49. Sturz ins Nichts
Tobias schlief an Bord sehr unruhig. Obwohl er den Unschuldstrinker nicht mehr zu fürchten brauchte, wurde er von Alpträumen geplagt und wachte immer wieder schweißgebadet auf.
Diesmal war ihm außerdem noch schlecht.
Mir ist ganz flau im Magen …
Als vor dem Bullauge seiner Kajüte ein Blitz aufleuchtete, fuhr er voller Panik hoch. Er begriff erst nach ein paar Sekunden, dass es nicht die Schattenfresser waren, sondern nur ein Gewitter.
Er hörte Matt, der neben ihm schlief, ruhig und gleichmäßig atmen. Leise stand er auf und drückte die Nase an das kleine runde Fenster. Draußen türmten sich riesige schwarze Wolken auf, aus denen es unaufhörlich blitzte.
Warum steuern wir geradewegs darauf zu? Wir müssen das Gewitter umfahren! Was denkt sich Colin nur dabei?
Hastig schlüpfte Tobias in seine Hose und sein T-Shirt und lief zum Cockpit. Er pochte leise an die Tür, und als er keine Antwort erhielt, trat er ein.
Colin saß mit sonderbar funkelnden Augen am Steuer.
»Selbst wenn wir es eilig haben«, begann Tobias, »sollten wir doch besser um dieses …«
Da bemerkte Tobias, dass die Schalthebel, die Colin in der Hand hielt, abgebrochen waren.
»Was ist passiert?«
Colin warf ihm einen bösen Blick zu und wich dann unvermittelt vor ihm zurück.
»Ich habe keine andere Wahl!«, sagte er mit Leidensmiene. »Über kurz oder lang werdet ihr das gleiche Urteil über mich verhängen wie über meinen Herrn!«
»Was redest du da?«
»Ich sehe doch, dass Matt mich nicht ausstehen kann, niemand von euch wird mich je ausstehen können! Für jemanden wie mich ist hier kein Platz, bei euch genauso wenig wie bei den Zyniks!«
»Oh nein«, sagte Tobias, als ihm klarwurde, dass etwas Schlimmes geschehen war. »Was hast du getan?«
»Alles hat seine Ordnung in dieser Welt, oder? Auch ich muss irgendwo meinen Platz haben!«
Colin schien völlig übergeschnappt zu sein. Tobias sah sich die Schalttafel genauer an.
»Du hast alles kaputt gemacht! Wie sollen wir jetzt noch weiterfahren?«
»Ich muss mich ihm stellen! Verstehst du? Vielleicht werde ich bei ihm am richtigen Fleck sein!«
Tobias sprang mit einem Satz zu Colin und verpasste ihm eine Ohrfeige, um ihn zur Besinnung zu bringen.
»Von wem sprichst du?«
Colin schwieg verängstigt. Dann wies er scheu auf das Gewitter vor dem Fenster.
»Na, von ihm! Dem Torvaderon! Ich habe gehört, was Matt über ihn erzählt hat, ich habe lange darüber nachgedacht, und ich glaube, dass er der Einzige ist, der mich versteht!«
Tobias erstarrte. Die Blitze folgten immer schneller aufeinander, und als er genauer hinsah, stellte er fest, dass sie auf der Erde weiterkrochen wie züngelnde Schlangen und das Gewitter sich gegen die Windrichtung fortbewegte.
Der Torvaderon!
Noch bevor Tobias das Cockpit verlassen konnte, wurden sie von dem Unwetter erfasst. Colin verriegelte die Tür, packte Tobias von hinten und schubste ihn Richtung Fenster.
»Komm mit mir! Komm!«, kreischte er durch das Heulen des Windes, der um die Gondel fegte.
Tobias versuchte, ihn abzuschütteln, doch Colin setzte ihn mit einem Fausthieb gegen den Kopf außer Gefecht. Er klammerte sich an den Pilotensitz, um nicht hinzufallen, und rang nach Luft.
Das Loch in der Tür, die Matt eingetreten hatte, war so gründlich mit Brettern verschlagen worden, dass sie jetzt offenbar stabiler war als zuvor, denn als jemand von draußen dagegenhämmerte, gab das Holz nicht nach.
Colin hob einen der abgebrochenen Schalter auf und zertrümmerte damit die Fensterscheibe. Sofort sprühte Regen ins Cockpit.
»Torvaderon!«, brüllte Colin in den Sturm hinaus. »Torvaderon!«
Tobias richtete sich gerade noch rechtzeitig auf, um die Spitze einer Tanne vor sich aufragen zu sehen. Offenbar waren sie nicht mehr über dem Blinden Wald und hatten an Höhe verloren. Die Gondel ächzte in allen Fugen, als sie gegen den Baum krachte und der Stamm splitterte. Colin schrie weiter, ohne die Tannennadeln zu beachten, die ihm ins Gesicht flogen.
