39. Gesprengte Ketten

Colin führte Tobias an einer Backstube vorbei zu einer Reihe von Lagerhallen, wo eine Gruppe von Zyniks Strohballen aufeinanderstapelte, und von dort aus weiter zu einem kleinen Waschhaus am Ufer des Sees.

Das Wasser war an dieser Stelle schlammig schwarz und roch nach Seifenpulver. Etwa zehn Pans waren damit beschäftigt, Kleider zu schrubben und mit Wäschebleueln auszuklopfen.

»Da sind sie«, sagte Colin erleichtert.

Der Wächter, der auf einem Schemel vor dem Eingang saß, hatte sich an die Mauer gelehnt und schnarchte. Colin und Tobias schlugen einen großen Bogen um ihn und wateten durch das kalte Wasser, um von der anderen Seite ins Waschhaus zu steigen. Die Pans sahen nicht einmal auf, als sie näher kamen, so vertieft waren sie in ihre Arbeit. Die Ketten ihrer Nabelringe schleiften über den Steinboden.

»Die sind wirklich wie Zombies«, sagte Tobias, der es immer noch nicht fassen konnte.

Die Pans, zum Großteil Jungen, waren zwischen neun und fünfzehn Jahre alt, schätzte Tobias. Colin ging neben einem Rotschopf von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren in die Hocke.

»Jon, ich bin’s, Colin. Erkennst du mich?«

Jon ließ die Leinenhose sinken, die er gerade klopfte, und starrte ihn an. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.

»Jon!«, zischte Colin so leise wie möglich, um den Wärter nicht aufzuwecken. »Schau mich an! Ich weiß, dass du dich an mich erinnerst, na los, streng dich ein bisschen an!«

Der Rotschopf sah wieder auf, musterte ihn kurz und klopfte dann weiter.

»Das ist also der große Stratege, der uns helfen soll?«, spottete Tobias. »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen!«

Verärgert packte Colin den Jungen an den Schultern und drehte ihn zu sich herum.

»He, Jon! Lass dein anderes Ich zum Vorschein kommen! Du musst aufwachen! Mach schon!«

Der Junge blinzelte und schüttelte Colins Hände ab.

»Was soll das?«, schimpfte er los.

Colin hielt ihm hastig den Mund zu.

»Pst! Hinter dieser Wand sitzt ein Wärter!«

Jon schob seine Hand weg und fragte in leiserem Ton:

»Was willst du von mir? Und wer ist der da?«

Tobias war verblüfft: Der Nabelring schien mit einem Schlag seine Wirkung verloren zu haben. Er nickte dem Jungen freundlich zu.

»Ich heiße Tobias.«

»Seid ihr allein? Sind auch Zyniks hier?«

»Nein, nur wir zwei«, erklärte Colin.

»Und warum treibt ihr euch hier herum?«

»Wir werden einen Freund befreien, der von den Zyniks gefangen gehalten wird. Wenn du mitmachst, ist das vielleicht deine Chance, von hier wegzukommen!«

»Echt? Weg aus Henok? Wie wollt ihr das anstellen?«

»Am Ausgang der Höhle wartet ein Fluchtfahrzeug auf uns«, mischte sich Tobias ein. »Für dich und deine Freunde ist genug Platz.«

Jons Gesicht verdunkelte sich, während er den anderen beim Wäscheklopfen zusah.

»Bei ihnen ist das anders, sie sind nicht wie ich. Ihr wahres Ich kommt nie an die Oberfläche.«

»Wieso funktioniert das dann bei dir?«

Jon grinste.

»Ich bin eben anders! Ich war schon vorher ein bisschen … neben der Kappe.«

»Neben der Kappe? Verrückt, meinst du?«

»Meine Eltern haben mich für ein halbes Jahr in eine Klinik gesteckt, nachdem ich von der Schule geflogen bin. Anscheinend habe ich eine gespaltene Persönlichkeit! In mir sind zwei verschiedene Ichs! Ist das nicht genial? Und dieser dämliche Nabelring unterdrückt nur eins der beiden.«

»Kannst du beeinflussen, welche deiner Persönlichkeiten das Kommando übernimmt?«

Jon runzelte die Stirn.

