45. Es gibt keine Wunder

Auf dem Kai liefen rund sechzig Zynik-Krieger auf.

Matt, Tobias und die anderen Pans kauerten sich am Ausgang zusammen. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis man sie entdeckte.

»Wir müssen hier raus«, sagte Matt.

»Unmöglich!«, protestierte Colin. »Die Schattenfresser werden uns verschlingen!«

»Glaubst du, dass wir gegen diese Armee auch nur die geringste Chance haben?«

»Lieber sterbe ich, als noch mal einen Ring in den Bauch zu bekommen«, rief einer der Pans, der Mia untergehakt hielt.

»Geht mir genauso«, pflichtete sie ihm bei.

Die anderen nickten heftig. Die Flucht hatte ihnen wieder mehr Tatkraft und Entschlossenheit verliehen.

Matt packte den Schwertgriff mit einer Hand.

»Auf mein Kommando rennt ihr los, so schnell ihr könnt«, sagte er.

»Haltet nach dem Zeppelin Ausschau«, fügte Tobias hinzu.

Das Tor knarzte, als sie es aufschoben, und machte damit die Zyniks auf sie aufmerksam, die sich sofort formierten.

»Jetzt!«, schrie Matt.

Ohne die Gischt der Wasserfälle kam ihnen die Nachtluft schwül und drückend vor. Unter dem weiten Sternenhimmel war es weniger dunkel als in der Höhle. Die Pans umgingen einen Engpass und entfernten sich ein Stück von der Felswand, bis sie schließlich auf einem Vorsprung standen, von dem aus sie ins Land hinaussehen konnten. Zu beiden Seiten des Flusses erstreckte sich ein lichter Tannenwald. In ihrem Rücken erhob sich die gewaltige Felswand, deren Kamm unfassbar hoch in den Himmel ragte und das Tal vom Rest der Welt abschnitt.

»Wo ist der Zeppelin?«, rief Colin. »Tobias, bist du sicher, dass Ambre deine Nachricht bekommen hat?«

»Hundertprozentig. Bestimmt hat der Unschuldstrinker da seine Finger im Spiel.«

Hinter ihnen wurde das Getrappel der Stiefel immer lauter, doch am Ausgang schienen die Zyniks zu zögern.

»Für wann habt ihr euch hier verabredet?«, fragte Matt.

»Zum Sonnenaufgang!«

»Also ist noch nichts verloren. Schaut, im Osten taucht ein heller Streifen auf. Sie kommt sicher gleich.«

»So nah an der Felswand könnte uns der Zeppelin sowieso nicht abholen«, bemerkte Colin. »Wir sollten zu dieser Lichtung am Flussufer hinuntergehen.«

Da erhob sich auf einmal über ihnen ein sonderbares Gekreisch, das wie der Schrei eines Raubvogels klang und in einer Art meckerndem Lachen endete.

Aus mehreren dunklen Spalten in der Felswand schwebten längliche Gestalten.

»Die Schattenfresser!«, brüllte Colin. »Lauft!«

Als sie losrannten, stürzten sich die Ungeheuer die Felswand hinunter.

Matt, der das Schlusslicht bildete, erkannte auf den ersten Blick, dass Mia und ihre beiden Träger die Lichtung nie im Leben erreichen würden. Er pfiff Plusch zu sich und hievte das Mädchen auf den Rücken der Hündin, damit die anderen wenigstens versuchen konnten, vor den Schattenfressern davonzulaufen.

»Und wenn der Zeppelin … nicht kommt?«, japste Jon.

»Es wird bald hell … Wir müssen sie uns so lange vom Leib halten, bis die Sonne aufgeht!«, keuchte Matt zurück.

Die Schattenfresser glitten blitzschnell den Steilhang hinunter; sie würden sie bald eingeholt haben. Matt warf immer wieder einen Blick über die Schulter und machte sich schon auf das Schlimmste gefasst: den Kampf.

Zum Glück erreichten sie gleich darauf den Tannenwald, dessen Äste ihnen einen gewissen Schutz boten. Hier mussten die Schattenfresser sich vorsichtiger bewegen, um nicht gegen einen Baum zu prallen.

Dennoch flogen die ersten Ungeheuer geradewegs in das Gehölz hinein, und zwei von ihnen kamen schon bedrohlich nahe.

