34. Träume und Zeichen
Der Tisch des spirituellen Beraters war reich gedeckt.
Vor Matt standen verschiedene Pasteten, gebratenes Huhn und Schalen voller Obst, doch der ranzige Geruch der Laternen verdarb ihm den Appetit.
Eigentlich hatte er Schmerzen vorschützen wollen, um sich vor dem Abendessen zu drücken, aber der Berater hatte wieder mit Pluschs Auspeitschung gedroht, falls er nicht kam.
»Sagen Sie«, begann Matt in der Hoffnung, seinem Gegenüber weitere Informationen zu entlocken, »gibt es einen bestimmten Grund, warum die Königin mich zu kennen glaubt?«
»Redest du wieder von diesen Steckbriefen? Das habe ich dir doch schon erzählt: Sie träumt von dir.«
»Also so eine Art Traumbotschaft?«
»So ist es.«
»Und wer oder was könnte hinter so etwas stecken?«
Matt dachte an die Träume zurück, in denen ihm der Torvaderon erschienen war. Vielleicht würde er auf diesem Weg herausfinden, was es damit auf sich hatte.
»Ich bitte dich! Gott natürlich!«
Matt verschluckte sich an dem Stück Fleisch, das er gerade in den Mund gesteckt hatte.
»Gott?«, fragte er ungläubig.
»Aber natürlich! Er weist unserer Königin den Weg, und sie wird uns helfen, uns von unseren Sünden reinzuwaschen.«
»Was denn für Sünden?«
»Maßlosigkeit, Laster und – ihr!«, fuhr der Berater auf. »Die Kinder sind die Frucht unserer einstigen Sünden, durch die wir den Zorn Gottes auf uns gezogen haben.«
»Wir haben doch gar nichts getan.«
»Wir stammen alle von Sündern ab, die ihren Fluch an uns weitergaben! Dank Malronce wird das endlich ein Ende haben. So Gott will, werden wir ihm beweisen, dass wir Vergebung verdienen. Die Katastrophe war ein Zeichen, dass sich etwas ändern wird! Weil die ersten Menschen gesündigt haben, mussten all ihre Nachkommen dafür büßen, doch das wird bald vorbei sein. Indem wir die Frucht unserer Fehltritte vernichten, werden wir geläutert.«
»Indem ihr eure Kinder tötet?«, fragte Matt empört. »Das ergibt doch gar keinen Sinn, das ist blanker Wahnsinn!«
»Die Kinder sind durch und durch schlecht, das ist nach der Katastrophe ganz klar ans Licht gekommen. Sie sind das Symbol unserer Verfehlungen, unserer Sünden.«
»Wer hat denn behauptet, dass wir schlecht sind? Was für ein Quatsch! Wir wollen nur friedlich mit euch zusammenleben!«
»Irrtum! Dass jeder von uns Erwachsenen sich in der Gegenwart von euch Kindern so beklommen und unwohl fühlt, dass ihn der bloße Anblick von Kindern rasend macht, liegt allein daran, dass ihr böse seid. Nur der Nabelring macht euch beherrschbar, ohne ihn würdet ihr alles in Frage stellen, alles ändern wollen! Ihr seid die Unbeständigkeit selbst!«
»Das ist doch lächerlich. Ihr Erwachsenen, ihr seid wie Roboter, ihr gehorcht blind, ihr denkt nicht nach, ihr habt Angst vor allem, was ihr nicht kennt – wir Kinder hingegen, wir wollen lernen, erforschen, entdecken, wir entwickeln uns weiter!«
»Was du da beschreibst, ist die reine Anarchie.«
»Wozu ist das Leben denn gut, wenn man seine eigenen Kinder umbringt? Damit löscht man doch die gesamte Menschheit aus.«
»Nicht wenn wir dadurch Gottes Barmherzigkeit wecken. Wenn er uns nach diesem Liebesbeweis unsere Sünden von einst vergibt, wird er uns die Tore zum ewigen Leben öffnen.«
»Sie sind verrückt.«
Der Berater war so hingerissen von seiner eigenen Predigt, dass er Matts Bemerkung überhörte und wiederholte:
»Wir müssen demütig hinnehmen, dass die Kinder uns nur mehr dazu dienen, die Hautjagd zu Ende zu bringen, damit wir uns dereinst Gottes Gnade würdig erweisen können. Dann werden wir sie vernichten, werden jede Erinnerung an unsere Verfehlungen ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Und ein Kind, ein einziges unter ihnen, wird uns dank seiner Haut an den Ort der Verheißung führen, an jenen Ort, an dem Vergebung möglich ist, an jenen Ort, wo wir zu ganzen Menschen werden. Die Königin weiß es, die Königin ist mit der Gewissheit erwacht, dass uns irgendwo, am Fuße eines Apfelbaums, die Erlösung erwartet. Sie ist unsere Königin, weil sie die Einzige unter uns ist, die mit einer Erinnerung, einer Gewissheit erwachte. Deswegen erwählte sie sich einen Apfel zum Wappen. Malronce hat es in ihren Träumen gesehen!« Er zog eine kleine Bibel aus seinem Gewand und warf sie auf den Tisch. »Dieses Buch liegt in allen Ruinen, wir haben es überall gefunden, überall! Es ist der Überträger unserer Vergangenheit in die Zukunft, und die Königin entschlüsselt es für uns.«
Fanatiker!, dachte Matt. Die Zyniks werden von Fanatikern beherrscht! Einer Handvoll religiöser Eiferer, die alles glauben, was eine Verrückte, eine selbsternannte Königin ihnen sagt! Ich muss hier weg, bevor es zappenduster wird …
Als wollte der Berater Matts schlimmste Befürchtungen bestätigen, griff er nach einem Messer, stieß es in eine Hühnerkeule und verkündete:
»Bald wirst auch du bekehrt sein. Wenn die Königin dir die Augen geöffnet hat, wirst du wie wir alle bekehrt sein!«
Draußen war es Nacht geworden, und in der Gondel verbreiteten Laternen ein sanftes Licht.