»Nicht immer. Meistens wirkt der Ring, und dann bin ich genauso eine Trantüte wie die anderen auch. Aber manchmal …« Plötzlich kniff er die Augen zusammen. »Sag mal, Colin, ist dein Boss eigentlich auch hier?«

»Ja, ist er.«

Der Rotschopf schüttelte sich vor Abscheu und spuckte wütend ins Wasser.

»Wehe, wenn der mir unter die Augen kommt!«

Colin wandte sich zu Tobias um.

»Mein Herr hat Jon für sich ersteigert, aber als Jon seinen ersten Anfall hatte und seine andere Persönlichkeit ans Licht kam, wurde er ihm unheimlich, und er hat ihn weiterverkauft.«

»Er wollte schweinische Sachen mit mir machen!«, fügte Jon hinzu. »Total pervers, der Typ!«

»Also was ist, machst du mit?«, drängte Colin.

»Klar mach ich mit, wenn ich dafür aus diesem Loch hier wegkomme!«

»Hast du in deinen wachen Momenten denn nie versucht, den Nabelring rauszureißen?«, fragte Tobias.

»Ohne Werkzeug und so? Vergiss es! Das Einsetzen des Nabelrings tut extrem weh, so was will ich nicht noch mal erleben. Die schlimmsten Schmerzen, die man sich vorstellen kann! Und anscheinend ist es ziemlich gefährlich, ihn zu entfernen, man kann sogar daran sterben, habe ich gehört. Und was hätte ich danach überhaupt machen sollen? Ohne Fortbewegungsmittel ist an eine Flucht gar nicht zu denken!«

»Mit uns hast du einen Freifahrschein nach Norden, ins Gebiet der Pans«, sagte Tobias. »Aber dafür musst du leider das Risiko eingehen, dir den Ring entfernen zu lassen, sonst fällst du im entscheidenden Moment wieder in deine unterdrückte Persönlichkeit zurück.«

»Für die anderen gilt dasselbe«, meinte Colin. »Wir brauchen jeden Mann.«

Auf einmal beschlichen Tobias Zweifel.

»Und wenn sie sterben, sobald wir ihnen den Ring abnehmen?«, fragte er kleinlaut.

»Also wenn du mich fragst, kann es nicht schlimmer werden, als es sowieso schon ist«, sagte Jon. »Wenn ihr tatsächlich eine Lösung habt, wie wir hier rauskommen, ist es das Risiko wert.«

»Wir entscheiden also für sie?«

»Ich weiß, wie es sich anfühlt, mit diesem Ding im Bauchnabel zu leben. Das ist der pure Horror! Ich spreche für sie alle, wenn ich sage, dass es für jeden von uns eine Erlösung sein wird!«

Nach einer kurzen Beratung schlich Colin zur Tür und schlug dem Zynik mit einem großen Stein den Schädel ein. Der Mann stöhnte auf und kippte vornüber.

Colin nahm das Schwert an sich, das er am Gürtel trug, und winkte die anderen herbei.

»Sobald sie merken, dass ihr weg seid, wird die ganze Stadt in Aufruhr geraten«, gab Tobias zu bedenken.

»Eben, dann rennen alle zu den Ausgängen, weil sie glauben, dass wir uns zu Fuß Richtung Norden aufgemacht haben, während die Straßen in der Stadt unbewacht bleiben. Ich kenne etwas weiter oben ein gutes Versteck, da verkrieche ich mich manchmal, wenn ich aus der Betäubung aufwache.«

Jon nahm die Ketten der neun anderen Pans in die Hand, die ihm daraufhin brav im Gänsemarsch nach draußen folgten. Unterwegs machte er kurz vor einer leeren Werkstatt halt, in der er einige Zangen und eine Metallsäge entdeckt hatte.

»Instrumente für die Operation!«

Eine Stunde später waren sie zu einem Felsvorsprung in der Höhlenwand hinaufgeklettert, von dem aus sie die Stadt überblicken konnten.

Jon reichte Colin und Tobias die Werkzeuge.

»Fangt bei mir an. Wenn es schiefgeht, wisst ihr wenigstens, was ihr beim nächsten anders machen müsst.«

»Ich weiß nicht, ob ich …«, begann Tobias.

»Stell dich nicht so an, das Ganze war doch deine Idee, oder nicht? Jetzt kannst du beweisen, dass ihr mein Vertrauen verdient habt!«

»Ja … Richtig … Du … Du kannst auf uns zählen«, stammelte Tobias.

