besichtigten sie die Küche, die mit riesigen steinernen Holzöfen ausgestattet war, den Waffensaal, in dem Krieger in Chitinrüstung trainierten, und schließlich die Bibliothek.

Der Lesesaal war in den unteren Teil des Stammes der Haupteiche gehauen und hatte etwa dreißig Meter Durchmesser. Schmale Löcher unter der Decke ließen das Sonnenlicht herein. Bunte Reihen aus Tausenden von Büchern liefen die Wände entlang. In der Mitte des Saals standen fünf riesige Tische, und ringsum waren Bänke aufgestellt, auf denen an die zweihundert Personen Platz hatten. Hier herrschte beinahe andächtige Stille. Die Besucher schlenderten flüsternd durch den Raum, um die etwa hundert anwesenden Leser nicht zu stören.

Tobias deutete auf eine der Schalen, die alle drei Meter von der Decke hingen und mit der schimmernden Substanz gefüllt waren.

»Wie funktioniert dieses Zeug? Neulich habe ich versucht, es auszumachen, das hat nicht geklappt.«

»Wir holen es aus den Abgründen. Es reagiert auf feinste Vibrationen, auf näher kommende Schritte oder auf Schallwellen. Wenn ihr euch nicht bewegt und nicht sprecht, dann schaltet es sich nach wenigen Minuten von selbst aus.«

»Genial!«

Ambre beugte sich zu Torshan, um die Stimme nicht heben zu müssen.

»Ich sehe, dass sie alle sehr schnell lesen. Ist das eine der Veränderungen, die ihr durchgemacht habt?«

»Ja. Manche von uns können sehr schnell lesen und sich noch dazu alles merken, was in den Büchern steht. Ohne sie hätten wir nie in so kurzer Zeit so viele Dinge erfinden und das Mutterschiff bauen können.«

»Wie seid ihr auf diesen Namen gekommen?«, fragte Matt.

»Mit dem Schiff sind wir in der Lage, unsere Erkundungstouren auszuweiten, noch länger und tiefer zu tauchen und uns mit lebenswichtigen Nahrungsmitteln und Materialien einzudecken. Es ist die Mutter, die uns den Weg in dieser neuen Welt zeigt.«

Tobias deutete auf eine schwere Tür mit einem großen Holzschloss in der Mitte, in die ein Totenkopf geschnitzt war.

»Was ist das?«

»Nichts«, sagte Torshan hastig und schubste sie in die entgegengesetzte Richtung, »das braucht euch nicht zu interessieren.«

Draußen erschallte das Horn. Die Chloropanphylliker sahen von ihren Büchern auf und packten dann eilig ihre Sachen zusammen.

»Essenszeit«, erklärte Torshan. »Jeder begibt sich in die Küche und holt sich seine Ration ab. Danach könnt ihr hingehen, wo ihr wollt, und euch anderen Gruppen anschließen, wenn ihr lieber in Gesellschaft esst. Ich lasse euch jetzt allein, die vielen neuen Eindrücke müssen sich bestimmt erst einmal setzen. Ich bin beim großen Bootshaus am Kai, falls ihr mich braucht. Alle wissen über eure Aufnahme in unsere Gemeinschaft Bescheid; habt nur ein wenig Geduld, es wird ein paar Tage dauern, bis die Blicke freundlicher werden. Sie haben Angst vor euch, weil ihr anders seid, das müsst ihr verstehen. Denkt darüber nach, welche Aufgaben ihr übernehmen wollt, um euch in die Gemeinschaft einzubringen und euch bei uns wohl zu fühlen. Bis heute Abend!«

Torshan begleitete sie zur Küche, wo man ihnen eine warme Mahlzeit in Holzschüsseln servierte. Dann setzten sich die drei Freunde auf eine Terrasse ein paar Meter über dem Meeresspiegel.

»Nie im Leben werde ich in dieser Bibliothek enden«, stellte Ambre klar.

»Was soll ich da erst sagen!«, klagte Tobias. »Du bist die Schlauste von uns, und Matt kämpft so gut, dass er bei den Kriegern des Großen Nestes seinen Platz finden wird, aber wo soll ich enden? Beim Kartoffelnschälen in der Küche?«

»Mach dir keine Sorgen, keiner von uns wird irgendwo auf dieser … Insel enden«, beruhigte Matt ihn.