Matt ließ die anderen weiterlaufen und fuhr so plötzlich herum, dass er den ersten Schattenfresser damit überrumpelte und ihm den Kopf abschlug, bevor er ausweichen konnte.

Der zweite legte seine Flügel an und fuhr die Klauen aus, um vor Matt zu landen. Matt wirbelte sein Schwert im Kreis und schnitt mit der Klinge tief in das, was der Oberkörper des Wesens sein musste. Mehrere Schichten schwarzer Haut platzten auf und stießen eine Art dunkle Rauchwolke aus. Das Blut des Schattenfressers waberte hervor, als schwebte es in luftleerem Raum oder im Wasser.

Das Ungeheuer ließ seine Fangzähne aufblitzen und duckte sich zum Sprung.

Matt streckte ihm die Schwertspitze entgegen und durchbohrte ihm den Schädel.

Im Wald erhob sich ein vielstimmiges Klagegeheul.

Sind sie etwa Telepathen? Matt lief es eiskalt über den Rücken. Mühsam stieß er den toten Schattenfresser zur Seite, packte sein Schwert und rannte weiter.

Die anderen waren an der Lichtung angekommen. Durch ein Dickicht aus Schilf und Farnwedeln schimmerte der Fluss.

Ob die Schattenfresser wohl schwimmen konnten? Matt war nicht wohl bei der Vorstellung, ins Wasser zu springen, aber im schlimmsten Fall würden sie versuchen müssen, auf diesem Weg zu fliehen.

Die Pans drängten sich im Kreis zusammen, während die Schattenfresser um die Tannen und Kiefern am Rand der Lichtung sausten.

Im Osten wurde der Himmel immer heller, aber das Licht war noch nicht stark genug, um den Pans Hoffnung zu machen.

Schließlich wagten sich die Schattenfresser ins Freie und stakten auf ihren langen Klauen auf sie zu. Die Flügel hatten sie wie einen schützenden Mantel über ihren Leib gebreitet.

Tobias wies auf den vordersten von ihnen, und Matt sah, wie sich auf der Stirn des Ungeheuers ein durchsichtiges Auge auftat.

»Er wird uns mit einem Blitz blenden, um unsere Schatten hervortreten zu lassen!«

Matt hechtete aus dem Kreis der Pans heraus und warf sich dem Blitzer entgegen. Zwei weitere Schattenfresser kamen heran und leckten sich mit einer klebrig schwarzen Zunge die Lippen.

Der erste Blitz war so grell, dass Matt nichts mehr sah, aber er schlug so wild mit seinem Schwert um sich, dass er einen der Schattenfresser niederstreckte und der andere zurückweichen musste.

Zweiter Blitz. Matt spürte einen furchtbaren Schmerz im Rücken, als würde ihm jemand die Haut abziehen, und brüllte laut auf.

Tobias’ Pfeil erwischte den Schattenfresser an der Stelle zwischen Kopf und Oberkörper. Das Ungeheuer war augenblicklich tot.

Je näher das Ziel war, desto sicherer schoss Tobias.

»Lass sie auf keinen Fall an deinen Schatten heran«, warnte er Matt.

Kaum war der Schmerz abgeklungen, stürzte sich Matt auf den Blitzer und rammte die Klinge in das Leuchtauge. Während eine Wolke von Blut aus der tödlichen Wunde quoll, tauchten von überall her neue Ungeheuer auf.

»Es sind zu viele!«, schrie Mia, die noch immer auf Pluschs Rücken saß.

Matt wich bis zu Tobias zurück.

»Auf drei rennen wir zum Fluss.«

»Wenn wir das machen, können wir nicht zusammenbleiben, und dann findet uns der Zeppelin nicht!«

»Fällt dir was Besseres ein?«

Da brüllte Colin mit überschnappender Stimme:

»Da ist sie! Da ist sie! Die Gondel des Zeppelins!«

Aus dem Nebel, der über dem gigantischen Wasserfall aufstieg, kam ein U-Boot-ähnliches Gefährt zum Vorschein, das an den Tentakeln einer Riesenqualle hing.

»Hilf mir, uns diese Dinger vom Leib zu halten«, sagte Matt zu Tobias.

Tobias schoss mehrere Pfeile ab, um die Schattenfresser zu erschrecken, und Matt zog seine Klinge durch die Luft. Die Kreaturen rückten trotzdem immer näher.

