16.
Das Geheimnis
der Chloropanphylliker
Matt setzte sich an die Spitze, und sie betraten einen engen Gang.
»Wann müssen wir die Pfeife gebrauchen?«, fragte Tobias besorgt.
»Ich nehme an, wir wissen es, sobald wir es oder ihn sehen«, antwortete Matt, ohne sich umzuwenden.
Sie kamen in einen Raum im Herzen des Baumes, in dem sich ein breites Loch im Boden auftat. Dahinter befanden sich ein komplexes System aus Scheiben und Rädchen und eine riesige Seilwinde, die größer war als Matt.
Tobias beugte sich über das Loch.
»Oha!«, stieß er hervor und wich zurück. »Da geht’s aber tief runter!«
An der Seilwinde hing eine kleine Kabine aus Holz, in der zur Not drei Personen Platz hatten. Ambre schüttelte entschieden den Kopf.
»Da bringen mich keine zehn Pferde rein!«
»Dir wird aber nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte Matt ebenso entschlossen.
Die Gondel knirschte und knackte an allen Ecken und Kanten, als er das Schwingtürchen öffnete und hineinstieg.
»Vielleicht sollten wir noch schnell Waffen holen«, schlug Tobias vor.
Matt musterte seine Freunde.
»Habt ihr euch abgesprochen oder was? Los jetzt! Das ist vielleicht unsere einzige Chance!«
Daraufhin machte er sich daran, den Knoten aufzuschnüren, mit dem die Gondel am Rand des Brunnens befestigt war.
Tobias kletterte hinein, indem er sich krampfhaft am Rand festhielt, und setzte sich umgehend auf die runde Sitzbank.
Ambre seufzte. Matt streckte ihr die Hand hin.
»Na los, komm schon, ohne dich sind wir zwei kleine Jungs schließlich aufgeschmissen.«
»Wenn du glaubst, du kriegst mich mit deinem kindischen Charme rum, dann hast du dich geschnitten. Ich steige nur ein, weil ich es nicht ertragen würde, nicht zu wissen, was euch zugestoßen ist, wenn ihr nicht mehr zurückkommt!«
Matt spürte einen Stich im Herzen. Was meinte sie mit »kindischer Charme«? Dieser Ausdruck gefiel ihm überhaupt nicht. Aber jetzt gab es Wichtigeres zu tun: Er löste den Knoten endgültig und setzte sich neben seine Freunde, bevor er den einzigen Hebel an Bord betätigte.
Die Seilwinde setzte sich in Gang, und die Räder drehten sich quietschend, während das zerbrechliche Gefährt durch den riesigen Stamm langsam unter die Oberfläche des Trockenen Meeres sank.
Tobias hielt die Lichtschale wie einen Schatz auf dem Schoß. Erst da bemerkte er, dass der Wald unter ihnen erleuchtet war.
»Schaut mal!«, rief er. »Da gibt es Hunderte von Lampen!«
»Das Licht kommt aber nicht von dieser weichen Substanz, so viel ist klar«, stellte Ambre fest.
Ringsum verbreiteten Eicheln von der Größe eines Rugbyballs einen hellen grünen Schein.
Staunend betrachteten die drei die wundersame Umgebung: Tausende von Ästen formten einen schier endlosen Schlund von mehr als zehn Metern Durchmesser, an dem die leuchtenden Baumfrüchte wie Wandlampen hingen.
Plötzlich fingen die Mauern aus Laub an zu beben, ein Zittern durchlief den Wald, und etwas glitt neben der Gondel in die Tiefe.
»Da war eine Gestalt!«, schrie Tobias. »Etwas Riesiges! Pfeif, Matt, pfeif!«
Matt holte die Pfeife aus der Tasche und musterte sie. Aus Holz geschnitzt, lang und dünn, fast wie eine Flöte.
Gleich neben ihnen raschelte das Laubwerk.
Matt steckte die Pfeife zwischen die Lippen und blies hinein. Ein sanfter, tiefer Laut erklang, und im selben Moment wurde es in den Blättern ringsum wieder still.
Tobias’ Schultern entspannten sich, und er fuhr sich mit dem Handrücken über seine feuchte Stirn.
»Normalerweise bin ich ja neugierig«, gestand er, »aber dieses Mal will ich lieber nicht wissen, was das war.«
Die Gondel glitt weiter nach unten und wurde dabei immer schneller, bis der Fahrtwind durch ihre Haare fegte und sie sich an die Sitzbank klammern mussten.
