ERSTER TEIL

Das Pflanzenreich

1. Ein zu langer Weg

In nur sechs Monaten hatte sich die Welt radikal verändert.

Matt Carter hatte die ersten vierzehn Jahre seines Lebens in New York verbracht. In einer Großstadt, zwischen Asphalt und Gebäuden aus Stahl und Glas, im Kokon der Zivilisation mit dem Luxus von Strom, regelmäßigen warmen Mahlzeiten und dem Schutz der Erwachsenen.

Die Erwachsenen.

Was war nur aus ihnen geworden, jenen Erwachsenen, die den Sturm überlebt hatten? Manche hatten sich in einfältige, blutrünstige Kreaturen verwandelt, andere in … Zyniks. Heimtückische Kinderjäger.

Seit zehn Tagen schon marschierte er mit Tobias und Ambre in Richtung Süden. Matt war groß für sein Alter, und seine langen braunen Haare wehten ihm bei jedem Windstoß in sein grimmig entschlossenes Gesicht. Ambres blonde, rötlich schimmernde Locken umrahmten ein hübsches Gesicht mit hellem Teint und großen grünen Augen. Der dunkelhäutige Tobias war im Vergleich zu seinem besten Freund eher klein, und ein feiner Flaum über seiner Oberlippe ließ die ersten Anzeichen eines Schnurrbarts erkennen.

Zusammen waren sie ein eingeschworenes Team.

Die Gemeinschaft der Drei.

Plusch, eine Hündin von der Größe eines Ponys, trug ihre Taschen. Allmählich ging ihre Verpflegung zur Neige. Ihre Wasserflaschen konnten sie unterwegs an Flüssen und Bächen auffüllen, aber von ihren Vorräten an Dörrfleisch und gefriergetrocknetem Obst und Gemüse war nur noch ein kläglicher Rest in einem der Rucksäcke übrig.

Zehn Tage war es her, seit sie die Carmichael-Insel verlassen hatten, ihren einzigen Zufluchtsort, den Schlupfwinkel ihrer Freunde und eine der Ansiedlungen der Pans, wie sich die überlebenden Kinder und Jugendlichen nannten.

Seit zehn Tagen stapften sie durch hohes Gras, schlugen sich durch dichten Wald und stiegen unzählige Hügel hinauf und wieder hinab.

Matt hatte damit gerechnet, auf viele seltsame Wesen zu stoßen, aber die Tiere um sie herum schienen sich von ihnen fernzuhalten: Nur ein paar geheimnisvolle Laute im Morgengrauen und huschende Schatten unter den Farngewächsen zeugten von den Veränderungen, die sich auf der Erde ereignet hatten.

Die Natur hatte die Herrschaft zurückerobert und war nun mächtiger als je zuvor. Eine dichte Pflanzendecke hatte die letzten Überbleibsel der menschlichen Zivilisation unter sich begraben. Die Tiere hatten sich verwandelt; nach dem vernichtenden Sturm waren zahllose stärkere und gefährlichere Arten aufgetaucht, die den Menschen wieder lehrten, was es hieß, eine leichte Beute zu sein.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, als die drei beschlossen, ihr Nachtlager in einer Mulde am Fuße eines kleinen Hügels aufzuschlagen. Als erfahrener Pfadfinder kümmerte sich Tobias um das Feuer, während Ambre das Essen vorbereitete und Matt die Decken auslegte.

»Wir haben keine Kekse mehr«, warnte Ambre. »Selbst wenn wir den Gürtel enger schnallen, kommen wir mit dem Rest nur noch ein bis zwei Tage aus.«

»Ich bleibe bei meinem Vorschlag von gestern: Wir machen einen Tag lang Pause, stellen Fallen auf und gehen jagen«, erklärte Tobias und warf das Feuerholz, das er gesammelt hatte, vor sich auf die Erde.

»Keine Zeit«, entgegnete Matt.

»Was soll eigentlich dieses Höllentempo?«, fragte Ambre.

»Mein Instinkt sagt mir, dass wir keine Sekunde zu verlieren haben. Man ist uns dicht auf den Fersen.«

Ambre wechselte einen sorgenvollen Blick mit Tobias.

