44.
Zweitausend Stufen und
ein blutiger Kampf
Jeder Soldat trug Lanze, Schwert und einen Harnisch aus Ebenholz. Trotz seiner außergewöhnlichen Stärke schätzte Matt seine Chancen auf null. Zwölf gegen einen, und noch dazu müsste er mit bloßen Händen kämpfen. Aussichtslos.
Sie sind angewiesen worden, mir kein Haar zu krümmen, daraus könnte ich doch Vorteil ziehen!
Nur dass sie ihn sicher lieber aufspießen würden, als dem spirituellen Berater zu beichten, dass ihnen der Junge entwischt war.
Dass sie ohne den Berater aufgebrochen waren, beunruhigte Matt. Kurz bevor sie die Herberge verließen, hatte er ein Gespräch zwischen dem Berater und Roger belauscht. Das Luftschiff des Unschuldstrinkers sei in der Stadt, und er sei um eine dringende Unterredung gebeten worden. Das ändere nichts an Rogers Auftrag. Er solle das Strategiepapier bei Tagesanbruch wie geplant zur Zitadelle der Ersten Armee bringen und die Bewachung des Jungen seinem besten Offizier anvertrauen.
Der Unschuldstrinker? Wer war denn das?
Das gefiel Matt ganz und gar nicht.
Die Soldaten betraten einen weiträumigen, hallenden Tunnel. Matt stockte der Atem, als er die Treppe der Leiden vor sich sah. Kein Geländer, keine Stütze weit und breit, nichts als ein paar Haken, die man in unregelmäßigen Abständen in den Fels geschlagen hatte, um eine Laterne daran aufhängen zu können. Da war höchste Vorsicht geboten.
»Es gibt keine Kabinen mehr«, begrüßte sie einer der Männer, der zur Seilbahn vorausgeschickt worden war. »Wenn wir warten, werden sie vielleicht …«
»Nein, dann nehmen wir die Treppe, da hilft alles nichts«, unterbrach ihn der Offizier, der die Führung übernommen hatte.
Matt dachte fieberhaft darüber nach, ob er die Gelegenheit zur Flucht nutzen sollte. Er könnte einen der Wärter die Treppe hinunterstoßen und einfach losrennen … Aber wohin? In die Stadt konnte er nicht mehr zurück, und wenn er auf dem Weg hinunter auch nur einmal stolperte, stürzte er womöglich zu Tode. Das Wagnis war zu groß.
Seine Aufpasser nahmen ihn in die Mitte, und so begann Matt notgedrungen den beschwerlichen Abstieg. Die Wasserfälle, die zu beiden Seiten der Treppe in die Tiefe rauschten, hüllten alles in einen erfrischenden Sprühregen ein. Die Felswände waren mit Moos überwachsen, und die Stufen waren furchtbar rutschig.
Jeder konzentrierte sich nur noch darauf, wohin er die Füße setzte, auch Matt. Nicht einmal die Flüche der Männer an der Spitze der Kolonne brachten ihn dazu, den Blick zu heben.
»Vorsicht, hier steht ein Fass mitten im Weg!«, schrie jemand unter ihm.
»Stoß es einfach weg. Pech für den, der es da abgestellt hat!«
»Und wenn es was Wichtiges ist?«
»Unsere Mission ist wichtiger!«
»Da steht was: ›Die Gemeinschaft … der … Drei‹.«
Bei diesen Worten horchte Matt auf.
Ambre und Tobias!
Er sah sich verstohlen um. Sechs Bewacher vor ihm, sechs hinter ihm. An der Seite vorbeidrücken ging nicht, dabei würde er den Halt verlieren, von den Wasserfällen mitgerissen werden und unweigerlich an den Felsen zerschellen.
Da ertönte vom obersten Absatz der Treppe ein Pfiff.
Es war Tobias, mit gespanntem Bogen.
Hinter ihm zeichneten sich zehn weitere Gestalten ab.
Tobias zitterte, so nervös war er. Er hatte nur einen einzigen Versuch. Die Spitze seines Pfeils zielte auf das Fass neben Matt.
Er atmete tief durch und dachte an nichts mehr.
Seine Schultern strafften sich. Er hob leicht den Ellbogen, um die Schussrichtung zu korrigieren.
Genau in dem Augenblick, in dem die Pans die ersten Fässer die Treppe hinunterstießen, ließ er die Sehne los.
Als er den Pfeil mit dem Seil, das sie daran befestigt hatten, in die Tiefe sausen sah, geriet er in Panik. Ohne Ambres Hilfe würde er nie und nimmer ins Schwarze treffen, dafür schoss er viel zu schlecht!
