42. Plan B
Matts Befreiung stand kurz bevor.
Tobias und Colin hatten schon gut vier Stunden in ihrem Zimmer in der Herberge ausgeharrt. Seit ihrem Streit am Fuß der Treppe sprachen die beiden Jungen kaum noch miteinander. Tobias verband seine Wunde am Oberkörper neu, da sie bei seinem Sprint wieder zu bluten begonnen hatte.
Jon und die anderen Pans hatten sich in einem nahe gelegenen Schafstall versteckt und ließen den Dienstboteneingang der Herberge nicht aus den Augen. Tobias wartete nur noch auf den richtigen Moment.
Aber genau das war das Schwierigste an der Sache. Schon seit geraumer Zeit herrschte in den Gängen tiefe Stille, doch das war nicht das Einzige, was er bedenken musste. Nur wenn sie spät in der Nacht zuschlugen, konnten sie sicher sein, nach ihrer Flucht durch den Seilbahntunnel von der aufgehenden Sonne begrüßt zu werden. Falls man sie verfolgte, würden sie die Höhle am unteren Ende sofort verlassen und zum Zeppelin fliehen müssen.
Tobias war den Schattenfressern vorhin nur haarscharf entronnen, und der Schreck saß ihm immer noch in den Knochen. Auf eine weitere Begegnung konnte er gut verzichten!
Das Verhalten seiner neuen Verbündeten bereitete ihm ebenfalls Kopfzerbrechen. Seit sie vom Nabelring befreit worden waren, reagierten die Pans auf alles mit merklicher Verzögerung, so als wäre ihr Hirn irgendwo tief im Innern ihres Körpers vergraben. Und sie zeigten keinerlei Emotionen, nicht einmal als Tobias ihnen eröffnete, dass sie keinem fremden Einfluss mehr unterworfen seien und ihre Freiheit wiedererlangen könnten, wenn sie ihm halfen.
Der Ring hatte ihnen einen Teil ihrer selbst geraubt: ihre Spontaneität.
Colin hatte recht, diese schwere Depression war eins der furchtbarsten Symptome. Wahrscheinlich gehörte der Nabelring zum Schlimmsten, was die Menschen je ersonnen hatten.
Neben der Atombombe, schätze ich …, dachte Tobias.
Er hatte jeden Pan einzeln befragt, wie er hieß und unter welchen Umständen er von den Zyniks gefangen worden war. Im Laufe dieser Gespräche war ihm klargeworden, dass er nicht auf ihre Eigeninitiative zählen konnte. Sie würden nur das tun, was man ihnen sagte.
Dennoch hoffte er, dass sich die Nachwirkung des Rings mit der Zeit legen würde. Diese Antriebslosigkeit musste einfach schrecklich sein. Für ein Energiebündel wie Tobias, der sich mit seinem Übereifer nicht selten in Schwierigkeiten brachte, war diese Vorstellung jedenfalls der Horror.
»Sollen wir?«, fragte Colin.
»Nein, es ist noch zu früh.«
»Aber jetzt schlafen alle!«
»Noch nicht, hab ich gesagt!«
Colin seufzte.
Zehn Minuten später – Tobias kämpfte gerade gegen den Schlaf – drangen aus dem Stockwerk über ihnen plötzlich Stimmen und Fußgetrappel. Colin sprang auf.
»Ich gehe nachschauen!«
Gleich darauf kam er mit vor Entsetzen geweiteten Augen angerannt.
»Sie brechen auf! Keine Ahnung, was passiert ist, aber sie wollen Matt zur Seilbahn bringen!«
»Verdammt. Nichts wie hin! Sie müssen erst noch ihre Sachen zusammenpacken, wir können es als Erste zum Tunnel schaffen.«
Draußen ruderte Tobias wie wild mit den Armen, und die neun Pans schlüpften aus ihrem Versteck.
»Kleine Planänderung«, flüsterte Tobias. »Wir werden kämpfen müssen.«
»Umso besser, ich habe noch ein paar Rechnungen offen«, gab Jon zurück.
Die anderen teilten seine Begeisterung nicht. Sie waren mit Fischernetzen, Harpunen, Spaten und Hacken bewaffnet, die sie aus den Schuppen der Stadt zusammengestohlen hatten.
Colin und Tobias führten die kleine Schar hastig durch die Gassen Richtung Tunnel, wobei sie immer wieder Umwege machen mussten, um den beiden Patrouillen, die nach den zehn verschwundenen Sklaven fahndeten, nicht in die Hände zu fallen. Als sie die Höhlenwand erreichten, krochen sie durch die Klappe im Eingangstor und versammelten sich zwischen den Drahtseilen und Spulen.
»Und jetzt?«, fragte Colin.
»Wir sabotieren die Seilbahn, damit sie die Treppe der Leiden nehmen müssen, und da greifen wir sie dann an.«
»Zu elft gegen die gesamte Eskorte? Träum weiter! Hast du gesehen, in welchem Zustand unsere Truppe ist?«
Tobias betrachtete die Mienen der kümmerlich bewaffneten Pans und musste Colin recht geben. Heldentaten waren von dieser Mannschaft nicht zu erwarten.
»He, Moment!«, rief er plötzlich. »Was ist denn mit eurer Alteration?«
»Alteration?«, fragte Jon.
»Ja, eure spezielle Fähigkeit, eure besondere Kraft, wenn du so willst.«
Colin schüttelte den Kopf.
»Vergiss es. Die haben sie verloren, der Nabelring zerstört ihre Kräfte.«
»Dieses Ding ist echt der Alptraum.«
Wenn sie schon nicht kämpfen konnten, so mussten sie wenigstens versuchen, Verwirrung unter ihren Feinden zu stiften.
»Ich weiß, wie wir’s machen: Stu, halte du am Eingang Wache. Ihr anderen kommt mit.«
Er führte sie zu einem langen Flachbau, in dem die Kabinen der Seilbahn abgestellt waren, und untersuchte kurz den Mechanismus, der sie mit dem Drahtseil verband. Dann winkte er die Pans zu sich.
»Stellt euch an der Seite auf und zieht die Kabinen fest zu euch hin, das müsste reichen, um sie aus der Aufhängung zu lösen. Danach schiebt ihr sie mit einem Ruck an.«
Er machte es ihnen selbst vor und stieß seine Kabine in Richtung Tunneleingang, wo sie über die Schwelle kippte und in die Tiefe schoss. Wenig später folgten ihr die anderen Wagen in den Abgrund. Der Tunnel war so unendlich lang, dass es mehrere Minuten dauerte, bevor durch das Rauschen der Sturzbäche hindurch vom unteren Ende ein Krachen und Klirren zu hören war.
»Das wäre schon mal erledigt«, freute sich Tobias.
In diesem Moment kam Stu angerannt.
»Sie kommen! Mindestens zwölf Soldaten!«
»Nur zwölf?«, wunderte sich Colin.
»Die anderen kommen bei Tagesanbruch nach«, mutmaßte Tobias. »Wie lange brauchen sie noch bis hierher?«
»Höchstens fünf Minuten.«
»Los, packt mit an, wir müssen diese Fässer zum obersten Absatz der Treppe rollen und mindestens eins davon ein Stück die Stufen runtertragen.«
»Wir greifen also doch an?«, fragte Jon.
»Ich hoffe, dass ihr ein gutes Augenmaß habt.«
»Warum?«
»Weil wir so zielen müssen, dass Matt nicht getroffen wird und abhauen kann. Ich werde ihm ein Zeichen hinterlassen. Hoffen wir, dass er es bemerkt.«