15. Verbotener Ausflug

Matt hielt den Degen ausgestreckt vor sich, bereit zum Kampf.

Der große Waffensaal roch nach Sandelholz. Alle Blicke waren auf die beiden Duellanten in der Mitte gerichtet.

Um Matt zu testen, hatte der Anführer der Krieger ihn gegen zwei recht geschickte Jungen antreten lassen, die Matt schnell und mühelos besiegte. Beide Jungen verfolgten die gleiche Strategie: Sie vertrauten auf ihre Kraft, schlugen einmal hart auf den unteren Teil der Degenklinge und wollten dann das Überraschungsmoment nutzen, um sich auf ihren Gegner zu stürzen und ihn mit ihrer Holzklinge zu berühren. Nur hatte Matt nicht mit der Wimper gezuckt, als sie ihren Degen mit voller Wucht auf seine Waffe donnerten, sondern war seelenruhig stehen geblieben und hatte die Jungen ins offene Schwert laufen lassen.

Seit dem Sturm war er definitiv nicht mehr derselbe. Zu seinem eigenen Erstaunen erwies er sich in Stresssituationen als so wagemutig und trickreich, dass er mit jedem Hindernis geradezu spielend fertig wurde. Früher hatte er sich das in seinen Rollenspielen zwar erträumt, aber vor den Schlägertypen an seiner Schule hatte er trotzdem Angst gehabt. Seine ganze Persönlichkeit war wie verwandelt. Er erinnerte sich an die ersten Tage nach dem Sturm, an die Angst, die Tränen, die Flucht aus New York, die Gewalt; all das hatte mit den Abenteuern seiner Rollenspiele, die er damals so geliebt hatte, nichts gemeinsam. Er dachte oft über diese Veränderung nach: Hatte der Sturm nur geweckt, was schon in ihm geschlummert hatte, oder hatte er sich von Grund auf verändert?

Bei dem nun folgenden Duell musste Matt klug vorgehen. Er konnte so nicht weitermachen, ohne seine übernatürliche Stärke zu verraten, wollte den Kampf aber auch nicht verlieren. Er wusste, dass er auf diese Weise den Respekt der Gemeinschaft gewinnen würde. Wäre er erst einmal bewundert und gefürchtet, würde er schneller akzeptiert oder käme zumindest leichter an Informationen heran.

Sein dritter Gegner hieß bezeichnenderweise Butrax. Grimmig ließ der Junge seinen Degen kreisen und preschte immer wieder vor und zurück, so dass Matt nicht wusste, ob er nur angeben wollte oder sich gleich auf ihn stürzen würde. Unter dem Helm, den er tragen musste, eine Art riesige Nuss, in die auf einer Seite zwei Löcher für die Augen gebohrt waren, sah Matt nicht recht gut.

Plötzlich machte Butrax einen Ausfallschritt nach vorn und zog das andere Bein blitzschnell nach. Die Spitze seines Degens raste auf Matts Oberkörper zu, doch Matt konnte mit einer raschen Hüftdrehung in letzter Sekunde ausweichen. Während er zum Gegenschlag ausholte, spürte er plötzlich, wie eine große Hand seinen Helm packte und ihn nach hinten riss.

Matt taumelte und versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden, als eine Grätsche ihn brutal zu Boden warf. Butrax verstieß gegen sämtliche Regeln. Matt rang nach Luft und rechnete damit, dass sein Gegner ihm gleich mit einer Entschuldigung aufhelfen würde, aber stattdessen hob Butrax den Degen, um auf ihn einzudreschen.

Matt rollte mehrere Meter, während Butrax auf das Parkett einhieb und ihn jeweils nur um Haaresbreite verfehlte. Dann hielt Butrax kurz inne, um seinen Helm zurechtzurücken, und verlor dabei wertvolle Sekunden, so dass Matt sich auf ein Knie stützen und die nächste Attacke parieren konnte. Als er wieder auf die Füße springen wollte, verabreichte Butrax ihm eine heftige Ohrfeige und brachte ihn damit ins Wanken. Der feindliche Degen hob sich in die Luft und sauste pfeifend geradewegs auf Matts Gesicht zu.