Die Pfeilspitze bohrte sich genau in der Mitte in das Fass.
Ich hab getroffen! Ich hab getroffen!
Aber zum Jubeln blieb ihm keine Zeit. Die Fässer polterten die Stufen hinunter, und die Soldaten begannen zu schreien. Die ersten von ihnen versuchten vergebens, über die Fässer hinwegzuspringen, und wurden mit in die Tiefe gerissen. Daraufhin wichen die nächsten zur Seite aus und wurden prompt von dem schäumenden, tosenden Wasser erfasst. Verzweifelt suchten die Männer an der Wand nach Halt, doch der Sog in den Abgrund war zu stark.
Matt sah sich schon ebenfalls auf Nimmerwiedersehen verschwinden, doch im letzten Augenblick ging ihm auf, was Tobias geplant hatte. Als er sich auf das Seil stürzte, versuchte ein Wärter mit von Narben entstelltem Gesicht, der offenbar auf dieselbe Idee gekommen war, ihn wegzustoßen. Matt versetzte dem Mann einen so heftigen Faustschlag, dass er benommen zurücktaumelte und von einem schweren Fass getroffen wurde, während Matt gerade noch rechtzeitig in den Wasserfall sprang.
Das Seil schnalzte wie eine Peitsche, als es sich unter seinem Gewicht spannte.
»Wir müssen ihn hochziehen!«, befahl Tobias. »Schnell! Sonst reißt ihn das Wasser mit!«
Drei Pans kamen ihm zu Hilfe, während die anderen noch mehr Fässer herbeirollten.
Aus der Tiefe drangen die Schreie der Soldaten, die bei ihrem Fall immer wieder dumpf auf der Treppe aufschlugen und bei dem verzweifelten Versuch, sich irgendwo festzuklammern, sämtliche Laternenhalterungen aus der Wand rissen. Diejenigen, die fortgeschwemmt worden waren, hatten schon eine Hunderte Meter lange Wildwasserfahrt hinter sich und mussten längst ertrunken oder an den Felsen zerschmettert sein.
Tobias und seine Helfer zerrten so lange an dem Seil, bis Matt aus dem gurgelnden Strom auftauchte und nach Luft schnappte. Noch zwei Züge, dann hievte er sich auf die Treppe und kroch keuchend ein paar Stufen hinauf, wie erschlagen von der Wucht des Wasserfalls. Schließlich blieb er völlig erschöpft und vor Schmerzen zusammengekrümmt liegen.
Ohne seine außergewöhnliche Kraft, mit der er sich an das Seil geklammert hatte, wäre er nicht mehr am Leben.
Die Fässer polterten weiter über die steinernen Stufen und brachen nach und nach in Stücke. Matts Eskorte war bis zum letzten Mann vernichtet; die zerfetzten Leichen lagen fünfzig, hundert, ja zweihundert Meter unter ihm.
Tobias rannte zu Matt und half ihm auf die Beine.
»Matt! Alles in Ordnung? Kriegst du Luft?«
Matt beruhigte ihn mit einer Handbewegung und strich sich keuchend die nassen Haare aus dem Gesicht.
Da ertönte von weitem ein unheilverkündender Hornstoß.
Jon fuhr herum und brüllte zu den beiden Jungen hinunter:
»Zwei Soldaten!«
Mit Colin an der Spitze hasteten die Pans zu Matt und Tobias hinunter. Das Horn schlug weiter Alarm.
»Wahrscheinlich zwei Nachzügler«, japste Colin. »Nichts wie weg, in fünf Minuten wimmelt es hier vor Zyniks!«
So nahmen alle den schwindelerregenden Abstieg in Angriff.
Schon nach wenigen Metern spürten sie ein schmerzhaftes Ziehen in den Waden, und die monotone Abfolge der Stufen machte sie so benommen, dass sie schließlich stehen bleiben mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
In diesem Moment hagelten die ersten Pfeile auf sie herab.
Die beiden Zyniks waren ihnen mit ihren Bogen gefolgt und hatten weit genug aufgeholt, um auf sie zielen zu können.
Jordan, einer der jüngsten Pans, wurde mitten ins Kreuz getroffen. Noch bevor ihn seine Kameraden packen konnten, verschwand er mit angstgeweitetem Blick im Wasserfall.
Es war alles so schnell gegangen, dass sie ihm nur ungläubig nachsahen.
Erst als ein Pfeil direkt vor Jons Füßen landete, erwachten sie aus ihrer Starre und liefen weiter.
Sie hatten kaum zehn Stufen geschafft, da wurde eine weitere Pan, Mia, am Knie erwischt und brach mit einem Aufschrei zusammen. Zwei Jungen hakten sie unter, damit sie weiterhumpeln konnte.
