47. Duell in den Wolken

Matt hechtete zur Leiter und folgte Ambre auf das Dach.

Der spirituelle Berater entriss sie dem Wärter und legte ihr ein Messer an den Hals.

»Gebt ihr denn nie auf?«, schimpfte er und funkelte Matt wütend an.

»Haben Sie vergessen, wie wir uns nennen?«, fragte Matt zurück. »Wir sind die Pans, die Söhne und Töchter Peter Pans, die Kinder, die nicht erwachsen werden wollen und die sich nichts sehnlicher wünschen als Freiheit! Wundert es Sie da noch, dass wir uns nicht in Ketten legen und hinter Schloss und Riegel bringen lassen?«

»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Malronce wird dich gut behandeln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen fürstlichen Empfang sie dir bereiten wird!«

»Sie wird ihm die Haut abziehen!«, schrie Tobias, der ebenfalls aufs Dach geklettert war. »Um sie auf dem Steinernen Testament auszubreiten!«

Der Berater warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Dann ritzte er mit der Klinge über Ambres Haut, so dass sich eine rote Spur auf ihrem Hals bildete.

»Zurück mit euch!«, kreischte er. »Weicht zurück, sonst ist sie es, die bei lebendigem Leib gehäutet wird!«

Ambre geriet in Panik und versuchte vergebens, den Druck auf ihren Hals zu lockern.

Im selben Moment hievten sich Jon und Perez auf das Dach.

Der Wärter spannte seinen Bogen und nahm die beiden Pans ins Visier, doch vor Nervosität zitterte er so sehr, dass er nicht richtig zielen konnte.

»Werft eure Waffen weg!«, brüllte der spirituelle Berater.

Matt schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie Ambre frei, dann können Sie mich haben.«

»Zurück, habe ich gesagt! Hier wird nicht getauscht. Wenn ihr euch nicht alle sofort auf den Boden legt und euch ergebt, werde ich eure Freundin wie ein Schwein verbluten lassen!«

Matts Kiefermuskeln spannten sich an.

»Wehe, Sie krümmen ihr auch nur ein Haar«, warnte er.

»Was erdreistest du dich, mir zu drohen?«

Matt spürte, dass der Mann kurz davor war, die Nerven zu verlieren. Die Situation war außer Kontrolle geraten, und das versetzte ihn in Panik. Das war zwar gefährlich für Ambre, der er mit einer einzigen unbedachten Handbewegung die Kehle durchschneiden konnte, hatte aber auch den Vorteil, dass er leichter zu überrumpeln war.

Das wusste Matt aus eigener leidvoller Erfahrung.

Du hättest Ambre nicht weh tun dürfen, hörte er sich in kalter Wut denken.

Er umklammerte den Dolch, den er dem ersten Wärter abgenommen hatte.

Wenn er all seine Kraft in den Wurf legte, konnte er seinen Gegner töten.

Dazu müsste er ihn allerdings genau ins Herz treffen.

Er suchte Ambres Blick.

»Ambre«, sagte er. »Mach bei mir, was du bei Tobias auch immer machst.«

Ambre zwinkerte ihm zu, was Matt als Zustimmung auffasste.

Ich hoffe, dass wir uns richtig verstanden haben.

In diesem Augenblick rutschte dem Wärter die Bogensehne aus den schweißnassen Händen. Der Pfeil schoss zwischen Matt und Jon hindurch und bohrte sich in Perez’ Brust. Der Junge taumelte und kippte hintenüber ins Leere.

Tobias rannte zur Dachkante, um ihn aufzufangen, doch Perez war schon an der Gondel entlang in die Tiefe gerutscht und wurde von den Baumkronen unter ihnen verschluckt.

Matt schleuderte den Dolch.

Die Waffe sauste geradewegs auf Ambre zu.

Dann wechselte sie die Richtung und erwischte den Berater mitten im Gesicht.

Die Klinge bohrte sich bis zum Heft in seine Wange, und beinahe gleichzeitig fiel das Messer an Ambres Hals zu Boden. Der Berater taumelte, spuckte zwei Zähne und einen Schwall Blut aus, und noch bevor er Ambre wieder an den Haaren packen konnte, stand Matt vor ihm und brach ihm mit einem einzigen Tritt die Rippen.

Die Wucht des Stoßes hätte den Berater wohl ebenfalls über Bord geschleudert, doch im letzten Moment klammerte er sich an eins der Tentakel, an denen die Gondel hing.

Unterdessen hatte Jon sein Fischernetz über den Wärter geworfen und prügelte zusammen mit Tobias auf ihn ein. Der Mann fiel auf die Knie und hielt sich schützend die Arme über den Kopf.

Ambre warf sich in Matts Arme. Der Wind wehte ihre rotblonden Strähnen in sein Gesicht, während sie zusahen, wie der Berater sich rettungslos in den Tentakeln des Zeppelins verhedderte.

Er kreischte und quiekte vor Angst, und aus seinen Händen stieg weißer Rauch auf. Dann wickelten ihn die Tentakel ein und beförderten ihn zur Meduse hinauf.

Sie konnten den grausamen Tod, der ihn dort oben erwartete, nicht verhindern.

Matt fragte sich, ob er ihm ein solches Ende nicht sogar wünschte, aber als er seine gellenden Schreie hörte, war er sich da nicht mehr so sicher. Sie durften ihn nicht so leiden lassen. Er war nicht wie sie.

Tobias schien dasselbe zu denken, denn er hob den Bogen auf und schoss. Der erste Pfeil ging daneben, doch beim zweiten Versuch traf er den Mann mit Ambres Hilfe mitten ins Herz.

Der Berater erschlaffte und baumelte wie eine ausrangierte Marionette in den Tentakeln, bis er nach und nach von dem gallertartigen Leib der Meduse verschluckt wurde.

 

Der Unschuldstrinker hatte sich mit Colin im Cockpit eingeschlossen. Matt trat die Tür ein, und noch bevor der Mann nach seinem Dolch greifen konnte, schlug er ihn mit der Faust zu Boden.

Colin ergab sich sofort.

»Ich bin auf eurer Seite«, wimmerte er mit erhobenen Händen. »Er hat mich gezwungen, ihm zu folgen!«

Als Matt ihn grob am Arm packte, sprang Tobias zu seiner Verteidigung ein.

»Vergiss nicht, dass wir es ohne ihn nie geschafft hätten, dich zu befreien.«

»Ja, das stimmt!«, beteuerte Colin. »Ich habe ihn zu Jon und den anderen Pans geführt! Ich gehöre zu euch!«

Matt sah ihm lange prüfend in die Augen.

»Na schön, du kommst mit uns nach Eden. Die Ratsversammlung der Pans soll über dein Schicksal entscheiden.«

Ambre stellte sich vor die Schalttafel.

»In niedriger Flughöhe komme ich zurecht, glaube ich, aber hier oben sind die Luftströmungen viel stärker, da kann ich für nichts garantieren.«

»Ich kann das übernehmen!«, rief Colin eifrig.

Nach kurzem Zögern bedeutete Matt ihm, sich ans Steuer zu setzen.

»In welche Richtung soll es denn gehen?«, fragte Colin.

»Nach Norden. Wir fahren nach Hause.«