»Das will ich doch schwer hoffen!«

Jon legte sich hin und zog sein schmutziges T-Shirt ein Stück nach oben. Der Ring saß fest in der Hautwulst des Nabels.

»Uff, wie eklig«, stöhnte Tobias und umklammerte die Zange noch fester.

»Wir müssen den Ring durchsägen«, erklärte Colin, »du hilfst mir am besten, indem du ihn gut festhältst.«

Bei jeder Bewegung des Sägeblatts glitt Tobias der Ring aus den feuchten Fingern, und aus dem rosa Knubbel, durch den der Ring gestochen war, quoll Blut. Jon biss tapfer die Zähne zusammen.

Als sie den Ring endlich durchgesägt hatten, packten Tobias und Colin ihn jeweils von einer Seite mit der Zange und zogen ihn auseinander.

Jon begann zu stöhnen, und Schweiß lief ihm über die Stirn.

Der Ring öffnete sich gerade weit genug, um aus der Wunde zu gleiten. Jon versuchte, sein Wimmern zu unterdrücken, doch der Schmerz war einfach zu groß.

Und dann war es vorbei.

Jon krümmte sich zusammen, presste die Hände auf den Bauch und atmete ein paarmal tief durch.

»Einen hätten wir«, stellte Colin trocken fest. »Bleiben noch neun.«

Bei der nächsten Patientin hatten sie es leichter, da das Mädchen weder zuckte noch irgendeinen Laut von sich gab. Sie schien nichts zu spüren.

Erst in dem Augenblick, in dem sie an dem Ring zogen, bildete sich auf ihren Armen eine Gänsehaut.

»Ich glaube, dass sie allmählich etwas merkt«, keuchte Tobias.

»Macht weiter, das ist normal«, antwortete Jon und wischte sich über die Stirn. »Das Leben kehrt in sie zurück.«

Kaum hatten sie den Ring ganz herausgerissen, mussten sie ihr die Hand auf den Mund legen, um den Schrei zu dämpfen, der ihr wie die Klage eines verwundeten Tiers aus der Kehle drang.

Sie weinte und zitterte am ganzen Leib. Jon nahm sie in die Arme und streichelte sie tröstend.

»Schau mal, da kommt dein Freund«, sagte Colin und wies zum See hinunter.

Umkränzt von den Sonnenstrahlen, die von draußen in die Höhle fielen, segelte die Charon durch das schwarze Wasser auf die Anlegestelle zu. Die Spitze des Großmastes ragte fast bis an die Höhlendecke.

»Die Zeit drängt«, sagte Tobias.

Ihm graute vor der nächsten Operation, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Nachdem sie zwei weitere Ringe entfernt hatten, war ihm schon etwas leichter zumute.

Der fünfte Pan wurde urplötzlich von Krämpfen geschüttelt, sein ganzer Körper spannte sich, und seine Muskeln wurden hart wie Stein.

»Er verschluckt seine Zunge!«, rief Colin voller Panik.

Da der Junge der Kante des Felsvorsprungs gefährlich nahe kam, versuchten sie zunächst, ihn am Boden festzuhalten, und schoben ihm ein Stück Holz zwischen die Kiefer. Als sie weißen Schaum aus seinen Mundwinkeln treten sahen, ahnten sie, dass er nicht mehr zu retten war.

Die wilden Zuckungen dauerten noch ein paar Sekunden an, dann blieb er stocksteif liegen.

Colin horchte ihn lange ab, bevor er sich kopfschüttelnd aufrichtete.

»Er ist tot«, sagte er.

»Oh nein«, flüsterte Tobias.

Sie starrten ihn eine Weile an, als könnten sie ihn damit wieder zum Leben erwecken. Schließlich fragte Tobias mit vor Reue bebender Stimme:

»Wie hieß er?«

»Keine Ahnung. Ich kannte ihn nicht«, meinte Jon. »Sobald sie uns den Ring stechen, haben wir keine Namen mehr. Wozu auch, wenn man keine Persönlichkeit mehr hat?«

»Wir sind schuld an seinem Tod.«

»Nein«, entgegnete Jon, »die Zyniks sind schuld an seinem Tod! Hört jetzt nicht auf, ihr müsst den anderen ihre Würde zurückgeben.«

Tobias legte die Hand auf die Augenlider des Toten.

»Es tut mir leid«, sagte er leise.