Da leuchteten vom Boden her mächtige Schweinwerfer auf: Stelzenläufer, die den Himmel absuchten. Zwei leuchtende Augenpaare richteten sich auf die Meduse und wanderten dann zu der Gondel hinunter.
Rund um das Luftschiff zuckten noch einmal mehrere Blitze auf, dann legte sich das Unwetter urplötzlich. Eine schwarze Gestalt schwebte vor ihnen, ein aus Schwaden von Dunkelheit gewebtes Tuch, das sich in völliger Windstille leise auf und ab bewegte.
Langsam wuchs daraus ein Gesicht hervor, ein verzerrtes Gebiss und eine endlose Stirn über zwei leeren Augenhöhlen.
Der Torvaderon belauerte sie.
»Komm näher«, ließ sich eine kehlige, pfeifende Stimme vernehmen.
Schlotternd vor Angst stieg Colin auf die Schalttafel.
»Ich … Ich möchte Ihnen … meine Hilfe anbieten«, stammelte er. »Wenn Sie mich bei sich aufnehmen, kann ich Ihnen Matt ausliefern … den Matt, den Sie suchen!«
Die schwarzen Löcher, die sich anstelle der Augen im Schädel des Torvaderon auftaten, wurden schlagartig größer, und der Mund öffnete sich weit. Noch bevor Colin aufschreien konnte, wurde er von dem Tuch eingewickelt und ins Innere gesaugt.
Tobias rieb sich die Augen. Colin war im Innern der schwarzen Gestalt verschwunden. Der Torvaderon hatte ihn verschlungen.
Er durfte nicht länger hierbleiben.
In diesem Augenblick barst die Tür, und Matt kam mit Jon und Ambre in das zerstörte Cockpit gestürzt.
Wieder ertönte die schreckliche Stimme.
»Matt! Kind! Komm zu mir!«
Matt blieb wie gelähmt stehen, als er die dunklen Schwaden durch das zerbrochene Fenster dringen sah.
Mit einem Satz hechtete Tobias auf die drei zu und stieß sie zurück in den Gang.
Hinter ihm bäumte sich der Torvaderon auf. Aus dem dunklen Schleier schossen zwei Hände hervor, packten Tobias und zogen ihn in den Schlund, der inzwischen nahezu den gesamten Raum ausfüllte.
Tobias streckte die Hand nach Matt aus.
»Hilfe!«, schrie er. »Helft mir!«
Im nächsten Augenblick senkte sich das Tuch über Tobias herab und riss ihn fort in die unendliche Leere im Innern des Torvaderon.
Als die schwarze Gestalt Matt erblickte, erzitterte sie. Blitze zerrissen die Nacht und trafen die Meduse, die unter der elektrischen Spannung zu vibrieren begann und sich zusammenzog. Dann stieg sie so abrupt auf, dass der Torvaderon von dem Sog nach draußen gerissen wurde.
Bei dem Ruck, der dabei durch das Luftschiff ging, wurden sämtliche Passagiere der Gondel umgeworfen. Die Meduse durchbrach die Gewitterwolken und stieg immer höher und höher, bis sich die gallertartige Substanz ihres Leibes aufzulösen begann und sie ins Trudeln geriet. Mit der Verzweiflung eines verwundeten Tiers flog sie im Zickzackkurs Richtung Norden weiter, schneller als ein galoppierendes Pferd, über Hügel und Seen und die Lichter eines Pan-Dorfes hinweg.
Auch wenn sie dabei stetig an Höhe verlor, sauste sie immer noch mit solcher Geschwindigkeit voran, dass die Pans an Bord platt auf den Boden gedrückt wurden.
Schließlich krachte die Gondel mit dem Bug in eine hohe Pappel, gleich darauf schrammte sie mit der Längsseite an einer Felskante entlang, und zuletzt rissen die Tentakel, an denen sie befestigt war. Der Wind trug sie noch ein Stück durch die Luft, bevor sie auf einer kleinen Lichtung im Wald endgültig zu Bruch ging. Der Aufprall war so heftig, dass die Planken barsten und die Trümmer in alle Himmelsrichtungen davonkullerten.
Im Körper der Meduse entlud sich die Spannung in blauen Blitzen, die sie von innen her zerrissen.
Als sie auf der Erde aufschlug, stieg eine gewaltige Staubwolke auf.
Das blaue Flackern erstarb allmählich. Die Riesenqualle war tot.