22. Ein alter Bekannter

Ambre ließ sich auf eine Steinbank sinken und blickte verstört zu Boden.

»Es ist unvermeidlich«, sagte sie traurig. »Dadurch, dass wir älter werden, verändern wir uns, bis wir eines Tages ins Lager der Zyniks überwechseln.«

Tobias setzte sich neben sie und packte sie an den Schultern.

»Das ist nicht sicher! Schau uns doch an: Wir haben schon so viel durchgemacht und erlebt, aber wir haben trotzdem nicht das Gefühl, ihnen ähnlich geworden zu sein. Und dabei sind wir viel reifer als früher, wenn du mich fragst.«

»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass es nur um geistige Reife geht, es ist auch eine … körperliche Entwicklung.«

»Wie meinst du das?«

»Ich spreche von der Sexualität, Toby, von Begehren! Diese Bedürfnisse, die sich in uns zu regen beginnen, könnten der Auslöser dafür sein, dass wir uns den anderen, jüngeren Pans entfremden und irgendwann keine Gemeinsamkeit mehr zwischen uns sehen. Die Pubertät zerstört unser inneres Gleichgewicht, und wenn die Hormone uns nach und nach zu Zyniks werden lassen, dann gibt es keine Hoffnung mehr, denn das ist eine ganz normale Entwicklung, die keiner von uns aufhalten kann!«

»Ich glaube nicht, dass es nur daran liegt, weil … Ich zum Beispiel, ich habe manchmal Träume, die ziemlich … Verstehst du, was ich meine? So was fängt bei Jungen eben irgendwann an, und bei mir geht das schon eine ganze Weile so, weißt du? Und … ähm … Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, dass ich deswegen … irgendwie böse werde, verstehst du?«

Ambre nickte zögernd.

»Und außerdem«, fügte Tobias hinzu, »sagt man doch von manchen Erwachsenen, dass sie wie große Kinder sind! Wenn wir uns diese Unbeschwertheit bewahren, können wir vielleicht bleiben, wie wir sind! Oder fühlst du dich den Zyniks etwa irgendwie nahe? Pass auf, wir legen einen Eid ab: Wenn einer aus der Gemeinschaft der Drei in Verwirrung gerät, bringen die anderen ihn wieder zur Vernunft, okay? Na los, Kopf hoch, du bist doch sonst nicht so leicht zu erschüttern! Wir sollten Colin suchen, er kann uns sicher so einiges erklären.«

»Das ist riskant. Er hat uns schon einmal verraten, er könnte es wieder tun.«

»Oh, keine Sorge, dem vertrau ich nie wieder! Er hat den alten Carmichael umgebracht! Und er hat uns die Zyniks auf den Hals gehetzt, allein dafür würde ich ihn lieber tot als lebendig sehen! Aber wenn er uns wertvolle Auskünfte liefern kann, ertrage ich seinen Anblick gern. Also, nichts wie los.«

Sie betraten das Wirtshaus, in dem es nach Schweiß und Tabak stank. Da es außer einigen winzigen Luken keine Fenster gab, verbreiteten mehrere Laternen ein flackerndes Licht und den ranzigen Geruch von brennendem Fett. Die Gaststube war zu drei Vierteln mit Männern besetzt, die auf ihren Stühlen fläzten oder Karten spielten, während sie sich lautstark unterhielten. Tobias fand Colin auf den ersten Blick: Er saß ganz allein vor einem Krug aus gebranntem Ton und starrte geistesabwesend in den Wein, als betrachte er sich in einem rubinroten Spiegel. Er hatte noch immer lange braune Haare, gelbe Zähne und überall Pickel im Gesicht.

»Überraschung«, sagte Tobias, als er sich zu ihm an den Tisch setzte.

Colin hob träge den Kopf. Als er registrierte, wen er vor sich hatte, fuhr er hoch, doch Ambre hatte sich schon hinter ihn gestellt und drückte ihn wieder auf seinen Stuhl hinunter.

»Immer mit der Ruhe«, sagte sie, »wir sind dir nicht mehr feindlich gesinnt. Du hattest nämlich recht.«

»Ja, wir müssen uns bei dir entschuldigen«, fuhr Tobias rasch fort, »diese dämlichen Pans sind es nicht wert, dass man für sie kämpft. Die Erwachsenen sind die Zukunft!«

Colin stieß einen erleichterten Seufzer aus, der in einem geräuschvollen Rülpser endete.

»Mann, ich hätte mir vor Schreck fast in die Hose gemacht«, sagte er und schenkte sich Wein nach.

»Ehrlich gesagt, hielt ich dich für ein Gespenst, als wir hier reinkamen«, gluckste Ambre. »Wir dachten, du bist ertrunken!«

»Wär ich auch fast! Die Fische haben die Soldaten oder zumindest das, was von ihnen noch übrig war, ratzeputz aufgefressen, das war echt die Hölle! In der Nacht habe ich so viel Wasser verschluckt, dass ich garantiert nie wieder welches anrühre!«, plapperte Colin drauflos und leerte seinen Kelch in einem Zug.

Die Vorstellung, wie die verwundeten Soldaten von Monstern aus den Tiefen des Flusses verschlungen wurden, jagte Tobias einen Schauer über den Rücken. Ihm wurde immer noch schlecht, wenn er an die blutige Schlacht zurückdachte.

»Wie hat es dich denn hierher verschlagen?«, fragte Ambre.