»Was ist dieses Verlorene Paradies, das Sie gerade erwähnt haben?«, fragte Tobias.
»Ewige Seelenruhe und Vergebung. Der Garten Eden, aus dem wir nach dem Sündenfall vertrieben worden sind.«
»Meinen Sie diese Adam-und-Eva-Geschichte? Wie können Sie das noch wissen, wenn Sie sich nicht mehr an die Zeit vor der Katastrophe erinnern?«
»Eine Handvoll Männer und Frauen, unsere spirituellen Lehrer, die große Kraft aus dem Glauben schöpfen, haben ihr Gedächtnis ebenfalls nicht ganz verloren. Das Übrige steht in den Bibeln, die sie gesammelt haben.«
Das wird ja immer besser!, fluchte Tobias innerlich. Die Einzigen, die sich noch an irgendwas erinnern können, sind Perverslinge oder religiöse Fanatiker. Womit wohl bewiesen wäre, dass das Böse stärker ist als das Gute … Oder diese krankhaften Neigungen sind so eine Art Panzer gegen alle Säuberungsversuche von außen …
»Eins habe ich bei dieser ganzen Sache mit der Erbsünde noch nie kapiert«, sagte er laut. »Warum sollen wir die Last von etwas, was unsere Vorfahren begangen haben, mit uns herumtragen? Das wäre in etwa so, als würde man ein Kind ins Gefängnis stecken, weil seine Eltern Verbrecher sind.«
Der Unschuldstrinker wies drohend mit dem Finger auf ihn.
»Du bist ganz schön frech«, sagte er mit gespielter Empörung. »Für diese Gotteslästerung werden dich die spirituellen Berater auf den Scheiterhaufen werfen.«
»Ich frage ja nur …«
»Laut Malronce ist nun der Zeitpunkt gekommen, uns von der Erbsünde zu befreien – unsere Kinder zu verleugnen und sie Gott zu opfern. Denn ihre Träume kommen direkt von Gott.«
»Und wenn das alles gar nichts mit irgendeinem Gott zu tun hat?«
»Was meinst du damit?«
»Es wäre doch genauso gut möglich, dass dieser gewaltige Sturm eine Art Abwehrreaktion der Erde war, um uns loszuwerden. Ambre hat dazu eine superinteressante Theorie! Sie glaubt, dass die Natur von einer Energie gelenkt wird, deren einziges Ziel es ist, Leben zu schaffen und zu bewahren. Wir, die menschliche Spezies, hatten uns zu einem idealen Träger entwickelt, da wir das Leben schließlich sogar über den Planeten Erde hinaus bis ins Weltall verbreiteten. Aber wir haben es zu weit getrieben: zu viel Raubbau, zu viel Umweltverschmutzung, zu viele gerodete Wälder. Unser Mangel an Respekt vor unserer Umwelt hat uns zu Feinden des Planeten werden lassen. Also wollte uns die Natur, so die Theorie, mit der Katastrophe Einhalt gebieten. Der Eingriff war mächtig genug, um unsere Welt auf den Kopf zu stellen, aber nicht so zerstörerisch, dass wir völlig verschwinden. Die Natur hat uns die Chance gegeben, diesmal gewissenhafter mit unserem Fortschritt umzugehen.«
»Erzähl weiter«, sagte der Unschuldstrinker, als Tobias eine kurze Pause machte, weil sein Mund schon ganz trocken war.