»Ich sag ja nicht, dass es hier nicht auszuhalten wäre«, räumte Tobias ein. »Man ist rundum versorgt, die Stadt ist superschön, und ich bin sicher, dass wir uns auf Dauer recht gut mit den Pans anfreunden könnten. Wenn ich so darüber nachdenke, dann könnte das hier sogar ein kleines Paradies für uns drei werden. Ich glaube nicht, dass der Torvaderon uns hier aufstöbert, und die Zyniks noch weniger!«

»Wir dürfen uns nicht einlullen lassen«, warnte Ambre. »Schließlich sind wir nicht nur wegen Matt in den Süden aufgebrochen, sondern auch, um mehr über die Königin und ihre Machenschaften herauszufinden.«

Tobias riss die Augen auf.

»Ich darf dich daran erinnern, dass du uns eigentlich nur ein kurzes Stück begleiten wolltest, nicht mehr. Zumindest hast du das behauptet!«

Ambre seufzte.

»Toby, das war doch nur eine Ausrede, um mit euch mitgehen zu dürfen.«

»Wie dem auch sei«, fuhr Matt dazwischen, »uns bleiben fünf Tage, um den Rat der Frauen davon zu überzeugen, uns ans Ufer des Trockenen Meeres zu bringen. Falls sie sich dagegen entscheiden, werden wir uns nicht nur allein durchschlagen, sondern auch irgendwie von hier fliehen müssen.«

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte Tobias.

»Das weiß ich noch nicht. Ich war ihnen gegenüber so ehrlich wie möglich, ich habe ihnen alles über uns gesagt, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie umgekehrt genauso offen sind.«

»Da bin ich voll deiner Meinung! Sie verheimlichen uns irgendetwas!«

»Matt, du hast nicht alles gesagt, du hast kein einziges Mal die Alteration erwähnt«, bemerkte Ambre.

»Na ja, sagen wir mal, dass ich für den Fall der Fälle ein paar Eisen im Feuer behalten wollte …«

»Wie gehen wir also am besten vor, um sie zu überzeugen?«

»Das ist eine politische Angelegenheit«, meinte Matt. »Bei solchen Auseinandersetzungen ist es von Vorteil, so viel wie möglich über seinen Gegner zu wissen. Deshalb müssen wir hinter ihre Geheimnisse kommen und herausfinden, was sie uns nicht zeigen oder sagen wollen.«

»Aber wäre es nicht besser, ihnen einfach zu vertrauen?«, wandte Ambre ein. »Es stimmt schon, dass sie ein bisschen geheimniskrämerisch tun, aber andererseits ist es verständlich, dass es eine Weile dauern wird, bis sie uns voll und ganz akzeptieren. Ich glaube nicht, dass wir ihren Respekt gewinnen, indem wir hinter ihrem Rücken handeln.«

»Matt hat recht«, entgegnete Tobias, »es wäre verkehrt, einfach nur dazusitzen und Däumchen zu drehen.« Er drehte sich zu seinem Freund um und streckte stolz die Brust heraus. »Nun, wie gehen wir vor?«

»Torshan wollte uns von dieser Tür in der Bibliothek weglotsen. Ich denke, genau da sollten wir ansetzen. Uns bleiben fünf Tage, um ein Mittel zu finden, wie wir sie öffnen können.«

Die Blicke der beiden Jungen wanderten zu Ambre.

»Oh nein!«, protestierte sie. »Ich weiß, worauf ihr hinauswollt. Kommt nicht in Frage!«

»So klug, wie du bist, lassen sie dich bestimmt in die Bibliothek«, beharrte Matt.

»Das ist eine ganz schlechte Idee!«

»Ambre, das ist wirklich wichtig. Wenn sie sich in fünf Tagen weigern, uns gehen zu lassen, sitzen wir in der Falle, dann werden sie uns auf Schritt und Tritt überwachen, damit wir nicht abhauen oder Dummheiten anstellen. Wir müssen jetzt handeln!«

Ambre seufzte widerwillig.

Matt streckte die Hand aus. Tobias legte seine darauf, Ambre tat es ihm nach einigem Zögern gleich, und zusammen riefen sie:

»Die Gemeinschaft der Drei!«