»Tobias, du musst uns mit deinem Bogen decken«, rief Matt.
»So hoch reichen meine Pfeile nicht, sie sind außer Schussweite!«
»Gib her!«
Matt blieb stehen, ließ die anderen vorbei und zielte dann auf die beiden geharnischten Soldaten. Er spannte den Bogen so weit, dass das Holz knarzte, und schoss seinen Pfeil mitten zwischen die beiden Männer. Auch der zweite und der dritte Pfeil gingen fehl, doch wenigstens liefen die Verfolger nun langsamer.
Hastig schloss Matt zu den anderen Pans auf.
Die Soldaten blieben auf Abstand.
Eine Viertelstunde später lösten zwei andere Pans die beiden Jungen ab, die Mia stützten. Das Mädchen kämpfte tapfer gegen den Schmerz, auch wenn ihr Gesicht zuckte.
Doch der endlose Abstieg forderte bald seinen Tribut. Jon stolperte und konnte von Glück sagen, dass Tobias blitzschnell reagierte.
»Wir brauchen … dringend … eine Pause«, keuchte Jon.
»Die Zyniks sind langsamer geworden, vorhin haben sie sich sogar hingesetzt«, meinte Colin. »Wir müssen auch haltmachen, sonst kommen wir nie und nimmer wohlbehalten nach unten.«
Als Tobias widerstrebend nickte, ließen sich alle auf den feuchten Stufen nieder. Ihre Verfolger waren nur noch als schemenhafte Umrisse weit über ihnen zu erkennen.
»Fünf Minuten, nicht mehr«, mahnte Matt.
Er beugte sich über Mias Oberschenkel und untersuchte die Wunde.
»Wir müssen den Pfeil rausziehen.«
»Nein! Nicht jetzt«, bettelte sie. »Es tut so schon weh genug.«
Matt betrachtete die acht Pans, die Tobias und Colin begleiteten.
»Ist Ambre in Sicherheit?«
»Sie kümmert sich um unser Fluchtfahrzeug«, erklärte Tobias.
»Danke, dass ihr mich befreit habt«, sagte Matt etwas verlegen in die Runde.
»Stimmt es, dass du uns retten wirst?«, fragte ein Mädchen.
»Du bringst uns von hier weg, oder?«, fragte ein anderer.
Matt stammelte etwas Unverständliches, und Tobias sprang ihm bei.
»Wenn alles läuft wie geplant, wartet im Tal ein Luftschiff auf uns, das uns nach Hause bringt.« Zu Matt gewandt, fügte er hinzu: »Tut mir leid, aber ich glaube, unsere Expedition ins Reich der Königin ist damit zu Ende. Wir sollten schleunigst zurück in den Norden, findest du nicht auch?«
»Ich habe die Reise gemacht, weil ich Antworten wollte, und die habe ich jetzt. Es sind nicht die Informationen, die ich erwartet habe, aber sie sind so wichtig, dass ich unverzüglich nach Eden muss. Es geht um Leben oder Tod.«
Tobias wirkte erleichtert.
»Bin ich froh, dass du zur Abwechslung mal nicht bis zum bitteren Ende weitermachen willst. Ich hatte schon Angst, du würdest darauf bestehen, bis zu dieser Malronce vorzudringen.«
»Ehrlich gesagt, war das eine verdammt schlechte Idee.«
»Das ist noch untertrieben ausgedrückt! Sobald wir auf dem Luftschiff sind, muss ich dir etwas sehr Wichtiges erzählen. Etwas, was dich betrifft.«
»Vorher schaue ich aber noch auf der Charon vorbei«, sagte Matt bestimmt. »Ich lasse Plusch auf gar keinen Fall bei den Zyniks zurück. Und was hat es eigentlich mit diesem Luftschiff auf sich? Woher habt ihr das?«
»Das ist eine lange Geschichte, die heben wir uns für später auf.«
Matt zeigte mit dem Daumen auf Colin.
»Und der?«
»Er hilft uns.«
»Bist du sicher, dass wir ihm vertrauen können? Ich habe noch lebhaft in Erinnerung, wie dieser Verräter vor unseren Augen abgesoffen ist!«
»Er hat sich seit damals sehr verändert, glaube ich. Ohne ihn hätte ich dich da nicht raushauen können.«
»Hoffentlich werden wir das nicht noch bereuen.«
Jon trat zu ihnen.
»Die beiden Typen kommen näher, wir müssen weiter.«
Es dauerte noch eine Stunde, bis sie das Ende der Treppe erreichten. Völlig erschöpft, durchnässt und wie hypnotisiert von dem endlosen Abstieg kamen sie in der Höhle vor dem Ausgang an.