»Dieses Ding …«, sagte sie leise. »Dieser Torvaderon, wie du ihn nennst – ist es das?«

»So nennt er sich. Das hat er mir in meinen Träumen offenbart.«

»Du sagst ja selber, dass es Träume waren. Vielleicht ist er nur die Ausgeburt deiner Ängste und …«

»Auf keinen Fall!«, unterbrach er sie sofort. »Es gibt ihn wirklich. Erinnerst du dich nicht an die Beschreibung des Wesens, das die Pan-Gemeinschaft im Norden angegriffen hat? Er sucht mich. Er ist kein lebendiges Wesen wie du und ich, er ist zugleich in unserer Welt zu Hause und in … einem anderen, dunkleren Universum. Irgendwie kann er Bilder vor unserem inneren Auge hervorrufen und durch Träume kommunizieren. Ich weiß nicht, was er damit bezweckt, aber ich habe es erlebt. Und ich spüre ganz genau, dass er uns verfolgt.«

»Aber was machen wir, wenn uns die Vorräte ausgehen?«, fragte Tobias. »Irgendwas müssen wir schließlich essen!«

»Wir finden schon was.«

Daraufhin warf Matt seinen Mantel hin und stapfte davon.

 

Ambre und Tobias blickten sich an.

»Die Reise macht ihm ganz schön zu schaffen, findest du nicht auch?«, fragte Tobias.

»Er schläft schlecht. Ich höre ihn nachts stöhnen.«

Tobias hob erstaunt die Augenbrauen. Wie konnte Ambre etwas mitbekommen haben, das er nicht bemerkt hatte, wo sie doch alle nebeneinander schliefen?

Die beiden sind wirklich füreinander bestimmt …

»Sag mal, Ambre, glaubst du wirklich, dass wir diesen Blinden Wald finden werden?«

»Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich frage mich eher, wie es wird, wenn wir erst einmal drin sind … Nach dem, was man sich so erzählt, soll es ein furchtbarer, geradezu undurchdringlicher Ort sein, in dem schreckliche Kreaturen hausen.«

»Und wenn wir es schaffen, ihn zu durchqueren, was tun wir dann, wenn wir im Süden sind?«

»Den Antworten auf unsere Fragen nachgehen: Was haben die Zyniks mit den entführten Pans vor? Warum suchen sie ausgerechnet Matt? Du wusstest doch, worauf du dich bei dieser Reise einlässt!«

»Ja, schon gut, es ist nur … Wir sind jetzt schon ziemlich am Ende und irren immer noch in der Gegend herum. Da kommen mir eben Zweifel, ob es wirklich so klug ist, geradewegs in die Höhle des Löwen zu laufen.«

»Wir irren nicht herum, wir gehen nach Süden. Bereust du schon, dass du mitgekommen bist?«

Tobias überlegte kurz und starrte auf seine Schuhe, ehe er antwortete.

»Nein, Matt ist mein Freund! Aber ich bin trotzdem überzeugt, dass er einen Fehler macht. Wir hätten im Schutz der Carmichael-Insel bleiben sollen.«

 

Eine Stunde später tanzten die Flammen über dem knisternden Holz. Langsam senkte sich die Nacht auf das Lager herab, und wie jedes Mal konnte Tobias nur ehrfürchtig staunen, wie sehr sich der Planet verändert hatte. Abend für Abend tauchten unzählige Sterne auf, die heller am schwarzen Himmel leuchteten, als er es je erlebt hatte. In der industrialisierten Welt hatten die Menschen längst vergessen, wie das Firmament ohne die Lichter der Städte und ohne Luftverschmutzung aussehen konnte. Tobias fiel wieder ein, was sein Pfadfinderführer ihm einmal gesagt hatte: »Das Licht einer fünfundzwanzig Kilometer entfernten Kerze genügt, um unsere Sicht auf die Sterne zu beeinflussen.« Nun konnte Tobias das bewundern, was seine frühesten Vorfahren zugleich gefürchtet und verehrt hatten: das von unzähligen fernen Seelen durchwanderte schwarze Nichts.

Denn das ist der Himmel: die unendliche Kulisse unseres irdischen Lebens, der tägliche Widerschein unserer Grenzen.

Mit halb leerem Magen lagen die drei in ihre Schlafsäcke gekuschelt um die rot glimmende Feuerstelle herum und sehnten den Schlaf herbei. Plusch streckte sich grummelnd und rollte sich dann im Gras zusammen.

Wie in jeder Nacht, seit sie aufgebrochen waren, wurden sie lange von Zweifeln und Sorgen geplagt, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf fielen.

 

Zwei Tage später waren ihre Vorräte endgültig aufgebraucht.

Auf ihrem Weg kamen sie immer wieder an Büschen vorbei, an denen riesige braune und orangefarbene Beeren wuchsen, doch Ambre hinderte ihre Freunde jedes Mal daran, der Versuchung zu erliegen. Sie wies hartnäckig darauf hin, dass sie nicht sicher sein konnten, welche Früchte essbar und welche giftig waren.

