48. Reise nach Norden

Am Nachmittag brachte Colin Ambre und Jon bei, wie man den Zeppelin steuerte, und so konnte Jon den Platz im Cockpit übernehmen, als Matt gegen Abend eine Versammlung im Lagerraum einberief.

Der Unschuldstrinker und die vier Wärter lagen gefesselt und geknebelt in der Kammer.

»Ist jemand dagegen, dass wir sie uns vom Hals schaffen?«, fragte Matt in die Runde.

»Nichts lieber als das!«, rief eine Pan namens Nournia.

»Wir werfen sie in den Fluss, dann können sie selbst schauen, wo sie bleiben.«

»Hätten sie nicht die Todesstrafe verdient?«, fragte Mia, die ihr verbundenes Bein hochgelegt hatte.

»Es ist schon genug Blut vergossen worden«, wehrte Matt ab.

»Die Zyniks sind schuld, dass Perez, Jordan und Stu tot sind!«

»Und ein weiterer Pan, dessen Namen wir nicht kannten«, fügte Tobias hinzu und dachte traurig an den Jungen zurück, der die Entfernung des Nabelrings nicht überlebt hatte.

»Ich bringe keine wehrlosen Gefangenen um«, empörte sich Matt. »Wir werden keine kaltblütigen Mörder wie sie!«

Er stemmte die Klappe im Boden des Lagerraums auf. Tief unter ihnen schimmerte der Fluss. Als sie die Zyniks schwer atmend zu der Öffnung schleiften, wanden sich die Männer wild und in panischer Angst. Matt zog einen nach dem anderen zu sich heran, schnitt ihnen die Fesseln durch, damit sie schwimmen konnten, und stieß sie, ohne mit der Wimper zu zucken, über Bord.

Colin war bleich wie der Tod. Offenbar hatte er Angst, dass Matt es sich anders überlegte und ihm die gleiche Strafe zuteilwerden ließ.

Dann war der Unschuldstrinker an der Reihe.

Ambre stellte sich neben Matt und bat ihn, ihr das Messer zu geben.

Als sie den Unschuldstrinker an die Falltür zogen, warf sie es beiseite.

Als der Zynik begriff, dass sie seine Fesseln nicht durchschneiden würde, starrte er sie mit angstgeweitetem Blick an und stieß unter seinem Knebel dumpfe Laute aus. Ungerührt stellte Ambre einen Fuß auf seinen Rücken.

»Für all die Schandtaten, die Sie begangen haben, lasse ich den Fluss entscheiden, ob Sie leben oder sterben sollen«, sagte sie ruhig.

Dann stieß sie den Unschuldstrinker mit einem kräftigen Tritt in die Tiefe.

Sein Körper krümmte sich im Fall zusammen, bevor er auf die Wasseroberfläche aufschlug und im dunklen Strom versank.

Die Pans sahen Ambre furchtsam an, und in so manchen Blick mischte sich leise Bewunderung.

Sie wandte sich ab und verließ den Raum.

 

Während Ambre das Luftschiff steuerte, berichtete Matt den anderen Pans beim Abendessen im Aufenthaltsraum von der Reise der Gemeinschaft der Drei. Von den Steckbriefen, mit denen ihn die Königin suchen ließ, über ihren Beschluss, der Entführung der Pans auf den Grund zu gehen, bis hin zu ihren Abenteuern im Blinden Wald ließ er keine Einzelheit aus. Er erwähnte sogar das furchterregende Wesen, das ihn verfolgte und das noch viel gefährlicher war als alle Schattenfresser der Welt: der Torvaderon.

»Wenn er sich tatsächlich in einer Gewitterwolke fortbewegt, wie du es beschrieben hast«, sagte Colin, »kann man ihm ja leicht aus dem Weg gehen.«

»Nein, dafür ist er viel zu schnell. Vor einem aufziehenden Sturm kann kein Pan davonlaufen. Und selbst wenn ich mit dieser Vermutung richtigliege, heißt das ja nicht, dass er sich nicht auch in anderer, unauffälligerer Gestalt fortbewegen kann. Er scheint unsere Spur verloren zu haben, als wir in den Blinden Wald eingedrungen sind, aber endgültig los sind wir ihn damit bestimmt nicht. So leicht gibt er nicht auf, es ist, als wäre ich … eine fixe Idee von ihm.«

»Hast du versucht, mit ihm zu kommunizieren? Vielleicht ist er gar nicht so böse, wie du denkst. Vielleicht wäre er zu einem Bündnis bereit!«

»Er hat nördlich der Insel, auf der wir lebten, ein ganzes Dorf ausgelöscht. Glaubt mir, er ist uns nicht freundlich gesinnt, und er wird auch nicht mit sich reden lassen.«

»Was will er denn dann? Warum hat er es auf dich abgesehen?«, fragte Mia.

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich aus demselben Grund wie Malronce.«

»Aber ich weiß es!«, ließ sich Tobias nicht ohne Stolz vernehmen. »Das hat mit dieser Hautjagd zu tun. Es geht um so eine Art Prophezeiung, mit der Malronce ihren Leuten ständig in den Ohren liegt. Die Muttermale, die manche von uns auf der Haut haben, sind nicht zufällig verteilt, sondern stellen gewissermaßen eine Sprache dar, und an der Haut eines bestimmten Kindes lässt sich ablesen, wo sich die Quelle allen Lebens befindet.«

»Die Quelle allen Lebens?«, wiederholte Nournia ungläubig.

»Ja, so haben wir uns das aus dem, was wir erfahren haben, zusammengereimt. Und diese Haut muss die von Matt sein.«

Alle Blicke wanderten zu Matt, der sich auf seinem Stuhl so klein wie möglich machte.

»Wieso gerade meine?«

»So ist das eben, das ist sicher nur Zufall. Jedenfalls sind der Torvaderon und Malronce auf der Jagd nach dir, weil du auf deinem Körper eine Botschaft trägst.«

»Eine Karte, meinst du«, korrigierte Colin.

»Genau, so was wie eine Landkarte.«

»Wahnsinn«, sagte Jon. »Kein Wunder, dass sie alle hinter dir her sind.«

»Und wie liest man diese Karte?«, fragte Matt weiter.

»Indem man … deine Haut auf einem speziellen Tisch ausbreitet, den die Zyniks das Steinerne Testament nennen und auf dem Malronce nach dem Sturm aufgewacht ist, wie sie behauptet.«

»Wenn sie unbedingt an so was glauben wollen, bitte«, sagte Jon. »Solange sie Matt nicht in die Finger kriegen, ist das nicht unser Problem.«

»Und ob wir ein Problem haben«, antwortete Matt. »Ein verdammt großes! Die Zyniks planen einen Einmarsch in das Gebiet der Pans. Sie stehen kurz davor, uns den Krieg zu erklären. Ich kenne ihren Schlachtplan, deshalb müssen wir auch so schnell wie möglich nach Eden.«

Diesmal meldete sich keiner zu Wort. Was sie von der Armee der Zyniks gesehen hatten, ließ keinen Zweifel daran, wozu die Erwachsenen imstande waren.

Jedem der Anwesenden war klar, was eine Invasion der Zyniks bedeuten würde.

Die Welt der Pans war vom Untergang bedroht.

 

Als die Pans den Raum verließen, um sich in den Kajüten schlafen zu legen, nahm Matt Tobias beiseite.

»Sag mal, weißt du, was mit Ambre los ist? Sie verhält sich irgendwie seltsam, finde ich. Was sie mit dem Unschuldstrinker gemacht hat, sieht ihr gar nicht ähnlich!«

Tobias biss sich auf die Lippen und seufzte.

»Ich habe ihr eigentlich versprochen, dir nichts zu sagen, aber ich glaube, die Sache ist einfach zu ernst. Wir haben einen Pakt mit dem Unschuldstrinker geschlossen, um der Charon folgen zu können. Und Ambre ist dafür eine Weile mit ihm allein geblieben.«

»Was ist da passiert?«

Tobias zuckte die Achseln. Er hatte zwar einen Verdacht, was zwischen den beiden vorgefallen sein könnte, sprach seine Befürchtungen aber lieber nicht aus.

»Jedenfalls ist sie seither nicht mehr ganz dieselbe«, sagte er nur.

»Ich sollte mit ihr reden.«

»Nein, nicht jetzt!«, bat Tobias erschrocken und hielt ihn am Handgelenk fest. »Lass ihr noch ein bisschen Zeit. Sie hat das Bedürfnis, allein zu sein.«

Matt nickte und legte seinem Freund die Hände auf die Schultern.

»Verrückt, was seit dem Sturm alles passiert ist, oder?«

»Ja. Wir haben uns ganz schön verändert.«

»Du vor allem!«

»Du aber auch. Du … Du bist in deine Rolle hineingewachsen.«

»Was für eine Rolle?«

Tobias deutete auf den Tisch, an dem sie kurz zuvor zusammengesessen hatten.

»Du zögerst nicht mehr, Entscheidungen zu treffen, du setzt dich durch, wenn es nötig ist … Du bist wirklich in die Rolle eines … eines Anführers geschlüpft!«

Matt begann zu lachen, und nach einer kurzen Pause lachte Tobias halbherzig mit. Er hatte es durchaus ernst gemeint.

 

Dank günstiger Winde kamen sie so gut voran, dass sie schon zwei Tage später den Blinden Wald erreichten. Tagsüber wechselten sich Ambre und Jon am Steuer ab, nachts übernahm Colin, da die Navigation im Dunkeln schwieriger war, wie er erklärte.

Tagelang blieb die Landschaft, über die sie hinwegfuhren, unverändert: ein schier endloses Meer aus Baumkronen.

Nach vier Tagen fragte sich Ambre, ob sie wohl jemals wieder Land sehen würden.

Sie ahnte nicht, dass sie viel langsamer vorwärtskamen, als es eigentlich möglich gewesen wäre. Nacht für Nacht ließ Colin den Zeppelin im Kreis fahren und nahm erst im Morgengrauen wieder Kurs auf Norden.

Er suchte etwas.

Und wurde in ihrer siebten Nacht an Bord fündig.