Ohne nachzudenken, riss Matt seine Waffe in die Höhe, um den Schlag abzuwehren. Sein Degen zersprengte Butrax’ Klinge, als wäre sie aus Papier, und krachte gegen den Helm des Jungen, der sofort entzweibrach. Auf der Stirn seines Gegners klaffte eine offene Wunde, aus der ihm das Blut in Strömen übers Gesicht lief.

Matt ließ seinen Degen fallen und lief zu Butrax, um sich zu entschuldigen.

Der Anführer der Krieger hielt ihn fest.

»Er hat nur bekommen, was er verdient«, bellte er. »Zurück! Du hast ja eine Bärenkraft! Wie hast du das angestellt?«

»Ich … Ich hatte Angst, das ist alles.«

Der Anführer warf ihm einen misstrauischen Blick zu und nickte dann ohne große Überzeugung.

»Wenn du es sagst. Jedenfalls bist du nicht ungeschickt. An der Technik hapert es noch, aber an Schnelligkeit und Kraft bringst du mit, was ein guter Krieger braucht. Fangen wir mit einer Fechtlektion an.«

Er zog einen Holzdegen aus dem Ständer und warf ihn Matt zu.

»Wo hast du gelernt zu kämpfen?«, fragte Matt.

»Ich hab schon früher gefochten.«

»Früher? Du meinst vor dem Sturm?«

Der Anführer ignorierte die Frage.

»Los, en garde!«, befahl er.

Matt musterte ihn ein paar Sekunden lang: ein großer Sechzehnjähriger mit grünem Haar und einem Blick, der keinerlei Gefühlsregung verriet. Schwer zu sagen, ob man auf seine Unterstützung zählen konnte oder ob man ihm misstrauen sollte. Dann ging er in Stellung.

 

Gegen Mittag fand Matt Tobias in der Schlange vor der Essensausgabe. Ambre gesellte sich wenig später zu ihnen, und sie setzten sich am Ende eines Kais in den Schatten eines Schiffs, das über dem Blättermeer schwebte.

»Ich habe Neuigkeiten«, platzte Ambre sofort heraus. »In Bezug auf diese Tür in der Bibliothek. Niemand will darüber sprechen, das Thema ist tabu, und sie haben mir nicht nur befohlen, nicht darüber zu reden, sondern mir sogar verboten, mich der Tür zu nähern! Aber ein ziemlich gesprächiges Mädchen hat mir bestätigt, dass sie dahinter tatsächlich ihr Geheimnis verbergen.«

»Wie wir uns gedacht hatten!«, rief Matt.

»Es gibt nur ein Problem«, fuhr Ambre fort. »Scheinbar haben sie eine Art Wächter.«

»Eine Art? Was soll das heißen?«, unterbrach Tobias sie. »Was für einen Wächter?«

»Keine Ahnung, dazu wollte sie nichts Genaueres sagen. Aber ich habe gesehen, dass sie eine Gänsehaut bekommen hat, als sie das Wort ›Wächter‹ in den Mund nahm. Da musste ich an gestern Abend denken, als wir den Bambuswald verlassen haben. Wisst ihr noch, wie sich der ganze Wald veränderte, nachdem Faellis in die Trillerpfeife geblasen hatte? Irgendetwas hat sich darin bewegt, und ich vermute, das hat auch mit diesem Wächter zu tun. Nachträglich kommt es mir fast so vor, als hätte sie einen Überwachungsmechanismus aktiviert.«

»Wir müssen uns diese Trillerpfeife besorgen«, meinte Matt.

Tobias verdrehte die Augen. Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

»Und wenn die Pfeife mit dem Wächter hinter der Tür überhaupt nichts zu tun hat?«

»Ich glaube nicht, dass sie mehrere Wächter haben, das ist bestimmt ein und dasselbe Wesen. Außerdem haben wir keine Zeit, in Ruhe mehr herauszufinden.«

Ambre nahm einen Bissen von dem Fleisch, das wie halbgarer Thunfisch aussah, und hob mahnend ihren Holzlöffel.