»Wir sind keine Weitwanderer«, sagte sie und dachte wehmütig an die Pans, die von Gemeinschaft zu Gemeinschaft zogen, um Nachrichten zu überbringen. »Ohne die nötigen Kenntnisse können wir dieses Risiko nicht eingehen.«

»Ach ja?«, erwiderte Tobias verärgert. »Und was sollen wir heute bitte essen?«

»Nur Geduld, wir werden schon was finden.«

»Wann? Morgen? In drei Tagen? Wenn wir verhungert sind?«

Vor Erschöpfung lagen ihre Nerven blank. Matt hob beschwichtigend die Hände.

»Wir werden auf die Jagd gehen, etwas anderes bleibt uns wohl nicht übrig. Toby, glaubst du, dass du bis heute Mittag ein Tier fangen kannst?«

»Ich werd’s versuchen.«

Während seine beiden Freunde ein notdürftiges Lager aufschlugen, kroch Tobias durch das Unterholz und legte Schlingen aus, mit denen er ein kleines Reh oder einen Hasen zu fangen hoffte. Er prägte sich gut ein, wo er die Fallen aufgestellt hatte, und ging dann zum Lager zurück.

Ambre und Matt diskutierten gerade über die Alteration, als er zu ihnen stieß.

Die Alteration. Die zunächst fast unmerkliche, aber doch stetige Veränderung, die manche Pans an sich bemerkt hatten und die mit der Zeit das Ausmaß übernatürlicher Kräfte annahm.

»Glaubst du, dass die Alteration auch bei den anderen Gemeinschaften aufgetreten ist?«, fragte Matt.

»Was bei uns passiert ist, hat sich bestimmt auch an anderen Orten ereignet. Vielleicht hat es hie und da etwas länger gedauert, aber ich bin sicher, dass viele Pans inzwischen in der Lage sind, ihre neuen Fähigkeiten zu beherrschen.«

»Ich habe fünf Schlingen ausgelegt, jetzt heißt es abwarten und Daumen drücken«, verkündete Tobias.

Während sie plauderten, streckten sie ihre müden Beine aus. Der Halt kam zum richtigen Zeitpunkt: Sie konnten einfach nicht mehr. Alles tat ihnen weh, die Füße, die Waden, die Oberschenkel. Matt versuchte, seine Unruhe vor den anderen zu verbergen. Jede Minute, in der sie nicht vorwärtskamen, war verlorene Zeit. Er fürchtete den Torvaderon.

Seit ihrem Aufbruch war keine Nacht vergangen, in der er nicht von ihm träumte. Er sah seine unförmige Gestalt über eine Lichtung wogen, bis sich wieder der schreckliche Totenkopf zeigte, der ihm mit eisiger Stimme zuflüsterte: »Komm zu mir, Matt. Ich bin hier. Komm. Komm in mich.«

Trotzdem wusste Matt, dass sie die Pause bitter nötig hatten. Sie konnten nicht ewig in diesem Tempo weitermarschieren. Und das Schlimmste stand ihnen ja noch bevor: die Durchquerung des Blinden Waldes.

Plötzlich bemerkte Matt, dass seine Hündin nicht da war.

»Habt ihr Plusch gesehen? Sie ist schon seit einer ganzen Weile verschwunden«, sagte er besorgt.

»Hm, stimmt. Ich hab sie ganz vergessen«, gestand Tobias.

Ambre, die gerade ihre Alteration trainierte – sie hatte die Fähigkeit entwickelt, nur durch Gedankenkraft Gegenstände zu bewegen –, hob den Kopf.

»Du kennst sie doch, sie kommt sehr gut allein zurecht. Entspann dich. Sie sucht bestimmt etwas zu fressen.«

Einige Minuten später raschelte es im Farn, und der struppige Kopf der Hündin kam zum Vorschein. Sie trug einen Hasen im Maul, den sie vor Matts Füßen ablegte.

»Du bist wirklich eine außergewöhnliche Hündin, weißt du das? Danke, Plusch!«

Plusch schüttelte sich und trottete davon, um sich im Schatten eines Baumes von den Strapazen der Reise auszuruhen.

Tobias’ Augen glänzten vor Aufregung. Endlich wieder frisches Fleisch!

»Wie gehen wir vor? Das Fell brät man ja nicht mit, oder?«

»Zuerst muss man ihn vorbereiten«, erklärte Ambre mit vielsagendem Blick.

»Du meinst: ihm die Haut abziehen, ihn ausnehmen und enthaupten?«, fragte Tobias.

