33. Die Hautjagd

In der Abendsonne glitzerte die Haut der Meduse so hell, als schwebte ein riesiger ovaler Spiegel am Himmel.

Tobias löste die Sehne aus dem Bogen, um das Holz zu schonen, und ging die Habseligkeiten durch, die er in seinem Rucksack mit sich herumtrug. Mit diesem beruhigenden Ritual vergewisserte er sich jedes Mal, dass nichts Wichtiges fehlte und er für alle Eventualitäten gerüstet war.

Die Kajüte war klein, aber bequem. So abstoßend der Unschuldstrinker auch war, auf seinem Luftschiff fühlte man sich wie auf einem Luxusdampfer.

Da klopfte es.

»Ja?«

»Ich bin’s, Ambre.«

Tobias öffnete die Tür, und Ambre kam ins Zimmer, noch bevor er sie hereinbitten konnte.

»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte sie. »Wäre es okay für dich, wenn ich hier schlafe? Ich traue dem Unschuldstrinker nicht, wir sollten lieber vorsichtig sein.«

Da Ambre für gewöhnlich gern allein blieb, schrillten bei Tobias die Alarmglocken. Sie musste sich sehr bedroht fühlen, wenn sie von sich aus einen solchen Vorschlag machte.

»Kein Problem.«

»Würdest du mir helfen, meine Matratze herzutragen? Ich schlafe auf dem Boden.«

»Nimm ruhig meine Koje, das stört mich über …«

»Nein, ich bestehe darauf, ich schlafe auf der Matratze. Spiel bloß nicht den Gentleman, darüber sind wir doch längst hinaus.«

Sie schleppten Ambres Matratze in Tobias’ Kajüte und legten sie neben seine Koje. Als sie das Bettzeug darauf ausbreitete, beschloss Tobias, ihr seine Zweifel anzuvertrauen.

»Ich glaube, es wird ganz schön schwierig, Matt zu befreien.«

»Ich weiß.«

»Und was machen wir danach? Wir sind ins Reich der Zyniks gekommen, um mehr über sie zu erfahren, aber wir werden ja wohl nicht ewig bleiben, oder?«

»Ich schätze, wir werden auf die Carmichael-Insel zurückkehren, um den anderen zu berichten, was wir herausgefunden haben. Der Gedächtnisverlust der Zyniks, der Nabelring, die Königin …«

»Dann sollte am besten auch ein Weitwanderer dabei sein, der es den anderen Gemeinschaften und in Eden weitererzählen kann.«

Ambre nickte nachdenklich. Nach einer kurzen Pause erwiderte sie:

»In drei Monaten werde ich sechzehn. Das ist das Mindestalter für Weitwanderer. Danach gehe ich selbst nach Eden, um mich den Weitwanderern anzuschließen.«

»Du willst uns verlassen?«, fragte Tobias so fassungslos, als plane sie ein Verbrechen.

»Davon habe ich von Anfang an geträumt. Und außerdem können wir ja nicht unser ganzes Leben lang zusammenbleiben, oder?«

»Aber … Und die Gemeinschaft der Drei?«

»Die wird weiter bestehen, aus der Ferne und vielleicht als Erinnerung daran, was wir einmal waren.«

»Du bist in Ben verliebt, stimmt’s?«, begriff Tobias. »Jetzt erinnere ich mich wieder: Ihr zwei wart unzertrennlich, als er auf der Insel zu Besuch war.«

»Nein, absolut nicht! Als Weitwanderer ist man ganz auf sich allein gestellt, das hat damit gar nichts zu tun! Du bildest dir zu viel ein, Toby! Ich will durchs Land ziehen, um die Pans zusammenzuhalten, ich will von Fortschritten und neuen Entdeckungen berichten, beim Kartographieren der Welt helfen und eine Enzyklopädie der neuen Tiere und Pflanzen erstellen, mit einem Wort, ich will mich nützlich machen!«

»Und wir? Was wird dann aus uns?«

»Jeder muss seinen eigenen Weg finden, wir können doch nicht bis an unser Lebensende zusammenbleiben …«

»Ich dachte, genau das hätten wir uns geschworen, als wir die Gemeinschaft der Drei gegründet haben.«

Ambre wandte verlegen den Blick ab.

»Tut mir leid, Toby.«

»In drei Monaten also? Dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit, um dir die Sache auszureden«, überlegte Tobias und war schon wieder ganz guter Dinge. »Abgesehen davon machen wir doch gerade so was Ähnliches wie die Weitwanderer!«

»Das war einer der Gründe, weswegen ich mich euch angeschlossen habe. Je mehr wir über die Zyniks in Erfahrung bringen, desto besser sind wir für die Zukunft gerüstet.«

Ambre holte ihren Rucksack und richtete sich am anderen Ende der Kajüte ein Eckchen für sich ein. Da sie sich umziehen wollte, ließ Tobias sie allein und ging in den Aufenthaltsraum.

Das Zimmer war vom Boden bis zur Decke mit rotem Plüsch ausgekleidet. Die beiden riesigen Bullaugen an Steuerbord und Backbord boten eine phantastische Aussicht, und Tobias setzte sich auf eins der Sofas, um die Landschaft zu bewundern.

Der Unschuldstrinker trat ein und schlug ihm einen kleinen Ausflug vor. Tobias folgte ihm zu einer Leiter im Mittelgang, kletterte durch eine Falltür in der Decke und stand auf dem Dach der Gondel.

Der Wind blies so stark, dass er froh war, sich an einem Geländer festhalten zu können. Einige Meter über ihnen schwebte der rötlich blau geäderte Bauch der Meduse. Sie schien in der Luft zu tanzen.