»Jede Erfahrung ist bereichernd, wir können bei den Chloropanphyllikern viel lernen.«

»Wir müssen zusehen, wie wir von hier wegkommen«, beharrte Matt. »Heute Abend holen wir uns die Pfeife bei Faellis.«

»Wenn sie das erfahren, werden sie uns nie akzeptieren und unterstützen!«, protestierte Ambre.

»Wer hat denn gesagt, dass sie es erfahren werden? Wir schleichen uns einfach in Faellis’ Zimmer, leihen uns die Pfeife und bringen das Ding mir nichts, dir nichts wieder zurück, bevor sie aufwacht.«

Ambre verzog skeptisch das Gesicht. Sie beendete schweigend ihre Mahlzeit und ging zurück in die Bibliothek. In ihr nagte der Zweifel.

Das war kein guter Plan.

 

Am Abend aßen sie mit Torshan, der ihnen tausend Fragen über ihren ersten Tag als eigenständige Mitglieder der Gemeinschaft stellte. Während Ambre und Matt nur ausweichend antworteten und sich lieber auf ihr Essen konzentrierten, erzählte Tobias eifrig von seiner neuen Aufgabe. Die Namen der Masten und der verschiedenen Bereiche eines Schiffs kannte er bereits auswendig, und am liebsten hätte er auch die Knoten vorgeführt, die er gelernt hatte.

Zufrieden machte Torshan eine ausladende Geste in Richtung der Landschaft, die sie von der Terrasse ihrer Hütte überblickten.

»Ihr werdet bald merken, dass es keinen Grund gibt, das Große Nest zu verlassen, wenn man erst einmal hier ist!«

»Außer dass es nicht unsere Heimat ist«, konnte sich Ambre nicht verkneifen.

Torshan sah sie nachdenklich an.

»Gibt es in dieser Welt überhaupt noch einen Ort, den ihr als Heimat bezeichnen könntet? Ich glaube nicht.«

»Dort, wo unsere Freunde sind.«

»Habt ihr denn welche?«

Ambre erwiderte zornig:

»Was glaubst du denn? Dass alle Pans, die euch nicht gleichen, dumpfe und gefühllose Wilde sind? Die Welt ist groß, und die Überlebenden passen sich im Laufe der Zeit immer besser an. Ihr seid in eurem Elfenbeinturm eingesperrt und kriegt überhaupt nicht mit, was da zu euren Füßen vor sich geht!«

Diese Tirade verdarb Torshan die Laune. Wenig später brach er auf und ließ sie endlich allein.

Kaum war er am Ende des Stegs verschwunden, beugte sich Matt verschwörerisch über den Tisch.

»Wir warten, bis alle eingeschlafen sind. Ich glaube, dass ich sämtliche Wachposten ausgemacht habe. Sie sind alle auf die Umgebung hin ausgerichtet, wir dürften problemlos zu Faellis’ Zimmer gelangen können.«

»Ich denke immer noch, dass das eine schlechte Idee ist«, entgegnete Ambre, »wir sollten nicht blind vorpreschen.«

»Mein Instinkt sagt mir, dass wir ihnen nicht vertrauen sollen. Wenn sie so nett und freundlich wären, wie du behauptest, dann hätten sie uns schon längst unsere Waffen zurückgegeben! Ich warte nicht noch eine Nacht.«

So liefen sie um Mitternacht kreuz und quer durch das Große Nest und suchten das Häuschen, in dem Faellis wohnte. Am Nachmittag hatte Matt sich mit den Sicherheitsvorkehrungen vertraut gemacht und war die Kontrollposten abgegangen, um die sie nun jedes Mal einen großen Bogen schlugen. In den Bäumen leuchtete die weiche Substanz auf, sobald sie sich näherten: Obwohl sie so vorsichtig auftraten wie möglich, löste die Erschütterung ihrer Schritte das Licht aus. Vor einem runden Tor blieben sie stehen.