»Genau.« Sie seufzte, als die beiden Jungen angewidert das Gesicht verzogen. »Na schön, hab schon verstanden. Ich übernehme das, Tobias, zünde du schon mal das Feuer an.«

 

Nach dem Essen machten sie ein Verdauungsschläfchen. Keiner von ihnen verspürte große Lust, gleich wieder aufzubrechen, nicht einmal Matt, der sich an das weiche Fell seiner Hündin kuschelte und bald eingenickt war.

Am späten Nachmittag zog Tobias los, um seine Fallen zu überprüfen, doch er kehrte mit leeren Händen zurück.

Am Abend aßen sie die letzten Reste des Hasen und ließen sich von den fernen Rufen der Eulen, dem Murmeln fremder Kreaturen und dem sanften Rauschen der Blätter im Wind in den Schlaf wiegen.

Matt wachte auf, als ihm die Kälte in die Glieder kroch. Plusch war noch näher ans Feuer gerückt, und er hatte sich unbewusst an Ambre geschmiegt. Sein Gesicht war halb unter ihrer rotblonden Mähne begraben, und seine Nase berührte fast ihren Nacken. Ihre Haut roch gut. Zum Glück hat sie darauf bestanden, dass wir uns unterwegs in jedem Fluss gründlich waschen, dachte er noch ganz verschlafen. Ich mag ihren Geruch.

Und wenn sie jetzt auf einmal aufwachte? Was würde sie denken?

Matt rückte vorsichtig ein Stück von ihr ab, weg von ihrem warmen Rücken.

Es war noch dunkel. Wie spät es wohl war? Zwei Uhr morgens? Oder schon kurz vor der Morgendämmerung?

Die Blätter raschelten viel lauter als vorhin. Kein einziger Vogel war mehr zu hören. Und es ist so kühl.

Matt setzte sich auf. Er spürte einen Tropfen auf der Stirn. Es fängt an zu regnen! Auch das noch! Er sah sich hastig um, konnte im Dunkeln aber keinen geeigneten Unterschlupf ausmachen.

Ein weißer Blitz fuhr auf den Wald herab.

Dicht gefolgt von einem langen, rollenden Donner.

Ein Gewitter zog auf.

Tiefe Furcht packte Matt. Sein Magen verkrampfte sich, und eine kalte Hand legte sich um sein Herz. Das ist er!

Er fuhr herum und rüttelte Tobias und Ambre wach.

»Steht auf! Schnell!«

»Wie? Was? Was ist los?«, stammelte Tobias. In seine verschlafene Stimme schlich sich ein Anflug von Panik.

»Der Torvaderon, er kommt näher!«

»Matt, beruhige dich«, sagte Ambre. »Das ist nur ein Gewitter.«

»Nein, begreifst du denn nicht, er ist das Gewitter. Ich weiß es, ich spüre es! Los, wir müssen weg hier.«

»Und wo willst du mitten in der Nacht hin, bei dem Regen?«

»Wir müssen weiter. Er darf uns nicht erwischen.«

»Matt, du spinnst. Wir müssen uns irgendwo unterstellen.«

Tobias pflichtete Ambre bei.

»Sie hat recht. Man ist nie schneller als ein Gewitter, das haben sie uns bei den Pfadfindern immer wieder eingetrichtert.«

Matt sah zu, wie seine Freunde hastig ihre Sachen packten und sich nach einem Felsen umsahen. Mit einem Pfiff gab Tobias ihnen zu verstehen, dass er etwas entdeckt hatte. Er streckte das Stück seines Leuchtpilzes in die Höhe und deutete auf einen umgestürzten Baum, dessen mächtige, von Farnkraut eingeschlossene Wurzeln ein hervorragendes Versteck boten. Kaum waren sie darunter gekrochen, legte Matt eine Hand über den Pilz, der einen gleißend hellen Schein verbreitete.

»Steck das sofort weg, sonst findet man uns.«

Tobias gehorchte widerwillig. Dann drängten sie sich eng aneinander und lehnten sich an Plusch.

Inzwischen goss es in Strömen, und ein Blitz nach dem anderen zuckte über den Baumwipfeln. Der Donner grollte so heftig, dass der Boden unter ihnen bebte.

»Woah!«, stieß Ambre hervor. »Das ist ja richtig gruselig.«

Im grellen Licht glänzte die graue Rinde der Baumstämme wie Schlangenhaut, und die knorrigen Äste verwandelten sich in skelettartige Hände. Bei jedem Windstoß flatterten die Blätter wie unzählige kleine Flügel. Die Umgebung schien sich in eine Geisterwelt zu verwandeln, während das Gewitter darüber hinwegfuhr.