Tobias musterte die durchsichtigen Tentakel, die als Aufhängung dienten. Jedes von ihnen war mit einem Eisenring an der Gondel befestigt. Tobias streckte die Hand aus, um eines anzufassen, doch der Unschuldstrinker riss ihn unsanft zurück.

»Diese Dinger sind zwar ganz lustig, aber ich glaube nicht, dass du darüber lachen könntest«, warnte er. »Schau!«

Er zeigte auf einen Vogel, der soeben eins der Tentakel gestreift hatte. Offenbar waren sie so klebrig und zäh wie die Fäden eines Spinnennetzes, denn er schlug verzweifelt mit den Flügeln, ohne sich losreißen zu können. Plötzlich stieg dünner weißer Rauch aus seinem Gefieder auf, und er begann in höchster Angst zu piepsen, während er langsam zu der Meduse hinaufgezogen wurde. Der kleine Körper rauchte immer stärker, bis sich schließlich einer der Flügel löste und von dem Tentakel verschluckt wurde.

»Sobald du einmal daran festklebst, lösen dich die Säuren aus dem Verdauungstrakt der Meduse von innen auf«, erklärte der Unschuldstrinker. »So fängt und verschlingt sie alles, was in Reichweite kommt. Das sind vor allem Mücken, Fliegen und Vögel, aber wenn ein Säugetier aus Versehen in die Tentakel gerät, widerfährt ihm das Gleiche. Ein bemerkenswertes Spektakel.«

»Widerlich trifft es wohl besser«, sagte Tobias patzig.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es war, dieses Wesen einzufangen! Ganz zu schweigen davon, es zu zähmen!«

Der Mann fuhr sich beim Sprechen unaufhörlich über den Schnurrbart. Tobias beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Es faszinierte ihn, dass jemand so abstoßend und gleichzeitig so geheimnisumwittert sein konnte.

»Ist Unschuldstrinker eigentlich Ihr einziger Name? Ich meine, heißen Sie tatsächlich so?«

Der Mann hob eine Augenbraue und musterte Tobias lange.

»Das ist der Spitzname, den man mir in Babylon gegeben hat. Du kannst mich aber auch Bill nennen, wenn dir das lieber ist.«

»Bill?«, echote Tobias.

Das klang ja geradezu harmlos! Dass der Unschuldstrinker in Wirklichkeit Bill hieß, ließ ihn in Tobias’ Augen gleich weniger furchterregend erscheinen.

»So hieß ich früher.«

»Früher? Sie meinen, vor der Katastrophe? Erinnern Sie sich an Ihr altes Leben?«

»Nur in Fetzen.«

»Ich dachte, dass alle Zyniks das Gedächtnis verloren haben.«

»Viele, aber nicht alle.«

Auf einmal fiel Tobias wieder ein, was Balthazar ihnen gesagt hatte. Manche Erwachsene waren so pervers, so erfüllt von ihren Lastern, dass sie durch diese Besessenheit gewissermaßen vor der Leere bewahrt wurden. Die Verderbtheit funktionierte bei ihnen wie ein Schutzschild, der einige Erinnerungen erhalten hatte. Unwillkürlich dachte Tobias an den allerersten Zynik zurück, dem sie begegnet waren: Johnny. Der Mann war zudringlich geworden, und Matt hatte ihn töten müssen, um sie beide zu retten. Auch Johnny hatte sein Gedächtnis nicht ganz verloren.

Was für eine Welt, in der sich nur die Verruchtesten ihr wahres Selbst bewahrt haben und alle anderen wild oder gewalttätig geworden sind!

»Komm, hier ist es zu windig, um sich zu unterhalten«, sagte der Unschuldstrinker und stieg die Leiter hinunter.

Als sie wieder im Aufenthaltsraum waren, schenkte er sich etwas ein, was wie Whisky aussah.

»Arbeiten Sie manchmal mit den Soldaten der Königin zusammen?«, fragte Tobias.

»Nein. Aber ich bin bei der Entblößung dabei.«

»Was ist das?«

»Wenn die Soldaten die Käfige mit den gefangenen Kindern bringen, müssen sich die Pans in einer Scheune splitternackt ausziehen, und wir vergleichen ihre Haut mit der Zeichnung, die uns die Königin gegeben hat: der Großen Karte.«

»Darum geht es also bei dieser Hautjagd?«

»Genau. Die Königin hat seltsame Träume, die ihr den Weg weisen, auf dem sie uns zur Erlösung führen wird. Von Anfang an ist ihr immer wieder die Große Karte im Traum erschienen, bis sie sie irgendwann aufzeichnete und ihr klarwurde, dass es sich um eine göttliche Botschaft handelt. Wir sollen das Kind finden, das diese Zeichnung auf der Haut trägt.«

»Und was geschieht dann mit ihm?«

»Im Herzen des Reichs der Königin steht ein rätselhafter Tisch, auf dem sie nach der Katastrophe erwacht ist. Dieser Tisch zeigt eine Weltkarte. Wenn man die Haut jenes Kindes auf dem Tisch ausbreitet, wie sie es im Traum erlebt hat, dann lässt sich daraus ersehen, wo das Verlorene Paradies liegt.«

»Aber das ist ja furchtbar! Das heißt, dass sie … dass sie das Kind töten will!«

Der Unschuldstrinker grinste widerwärtig.

»So ist es«, sagte er genüsslich.

Da ging Tobias ein Licht auf. Wenn Malronce so versessen darauf war, Matt zu fangen, dann musste er dieses Kind sein.

Die Zyniks würden ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen.