20. Ein heikler Plan

Ambre, Matt und Tobias hatten ihre Trinkflaschen am Flussufer wiederaufgefüllt und einen günstigen Augenblick abgewartet, um die Steinbrücke zu überqueren. Weniger als fünfhundert Meter von der Stadt entfernt entdeckten sie einen hervorragenden Beobachtungsposten: Sie versteckten sich in einem breiten Loch zwischen Wurzeln und blühenden Hecken. Von dort aus hatten sie das Haupttor gut im Blick.

Die Zyniks hatte ihre Stadt mit viel Geschick und Fleiß errichtet. Eine fünf Meter hohe Festungsmauer umgab die Siedlung von allen Seiten. Matt nahm an, dass es sich eher um einen Schutzwall gegen Wildtiere als um eine Kriegsvorrichtung handelte. Die schmalen Häuser hatten, soweit er sehen konnte, weiße Fassaden mit sichtbarem Fachwerk und mit Kaminen geschmückte Spitzdächer. All das ähnelte sehr einer mittelalterlichen Stadt.

Die Wächter unter dem Bogen am Eingangstor plauderten miteinander und achteten nicht besonders auf die Leute, die ein und aus gingen, genauso wenig auf die von Eseln, Pferden oder manchmal Bären gezogenen knirschenden Wägelchen mit Waren.

»Auf diesem Weg kommen wir nicht hinein«, meinte Matt. »Das ist zu riskant, auch wenn sie nicht sehr wachsam sind.«

Ambre musterte ihn streng.

»Matt, darf ich fragen, was du hier zu finden hoffst?«

»Antworten auf unsere Fragen.«

»Aber wir sind doch Pans! Die lassen uns nie im Leben da rein!«

»Wir sind groß genug, um als Erwachsene durchzugehen, wir müssen nur unsere Gesichter unter den Kapuzen verbergen.«

»Erinnert euch an Colin«, sagte Tobias. »Er war ein Pan, und trotzdem haben die Zyniks ihn aufgenommen.«

»Natürlich nehmen die Zyniks die Jugendlichen auf, die sich auf ihre Seite schlagen wollen«, erwiderte Matt.

»Glaubst du wirklich, wir verwandeln uns alle in Zyniks, wenn wir älter werden?«, fragte Tobias, der diesen Gedanken schon ganz verdrängt hatte.

»Ich hoffe nicht!«

Ambre neigte sich vor, um die Tore der Stadt besser erkennen zu können.

»Schaut mal! Da sind Pans!«

Fünf kleine Gestalten kamen mit schleppendem Gang durch das Tor. Sie trugen Holzkübel und wurden von einem Zynik begleitet. Irgendetwas an ihrem Verhalten war seltsam. Ihre Gesichtszüge wirkten schlaff, sie benahmen sich wie gehorsame Marionetten.

Da bemerkte Matt die Ketten, die vom Gürtel des Zyniks zu jedem Kind führten und unter ihren schmutzigen Hemden verschwanden.

Sie trotteten dicht am Versteck der drei Freunde vorbei, füllten ihre Kübel im Wasser und machten unter dem aufmerksamen Blick ihres Wärters wieder kehrt. Der letzte Pan ging nicht schnell genug. Der Zynik trat grummelnd auf ihn zu.

»Jammerst du schon wieder rum!«, brüllte er. »Vorwärts, du Nichtsnutz!«

Woraufhin er dem Jungen eine schallende Ohrfeige verpasste, die der Kleine ohne Murren einsteckte.

Matt richtete sich auf. Alle Muskeln seines Körpers spannten sich an. Er würde diesen Zynik kurz und klein schlagen.

Tobias und Ambre zogen ihn unter die schützenden Blätter zurück.

»Spinnst du?«, schimpfte Ambre. »Willst du uns umbringen? Die Torwächter würden das doch hören!«

Er sah sofort ein, dass er die Beherrschung verloren hatte. Die Wut über die Brutalität des Zyniks hatte ihm den Verstand geraubt, ihm, der ihnen kräftemäßig inzwischen ebenbürtig war. Das machte ihm Angst. War das der Preis für all das Blut, das er vergossen hatte? Hatten die Gewalttaten, die er in den vergangenen Wochen hatte begehen müssen, um sich zu verteidigen, auf ihn abgefärbt?

Nein, ich bin nur müde und dadurch leicht reizbar, versuchte er sich zu trösten.

In der folgenden Stunde beobachteten sie in Ruhe das Treiben am Stadttor und beschlossen, den nächsten Morgen abzuwarten, um dann, in ihre Kapuzenmäntel gehüllt, in die Stadt zu gehen. Bei der Hitze, die am Nachmittag herrschte, konnten sie sich nicht so vermummen, ohne das Misstrauen der Wächter zu wecken. Wenn man sie wirklich anhalten und befragen sollte, würden sie vorgeben, Überläufer zu sein, die ihre Pan-Gemeinschaft verraten hatten. Jetzt hieß es Daumen drücken, dass dieser Plan auch funktionierte.

Sie nutzten die Zwangspause, um sich auszuruhen, massierten sich die Füße und aßen getrocknetes Fleisch und einige Scheiben grünes Brot. Die Nacht brach herein, und in der angenehm kühlen Luft schliefen sie bald tief und fest.