Zehn Meter neben Matt schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall ein Blitz ein, der einen Kastanienbaum mitten entzweispaltete. Die drei Freunde drückten sich an die zitternde Plusch. Der Regen wurde noch heftiger. Um sie herum schossen Dutzende von schlammigen Sturzbächen den Hang hinab.

Sie hüllten sich in eine Decke. Noch hatten sie die Füße im Trockenen.

»Siehst du, es ist nur ein Gewitter«, rief Ambre Matt durch das Prasseln des Regens zu.

»Aber was für eins«, stellte Tobias fest.

»Nicht so laut«, mahnte Matt, der noch immer auf der Hut war.

»Als würde sich bei diesem Sauwetter irgendjemand hier herumtreiben!«, erwiderte Tobias noch lauter, um seinem Freund zu beweisen, dass keine Gefahr drohte.

In diesem Moment tauchten zwei mächtige Scheinwerfer über ihnen auf und leuchteten das Gestrüpp um sie herum ab. Tobias zuckte zusammen und brachte vor Überraschung und Angst den Mund nicht mehr zu.

»Ein Stelzenläufer«, raunte Matt und packte den Griff seines Schwerts.

Die beiden gleißenden Strahler glitten über den Baumstamm hinweg, unter dem sie sich versteckten, und suchten weiter den Boden ab.

»Er hat uns nicht bemerkt«, flüsterte Matt hoffnungsvoll.

»Was ist das?«, fragte Ambre schaudernd.

»Die Leibgarde des Torvaderon. Sie haben Augen wie Scheinwerfer. Der Stelzenläufer darf uns auf keinen Fall sehen, sonst ruft er sofort die anderen, so war es bisher jedes Mal. Rührt euch nicht vom Fleck!«

Eine drei Meter hohe Gestalt in einem langen schwarzen Kapuzenmantel trat in die Mulde vor dem entwurzelten Baum. Eine ihrer Stelzen bohrte sich direkt vor der Nase der drei Freunde in den Boden. Sie war von einer dicken milchfarbenen Haut überzogen und lief in drei daumenähnliche Stummel aus, die sich zur Stabilisierung in die Erde krallten.

Matt legte Ambre die Hand über den Mund, damit sie nicht aufschrie.

Die Scheinwerfer trafen auf die Reste des Feuers, das Tobias am Vortag geschürt hatte.

Der Stelzenläufer stieß einen lauten, klagenden Ruf aus, der an den Gesang eines Wals erinnerte, und aus der Ferne erschallte über den Lärm des Gewitters hinweg eine Antwort. Kurz darauf stapfte mit riesigen Schritten ein zweiter Stelzenläufer herbei und stürzte schneller als ein sprintender Mensch auf den Lagerplatz zu. Eine Hand mit unendlich langen Fingern glitt aus dem Mantel hervor und betastete die erkalteten Holzscheite, während sein bläulich schillernder Arm, wie von einem seltsamen Teleskopmechanismus bewegt, immer länger wurde.

»Ssssssch, da! Sssssssssch … Er war hier!«, fiepte das Wesen mit einer Fistelstimme, die im Unwetter kaum zu vernehmen war.

Drei Blitze schlugen kurz hintereinander in der erloschenen Feuerstelle ein und ließen Funken aufsprühen. Plötzlich ließ der Regen nach, der Wind legte sich, und auf einmal fielen keine Tropfen mehr vom Himmel. Ein Nebelteppich waberte durch den Wald. Dann glitt lautlos eine längliche, schwarze Form zwischen den Bäumen hervor.

Von ihrem Versteck aus konnten die drei Freunde nichts Genaues erkennen, doch Matt wusste, dass sie den Torvaderon vor sich hatten.

Der Nebel ringelte sich um die Stelzenläufer, und die Form schwebte ganz dicht an den Unterschlupf heran.

»Hier … mein Gebieter … Sssssch, hier … er war hier! Sssssch …«

»Ich will ihn haben!«, fauchte eine heisere Stimme. »Findet ihn! ICH WILL IHN HABEN

Der Schrei hallte durch die Nacht, und selbst der Nebel zuckte dabei zusammen.

Die beiden Stelzenläufer staksten weiter und leuchteten das Gebüsch ringsum mit ihren Scheinwerfern aus.

Sie gehen nach Süden, stellte Matt fest.

Drei weitere Stelzenläufer folgten, dann noch zwei.

Die schwarze Form glitt davon und verschmolz mit der Nacht.

Sofort setzte der Sturzregen wieder ein, und der Wind pfiff ihnen um die Ohren.

Matt seufzte erleichtert.

»Das war knapp«, sagte er.