»Nach Babylon? Eigentlich mehr aus Zufall. Ich bin eine Woche lang durch den Wald geirrt und wäre beinahe einigen hungrigen Mampfern in die Hände gefallen, aber irgendwann hat mich der Rauch eines Lagerfeuers zu einer Patrouille von Zyniks geführt, und die haben mich hergebracht.«

»Und man hat dich hier aufgenommen?«

Colin starrte wieder in seinen Kelch.

»Nicht direkt.«

»Wie hast du es dann geschafft, hier geduldet zu werden?«

»Ich habe einen Beschützer.«

Er schenkte sich wieder nach. Als Tobias ihm ins Gesicht sah, tat er ihm plötzlich leid. Vor irgendetwas schien Colin furchtbare Angst zu haben. Wer auch immer dieser Beschützer war, er brachte Colin offenbar dazu, jede Erinnerung an ihn im Alkohol zu ertränken.

»Wir kennen hier leider niemanden«, erzählte Ambre, »also fühlen wir uns etwas aufgeschmissen. Vielleicht kannst du uns ja helfen?«

»Ja«, fügte Tobias hinzu, »was soll denn zum Beispiel dieses Bauchnabelpiercing, das sie den Pans hier in der Stadt verpassen?«

»Das ist der Nabelring. Als die Patrouillen die ersten gefangenen Kinder brachten, haben die Zyniks alle möglichen Experimente an ihnen durchgeführt und irgendwann zufällig festgestellt, dass es die Pans gefügig macht, wenn sie ihnen einen Ring aus der speziellen Legierung stechen, aus der sie auch ihre Waffen schmieden. Seither haben alle Sklaven einen.«

»Aber du nicht?«, fragte Tobias.

»Ich bin doch kein Sklave!«, rief Colin so empört, dass er Tobias dabei mit Spucke besprühte. »Ich bin aus freien Stücken hier! Ich habe mich freiwillig zu den Waffen gemeldet, um Königin Malronce zu dienen!«

Einige Gäste wandten sich zu ihnen um. Hastig beugte Ambre sich zu Colin und fragte im Flüsterton:

»Wer ist diese Königin eigentlich?«

»Sie wird uns in eine strahlende Zukunft führen, in die Erlösung. Ohne sie sind wir nichts als primitive Wilde. Sie ist die Wissende, sie weiß Bescheid!«

»Worüber denn?«, fragte Tobias, der Colin nicht so recht folgen konnte.

»Über alles! Sie weiß, was mit uns passiert ist und wie wir den Fluch abschütteln können, der auf uns lastet. Deswegen wird sie von allen verehrt und als Königin anerkannt.«

»Weißt du, warum sie es auf Matt abgesehen hat? Wir haben überall in der Stadt Steckbriefe gesehen.«

Colin verzog mürrisch das Gesicht, als er feststellte, dass sein Weinkrug leer war.

»Nö, keine Ahnung«, grummelte er. »Das weiß nur die Königin.«

»Und hast du …«, begann Ambre.

»Hört auf, mir Löcher in den Bauch zu fragen«, stöhnte Colin. »Ihr seid viel zu neugierig! Habt ihr euch denn überhaupt beim Ministerium gemeldet, als ihr angekommen seid?«

»Ja, klar«, log Ambre, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Dann zeigt mal eure Armbänder! Jeder Jugendliche, der in der Stadt aufgenommen wird, bekommt ein Armband zum Beweis, dass er registriert ist!«

Beim Anblick ihrer zerknirschten Gesichter grinste Colin schadenfroh.

»Wusste ich’s doch. Ihr seid noch gar nicht dort gewesen.« Er stemmte sich in die Höhe und schwankte auf die Tür zu. »Sie werden es mir zu danken wissen, wenn ich euch denunziere.«

Ambre und Tobias folgten ihm so unauffällig wie möglich hinaus. Als sie außer Sichtweite waren, stellte Ambre sich ihm in den Weg.

»Tu das nicht, wir sind doch gerade erst angekommen. So werden sie uns nie in ihre Reihen aufnehmen.«

»Das … ist … nicht mein Problem«, lallte Colin. »Weg da.«

Da glitt ein Schatten über sein Gesicht.

Das Dunkel breitete sich über die Straße und schließlich das gesamte Viertel aus.

Ein gewaltiger Zeppelin fuhr knapp über den Dächern über die Stadt hinweg. Die Gondel war so lang wie ein Dreimaster, und der Gasraum war … Tobias zwinkerte ein paarmal, weil er seinen Augen nicht traute.

Der Gasraum bestand aus einer langen, rötlich lila schimmernden Blase, die von blauen Adern durchzogen war. An ihrem unteren Ende zuckte und zitterte ein weißer Kranz, aus dem Hunderte durchsichtiger Tentakel hervorwuchsen, die als Aufhängung für die Gondel dienten.

Der Zeppelin war in Wirklichkeit eine riesige, länglich geformte Qualle.

Plötzlich stieg Tobias der scharfe Geruch von Urin in die Nase: Colin hatte sich tatsächlich in die Hose gemacht.

»Oh nein, er kommt früher als geplant«, sagte Colin ängstlich. »Ich muss zurück, ich muss zurück!«

Er schien mit einem Schlag nüchtern geworden zu sein.

»Wer ist das?«, fragte Ambre.

Colin rannte schon auf das ehemalige Universitätsgebäude zu.

»Der Unschuldstrinker«, schrie er, »der Unschuldstrinker!«