»Damit Tiere und Pflanzen unserer Herrschaft mehr entgegensetzen können, hat der Sturm ein gewaltiges Mutationspotenzial entfesselt und das Erbgut der Lebewesen verändert, so dass viele Spezies stärker und zäher geworden sind. Dieser Impuls, wie Ambre das nennt, hat auch die Kinder erfasst, die von der Katastrophe verschont worden sind, und ihre Entwicklung beschleunigt, damit sie eine Überlebenschance haben. Das passt zu dem, was ich mal irgendwo gelesen habe, nämlich dass die Evolution nicht konstant voranschreitet, sondern in Schüben passiert. Der Sturm war auch so ein Schub.«
»Wenn dem so ist, warum sind dann Erwachsene und Kinder voneinander getrennt worden?«
»Ähm …«
»Um uns selbständiger zu machen und unsere Anpassungsfähigkeit zu steigern«, erklärte Ambre, die in diesem Moment zur Tür hereinkam. »Oder als Test am lebenden Objekt.«
»Als Test?«, fragte der Unschuldstrinker nach.
»Ja, ob die Menschen es tatsächlich verdienen, weiterzuleben. Ob sie es verdienen, wieder für die Weiterverbreitung des Lebens zu sorgen. Ob sie sich wie früher gegenseitig abschlachten oder ob es ihnen diesmal gelingt, friedlich zusammenzuleben und ihre neuen Fähigkeiten richtig zu nutzen.«
»Und die Träume der Königin? Die bildet sie sich nicht ein!«
»In dem Moment, in dem der Sturm unser Erbgut verändert hat, sind vielleicht auch bestimmte Bilder im Geist mancher Menschen entstanden, oder diese Frau ist dadurch so empfänglich für ihre Umwelt geworden, dass sie die Bewegung der kleinsten Teilchen im Universum spüren kann und einen Sinn darin findet. Aber das sind natürlich nur Vermutungen.«
Der Unschuldstrinker rieb sich das Kinn. Die Ausführungen der beiden Jugendlichen hatten ihn sichtlich ins Grübeln gebracht.
»Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann steckt hinter diesem Sturm also eine klare Absicht, ein Plan. Das ist doch auch eine Art Allmacht – eben ein Gott!«
»Nein, kein Gott im Sinne eines allwissenden höheren Wesens«, erwiderte Ambre, »eher die Grundsubstanz allen Daseins, eine Energie: das Leben. Und diese Energie treibt das Universum an, ganz ohne Hintergedanken, in einer Kette von Reaktionen und Gegenreaktionen, die sich unaufhörlich vorwärtsbewegt, so wie Wasser von der Schwerkraft angezogen vom Gipfel eines Bergs zu Tal strömt.«
Der Unschuldstrinker verschränkte die Arme vor der Brust.
»Dann stelle ich die Frage einmal andersherum: Wer hat dieses Wasser geschaffen? Wer hat es vom Gipfel eines Berges herablaufen lassen und warum? Die Existenz eines Gottes passt da durchaus ins Bild.«
»Vielleicht«, gab Ambre achselzuckend zu, »das will ich gar nicht bestreiten. Ich sage nur, dass man das Ganze auch anders erklären kann. Dass eine natürliche Harmonie möglich ist, dass die Menschen sein können, wie sie wirklich sind, ohne sich hinter fragwürdigen Moralbegriffen zu verschanzen, die sie eher schwächen als in ihrer Entwicklung fördern. Meine Theorie leugnet nicht, dass es einen Gott geben kann, aber sie rückt ihn in weitere Ferne.«
»Gott ist kein Selbstbedienungsladen, in dem man sich holt, was einem gerade so passt«, mahnte der Unschuldstrinker, »ihr tut gerade so, als wäre Gott ein Menü, das ihr euch selbst zusammenstellen könnt.«
»Das ist es ja gerade, was mich an den Erwachsenen stört: Die Dinge müssen immer fein säuberlich geordnet sein, sie lassen keinen Raum für Phantasie, Vorstellungskraft, Daseinsfreude! Dabei ist Gott genau das, wenn Sie mich fragen.«
Tobias spürte, dass der Unschuldstrinker die Geduld verlor, und wechselte das Thema.
»Die Große Karte, von der Sie vorhin gesprochen haben, was ist das eigentlich genau?«
Der Unschuldstrinker starrte Ambre durchdringend an, bevor er Tobias antwortete.