Ein weiterer Blitzer kam auf sie zu, flankiert von drei anderen Schattenfressern, so dass Matt nicht zu ihm vordringen konnte. Mehrere Blitze blendeten ihn. Er schlug wie wild um sich und mähte alles nieder, was in Reichweite kam, doch immer wieder erwischte ihn eine spitze Klaue, und der üble Geruch, den die Ungeheuer verströmten, raubte ihm schier den Atem.

Manchmal griffen sie aus allen Richtungen gleichzeitig an, und für jeden Schattenfresser, den er tötete, kamen zwei neue nach.

Ein Mädchen kreischte auf, als zwei der Monster sich über ihren Schatten hermachten. Matt hob einen Stein auf und schleuderte ihn in Richtung der Angreifer, aber der Wurf ging fehl.

Stattdessen stürzte sich Plusch auf sie, biss einem Schattenfresser einen Flügel ab und trampelte den anderen nieder.

Stu hingegen konnte gerade noch einen erstickten Schrei ausstoßen, bevor ihn drei Ungeheuer schnappten und ins Unterholz zerrten. Drei Blitze schossen aus dem Gebüsch hervor, und die Beine ihres Opfers hörten schlagartig auf zu strampeln.

Bei diesem Anblick verlor Matt allen Mut. Das Gemetzel hatte gerade erst begonnen.

Da fiel plötzlich eine Strickleiter vom Himmel.

Geräuschlos schwebte die Riesenqualle über ihnen.

Matt und Tobias schöpften neue Hoffnung und gaben noch einmal alles, um ihre Gefährten zu decken, während die Pans einer nach dem anderen in die Höhe kletterten. Schließlich waren nur noch Plusch und Mia übrig. Ein Tau, an dessen Ende zwei breite Lederriemen befestigt waren, baumelte über ihren Köpfen.

Mit weit ausholenden Armbewegungen winkte Tobias zu der Gondel hinauf.

»Tiefer, tiefer!«

Unterdessen wirbelte Matt weiter sein Schwert im Kreis, auch wenn das Blitzlichtgewitter zunahm und die Schattenfresser unbeeindruckt näher kamen, immer auf der Lauer nach einer Gelegenheit, sich auf den Schatten ihrer Beute zu stürzen.

Das Luftschiff sank noch ein wenig tiefer, bis Tobias nach den Riemen griff und sie Plusch anlegte. Gleich darauf stieg die Hündin abrupt in die Höhe. Tobias eilte zu Mia, die mit ihrem verletzten Bein nicht auftreten konnte.

»So schaffen wir es nie die Leiter hoch«, stellte er fest. »Die Schattenfresser sind zu schnell.«

»Lass mich nicht zurück, bitte!«, flehte sie.

Aus dem Lagerraum des Zeppelins wurden zwei große Wasserfässer abgelassen.

»Matt«, rief er, so laut er konnte. »Schnell, spring da rein!«

Das Luftschiff setzte sich schon in Bewegung.

Tobias rannte los, schnappte eins der Fässer und hievte Mia hinauf, bevor er selbst hineinkletterte.

Matt schüttelte ein Ungeheuer ab, das an seinem Schatten saugte, und schwang sich in das zweite Fass.

Im nächsten Moment stieg der Zeppelin in die Höhe, und die drei Pans schaukelten wild hin und her.

Während der Zeppelin Fahrt aufnahm, wurden die Fässer Stück für Stück hochgezogen. Da zeigte sich endlich die Sonne am Horizont und schickte die ersten Strahlen über die Lichtung.

Die Schattenfresser stießen ein langgezogenes Heulen aus und verschwanden im Wald.

Im Innern des Zeppelins angekommen, kugelten Tobias und Matt erschöpft aus den Fässern.

Abgesehen von ein paar Schrammen und blauen Flecken, hatten sie die Flucht heil überstanden.

Als jemand im Lagerraum zu applaudieren begann, sah Matt verwundert auf.

Vor ihnen standen der spirituelle Berater, der feixend in die Hände klatschte, ein Mann mit einem dünnen weißen Schnurrbart und vier bewaffnete Soldaten.

»Was für ein spektakulärer Fluchtversuch! Aber ich fürchte, ihr habt euch umsonst verausgabt. Bill, nehmen Sie Kurs auf Süden. Unsere Königin erwartet uns.«