Fünf Seilbahnwagen waren bis ganz nach unten gerutscht und dort zerbrochen; die Trümmer lagen überall verstreut.
Ein Stück weiter führte ein langer Kai aus Stein über den See, an dem die Charon vor Anker lag. Die Höhle war ebenso groß wie die höhergelegene, in der die Stadt erbaut worden war, und war nach einer Seite hin offen. Draußen herrschte noch tiefe Nacht.
Colin wies auf ein mächtiges Tor am anderen Ende des Kais.
»Da ist der Ausgang ins Tal!«
»Gut«, sagte Matt, »wartet dort auf uns, bis die Sonne aufgeht. Wenn wir bis dahin nicht von der Charon zurück sind, öffnet ihr das Tor und rennt zum Luftschiff. Tobias, begleitest du mich?«
»Jetzt, wo wir endlich wieder zusammen sind, werde ich dich wohl kaum im Stich lassen!«
Die beiden Freunde schlichen sich über die Gangway auf das Schiff. Das von drei Schiffslaternen beleuchtete Hauptdeck war menschenleer, doch in der Hütte am Achterdeck entdeckte Matt einen Matrosen, der auf einem Schemel eingeschlafen war.
»Sie ist im Frachtraum«, flüsterte er und schob sich durch die Luke im Vorderdeck.
Plusch war immer noch dort, wo er sie zuletzt gefunden hatte. Die Hündin leckte ihm das Gesicht ab und schmiegte sich an ihn, als er ihren Käfig öffnete.
»Damit ist jetzt Schluss, meine Liebe, nichts wie raus aus diesem Hühnerstall.«
Als Nächstes kam Tobias in den Genuss einer feuchten Begrüßung, während Matt seine schmerzlich vermisste Ausrüstung zusammensammelte.
Als sie wieder nach oben wollten, kam ihnen ein Matrose entgegen. Bei ihrem Anblick blieb er wie angewurzelt stehen und starrte Plusch, die den gesamten Flur hinter den beiden Jungen ausfüllte, voller Entsetzen an.
»Alarm!«, brüllte er dann los. »Alarm!«
Matt machte einen Satz nach vorn und donnerte ihm seine Laterne gegen den Schädel, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Zu spät«, sagte Tobias düster.
Sie stürmten an Deck, doch da kamen auch schon fünf weitere Besatzungsmitglieder angerannt. Zwei von ihnen waren mit langen Messern bewaffnet, ein dritter trug einen spitzen Bootshaken. Matt zog sein Schwert aus der Scheide und umklammerte den Griff. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie sehr ihm die Waffe gefehlt hatte. Mit seinem Schwert fühlte er sich einfach stärker.
Als sich zwei der Männer auf ihn stürzten, spaltete er den Bootshaken des einen mitten entzwei und zielte auf den Oberschenkel des anderen, erwischte jedoch stattdessen den Fuß.
Fast hätte ihn ein dritter Angreifer von der Seite aufgespießt, aber Tobias setzte den Mann mit einem gezielten Schuss gerade noch rechtzeitig außer Gefecht.
Plusch ging mit gebleckten Zähnen auf die beiden letzten Matrosen los, die vor Angst aufbrüllten, und rannte sie einfach um.
Matt zog die Klinge aus dem Fuß seines Gegners und rammte ihm seinen Ellbogen so heftig an die Schläfe, dass der Zynik zurücktaumelte und über eine Taurolle stolperte.
Der Mann, der statt eines Bootshakens nur noch ein Stück Holz in der Hand hielt, starrte sie mit offenem Mund an. Dann suchte er hastig das Weite und schloss sich in einer Kajüte ein.
Als Tobias und Matt wieder zu den anderen stießen, sorgte Pluschs Anblick für einige Unruhe unter den Pans, bis alle merkten, wie gutmütig sie war.
»Es ist immer noch dunkel«, sagte Colin besorgt und deutete auf die Stelle, an der der See ins Freie trat.
»Niemand rührt sich hier weg, bis die Sonne aufgeht«, mahnte Tobias. »Die Schattenfresser würden kurzen Prozess mit uns machen.«
»Sie überwinden sogar den Abgrund ins Tal?«, fragte Matt erstaunt.
»Keine Ahnung, aber ich gehe lieber nicht nachsehen.«
Jon zeigte auf den Seilbahntunnel.
»Bist du sicher? Ich glaube nämlich, dass wir gleich Besuch bekommen.«
Auf der Treppe kam eine lange Reihe von Laternen zum Vorschein, und durch das Tosen der Wasserfälle war schwach das Klirren von Rüstungen zu hören.