»Ich glaube, hier ist es«, sagte Matt. »Zumindest habe ich sie hier hineingehen sehen.«

»Bist du ihr gefolgt?«, fragte Ambre verwundert.

»Heute Abend, nur kurz.«

»Dich hat man besser zum Freund als zum Feind«, meinte Ambre und runzelte die Stirn.

Matt schlug das Herz bis zum Hals, als er eine Hand auf den Türknauf legte, ihn langsam drehte und dann sachte drückte.

Die Tür öffnete sich geräuschlos.

Vorsichtig steckte Matt den Kopf durch den Spalt. Der Mond warf sein silbriges Licht auf einen großen Schreibtisch, einen klobigen Wandschrank und etwas, das wie ein Bettpfosten aussah.

Er tappte auf Zehenspitzen ins Zimmer und sah Faellis in ihre Bettdecke gewickelt im Bett liegen.

Wo finde ich jetzt nur diese verflixte Pfeife?

Matt schlich zum Schreibtisch, wobei er Faellis nicht aus den Augen ließ. Sie regte sich nicht. Die Schubladen machen wahrscheinlich zu viel Lärm, wenn ich sie aufziehe!, schimpfte er in Gedanken. Hinter ihm trat auch Tobias in die Wohnung. Zusammen suchten sie den Schreibtisch und die Regale ab. Matt näherte sich gerade dem Wandschrank, als Tobias ihm auf die Schulter tippte und auf den Nachttisch zeigte.

Die Pfeife.

Tobias wollte schon darauf zugehen, doch Matt packte ihn warnend am Arm und deutete auf ein kleines Stück Leuchtsubstanz, das in einer Schale auf dem Tischchen lag. Wenn sie zu nahe kamen, würde die Erschütterung sie aktivieren.

»Wir können nicht näher ran«, murmelte Matt seinem Freund ins Ohr.

Tobias drehte sich zur Tür um und winkte Ambre herein. Sie gehorchte missmutig.

»Kannst du die Pfeife zu uns herüberholen?«, wisperte er.

Ambre atmete tief ein und konzentrierte sich.

Die Pfeife stieg langsam in die Höhe und schwebte auf sie zu.

Matt streckte die Hand aus, und die Pfeife landete sachte auf seinem Handteller.

Er grinste triumphierend.

Rasch stiegen sie die Treppen hinab und betraten die große Bibliothek. Im Mondlicht, das durch die schmalen Fensteröffnungen auf die Tische fiel, wirkte der Saal noch beeindruckender als bei Tage. Die drei musterten den Totenkopf auf der Tür.

»Wie kann man nur so was Hässliches schnitzen?«, fragte Ambre empört.

»Sie haben das Motiv nicht zufällig gewählt«, meinte Tobias. »Ein Totenkopf ist das Symbol für Gefahr, nicht wahr? Wir sind vielleicht dabei, eine Riesendummheit zu begehen …«

»Es ist natürlich das Symbol für den Tod«, fügte Ambre hinzu.

Matt inspizierte das Türschloss aus Holz.

»Ambre, glaubst du, du kannst den Mechanismus da drin betätigen?«

»Wenn ich ihn sehe, schon. Lass mich mal schauen … Hm. Zu dunkel. Wir brauchen Licht.«

Tobias lief zu den Schreibtischen. Noch ehe er nach einer Lichtschale greifen konnte, hatte die weiche Substanz seine Bewegung bereits registriert und leuchtete auf. Er hielt sie Ambre hin, während sie das Schloss noch einmal unter die Lupe nahm.

»Ich weiß nicht genau, was ich tun muss, aber ich vermute, wenn ich alle Schnappschlösser in eine Richtung schiebe, dann dürfte es funktionieren …«

Mehrere Klicklaute ertönten, und plötzlich schwang die Tür auf.

Ambre, Tobias und Matt warfen sich im gespenstischen Schein der Lichtschale ängstliche Blicke zu.

»Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen«, sagte Matt mit weniger Selbstsicherheit, als er sich gewünscht hätte.