Ambre weckte ihre Gefährten, noch ehe im Osten der Morgen graute. Zusammen schlichen sie durch den Wald vor der Stadtmauer, bis sie nur noch wenige Dutzend Meter vom Eingang entfernt waren.

Das Tor stand offen. Links und rechts davon hielten zwei Zyniks Wache, der eine schien auf einem Hocker vor sich hinzudämmern.

Während sie auf die ersten Sonnenstrahlen warteten, fiel Ambres Blick auf die vergilbten Plakate, die am Bogen in der Stadtmauer angebracht waren. Etwas stand in großen Lettern darauf geschrieben, und so beschloss sie aus reiner Neugier, ihre Alteration zu nutzen. Sie wusste, dass sie in der Lage war, die Plakate zu lösen und sie zu sich schweben zu lassen. Wenn Tobias seine Pfeile abschoss, konnte sie diese ja auch auf weite Entfernungen lenken. Nur musste sie jetzt umgekehrt vorgehen, einen Gegenstand in der Ferne ausmachen und heranholen, was nicht gerade ein Kinderspiel war.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihr, eine Ecke zu lösen, dann eine andere. Schließlich sank das Plakat lautlos die Mauer entlang zu Boden. Niemand bemerkte etwas.

Sie nahm noch einmal alle Konzentration zusammen und ließ es vorsichtig zwischen den Beinen eines Wächters hindurchgleiten. Die letzten dreißig Meter hingegen waren viel einfacher, und das Plakat schwebte am Boden dahin bis in Ambres ausgestreckte Hand.

»Warum hast du mich nicht um mein Fernglas gebeten?«, flüsterte Tobias.

»Wie soll ich denn meine Alteration verbessern, wenn ich nie übe?«

»Was ist das?«, wollte Matt wissen.

»Keine Ahnung, aber an der Eingangsmauer hängen jede Menge davon«, sagte sie und rollte das Pergament auf.

Matts Gesicht kam zum Vorschein. Eine sehr naturgetreue Zeichnung in Schwarzweiß und daneben ein handschriftlicher Text:

»Auf Anordnung der Königin hat jeder Soldat, der diesem Jungen begegnet, jegliche Hinweise diesbezüglich an die Behörden Ihrer Durchlauchten Hoheit zu melden. Wer zur Festnahme des Jungen beiträgt, wird großzügig belohnt.«

»Verdammt!«, fluchte Tobias. »Das erschwert die Lage.«

Matt seufzte.

»Das ist gelaufen. Ich kann nicht da rein, wenn dort überall mein Konterfei an den Mauern klebt.«

»Wir ändern nichts an unserem Plan, außer dass du hier auf uns wartest«, erklärte Ambre.

Matt schüttelte entschieden den Kopf, aber Ambre hob drohend den Finger und sagte streng:

»Ihr habt mir versprochen, auf mich zu hören, also sage ich euch Folgendes: Wir können hier tatsächlich die Informationen sammeln, die wir suchen, und danach hoffentlich nach Hause zurückkehren. Tobias und ich gehen da jetzt rein, und du wirst unterdessen auf uns warten und versprechen, keine Dummheiten anzustellen!«

»Ich bin kein kleines Kind mehr«, erwiderte Matt verärgert. »Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe.«

Tobias spürte die Spannung in der Luft und mischte sich lieber nicht in die Diskussion ein, die damit ohnehin beendet war. Sie warteten noch eine Stunde, bis die Laternen gelöscht wurden – mit Tierfett gefüllte Lampen, die einen rotgelben Schein verbreiteten – und die ersten Passanten erschienen: ein Mann, der eine müde Kuh vor sich hertrieb, und zwei Kerle mit hölzernen Schubkarren.

Ambre und Tobias zogen ihre Kapuzenmäntel an. Dann wandte sich Ambre noch einmal an Matt:

»Wir treffen uns dort, wo wir geschlafen haben, da ist es sicherer. Warte dort auf uns bis heute Abend. Wenn wir bis dahin nicht zurück sind, kannst du davon ausgehen, dass wir gefangen genommen worden sind oder sonst etwas Schlimmes passiert ist. Unternimm nichts wegen uns, zwei Verluste sind immer noch besser als drei.«

Ambre musterte ihn ein paar Sekunden lang, ohne dass Matt erkennen konnte, was sie dabei dachte. Dann trat sie hinaus in das helle Licht der ersten Sonnenstrahlen. Tobias hatte kaum Zeit, sich von seinem Freund zu verabschieden, so entschlossen marschierte sie davon.

Matt sah, wie ein Soldat sie misstrauisch beäugte, als sie sich dem Tor näherten. Er machte ein paar Schritte in ihre Richtung.

Da löste sich der Schulterriemen, mit dem er sich seine Axt umgehängt hatte, und der Stiel der Waffe plumpste ihm auf den Fuß. Er stieß einen wütenden Schmerzensschrei aus, bückte sich und achtete nicht weiter auf die beiden Neuankömmlinge, die schon unter dem Bogen durchgingen.

Das geht auf Ambres Konto, ganz sicher!, frohlockte Matt.

Ambre und Tobias hatten die Stadt betreten.

Er sah sie in dem Straßenlabyrinth verschwinden.