»Das ist eine besondere Anordnung von Muttermalen, die das gesuchte Kind auf dem Körper hat. Malronce hat diese Konstellation aufgezeichnet und eine Kopie nach Babylon geschickt. Bei der Entblößung der Gefangenen wird das Muster, das ihre Muttermale ergeben, mit der Großen Karte verglichen, und wenn man fündig geworden ist, soll das Kind unverzüglich der Königin überstellt werden.«
»Die ihm die Haut abziehen will«, ergänzte Tobias.
»Ja, um sie auf dem Tisch auszubreiten, auf dem Malronce nach der Katastrophe erwacht ist«, fuhr der Unschuldstrinker fort. »Dann wird auf der Karte die genaue Lage des Verlorenen Paradieses erscheinen.«
»Wie sieht dieser Tisch genau aus?«, fragte Ambre.
»Es ist ein flacher schwarzer Fels, auf dessen Oberfläche eine Weltkarte zu sehen ist. Wir nennen ihn das Steinerne Testament.«
»Woher wissen Sie das alles?«, bohrte Tobias nach.
»Ich bin bei der Entblößung der Pans dabei. Das ist … ein Hobby von mir.«
»Was ist denn so toll daran?«
Der Unschuldstrinker setzte ein Grinsen auf, das Tobias nicht geheuer war.
»Ich umgebe mich eben gern mit Kindern, weißt du. Sobald feststeht, dass keiner der gefangenen Pans der richtige ist, werden sie auf dem Marktplatz als Sklaven versteigert. Ich habe mir eine hübsche Sammlung zusammengekauft.«
»Aber in Ihrem Turm haben wir nur Colin gesehen«, wunderte sich Tobias, der immer noch nicht begriff.
»Ja, ganz richtig. Die anderen … Tja, die anderen sind nur vorübergehend meine Gäste, das ist alles.«
Der Unschuldstrinker stieß ein dreckiges Lachen aus, das Tobias durch Mark und Bein ging. Dann stand er auf und ging zum Cockpit.
»Ich werde mal nach dem Rechten sehen. Fangt ruhig schon mit dem Essen an, ich komme später nach.«
Kaum war er verschwunden, hopste Ambre zu Tobias aufs Sofa.
»Die Muttermale also«, sagte sie nachdenklich. »Ich dachte immer, dass sie ganz zufällig verteilt ist, aber nein, sie haben natürlich eine tiefere Bedeutung! Die Natur ist viel zu klug eingerichtet, um das dem Zufall zu überlassen. Die Muttermale sind eine Form der Kommunikation, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«
»Du meinst, dass wir mit einer Art Botschaft geboren werden?«
»Vielleicht ist es der Name, den uns die Natur gegeben hat, oder eine Orientierungshilfe, um zu einem Ort der Harmonie zu gelangen, oder ein Bruchstück eines Satzes, das sich mit denen aller anderen Menschen zu einem Buch des Lebens zusammenfügen lässt, was weiß ich! Ist das nicht der Wahnsinn?«
»Mir will trotzdem nicht so recht in den Kopf, dass einer von uns mit einer Karte auf der Haut zur Welt kommt.«
»Warum denn nicht? Jede Zelle unseres Körpers enthält unsere gesamten Erbinformationen, und das ist durchaus so etwas wie eine Bauanleitung, wie wir zusammengesetzt werden sollen. In der Natur hat alles seinen Sinn und Zweck, also erfüllen auch die Muttermale eine bestimmte Funktion. Diese ›Karte‹, die Malronce sucht, führt sicher zu etwas Hochbedeutendem.«
»Dann könnte es wirklich eine Art Paradies sein?«
»Wenn das Verlorene Paradies ein Weg ist, mit der Natur in Einklang zu leben, warum nicht?«
»Glaubst du, dass die Karte sozusagen der Schlüssel zum Glück ist?«
»Überleg doch mal, wenn die Natur diesen Ort so gut versteckt, muss es sich um etwas ganz Wesentliches handeln, das eng mit uns allen verbunden ist. Die Grundlage des Daseins, und doch ein großes Geheimnis. Ich glaube, dass dieser Ort die Quelle des Lebens ist.«
Tobias war so verblüfft, dass ihm ein »Ach, du Scheiße« entfuhr.
»Stell dir nur vor, wenn der den Zyniks in die Hände fällt!«
Er ging zum Tisch und nahm sich einen Apfel.
»Diese Möglichkeit dürfen wir gar nicht erst in Erwägung ziehen«, erklärte Ambre entschlossen.
»Das muss Matt unbedingt erfahren! Davon müssen wir allen Pans erzählen!«, sagte Tobias aufgeregt und führte den Apfel zum Mund.
Ambre hielt seinen Arm fest.
»Ich an deiner Stelle würde nichts essen, was vom Unschuldstrinker kommt. Die Kinder, die er zu sich holt, tauchen nie wieder auf, erinnerst du dich?«