»Geht es nicht langsamer?«, schrie Ambre, um den Wind zu übertönen.
Matt schob den Hebel etwas zurück, und die Gondel verlor an Geschwindigkeit.
Der Brunnen wirkte endlos. Als Matt den Kopf hob und nach oben blickte, konnte er die riesige Eiche, von der sie kamen, nicht mehr erkennen, nur noch einen gigantischen Kamin, der von den leuchtenden Früchten eingefasst wurde.
Obwohl er den Hebel nicht mehr angerührt hatte, bremste die Gondel plötzlich ab und blieb schließlich stehen.
Seit mehr als hundert Metern leuchtete keine einzige Eichel mehr, nur die Schale aus der Bibliothek spendete ihnen noch Licht. Matt stand auf und untersuchte das Seil, an dem sie hingen. Es war straff gespannt.
»Klemmt es?«, fragte Ambre ängstlich.
»Ich glaube nicht. Sei so gut, Toby, leuchte mal da rüber.«
Tobias tat wie geheißen, und ein Ast tauchte auf. Dann der Boden, nur einen Meter unter ihnen.
»Wir sind angekommen!«, rief er. »Wir sind unten! Wahnsinn, könnt ihr euch vorstellen, wie lang und stabil dieses Seil sein muss?«
»Ich stelle mir vor allem die Gefahren vor, die hier auf uns lauern«, erwiderte Ambre. »Ich habe keine Ahnung, wie dieses Teil funktioniert, aber es wäre vielleicht nicht schlecht, herauszufinden, wie wir damit wieder hochkommen.«
Matt öffnete das Schwingtürchen und sprang leichtfüßig ans Festland.
»Die Chloropanphylliker werden das schon ausgetüftelt haben. Na los, wir erkunden die Gegend.«
Noch bevor Ambre protestieren konnte, war Tobias ebenfalls aus der Gondel gehüpft, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.
Matt hatte schon halb damit gerechnet, in einem undurchdringlichen Dickicht gelandet zu sein, doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass das Gelände gut begehbar war.
»Spürt ihr den Boden?«, fragte Ambre. »Da stimmt was nicht!«
Tobias ging in die Hocke und kratzte mit den Fingern in der Erde, bis eine Betonschicht zum Vorschein kam.
»Du hast recht. Vor dem Sturm war hier irgendetwas, und dieses Etwas ist noch nicht ganz verschwunden.«
»Leuchte mal hier lang«, meinte Matt.
Tobias streckte die Schale aus, und eine Mauer tauchte auf, die ein über fünf Meter hohes Holztor einfasste. Begraben unter einem unentwirrbaren Geflecht aus schwarzen Ästen und Blättern, stand ein riesenhaftes Gebäude.
»Ist das denn das Geheimnis, das sie um jeden Preis bewahren wollen?«, fragte Tobias erstaunt.
»Werden wir gleich sehen«, sagte Matt und lehnte sich gegen das Tor, das sich quietschend öffnete.
Sie durchquerten eine weite Eingangshalle aus Marmor, deren Boden von einer dicken Schicht aus Staub und Erde bedeckt war. Zwei gewaltige, mit Ornamenten verzierte Treppen führten nach oben.
»Beeindruckend!«, flüsterte Tobias ehrfürchtig. »Wo sind wir gelandet?«
Von den oberen Stockwerken kamen einige Glühwürmchen herabgeschwebt und kreisten wie ein Bündel kleiner brummender Dioden kurz um die drei Eindringlinge, bevor sie wieder in die Dunkelheit entschwanden.
Matt ging zur Treppe und stieg vorsichtig Stufe um Stufe hinauf, um keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Oben angelangt, blickte er über die Brüstung nach unten, doch er konnte das Erdgeschoss schon nicht mehr sehen, da Tobias ihm mit dem Licht gefolgt war. Sie traten in einen langen Gang mit verglastem Dach, über dem tiefe Finsternis herrschte. Hin und wieder sahen sie ein paar schwarze Ranken am Glas kleben und wie Tentakel nach einer Ritze suchen. Sie kamen an mehreren leeren Sälen und an Räumen vorbei, die wie Schlafzimmer aussahen, doch auf den Bettgestellen lagen keine Matratzen mehr, und die Schränke waren alle leer.
»Immerhin wissen wir jetzt, wo sie sich mit Material eindecken«, bemerkte Matt.
Ambre nickte und fügte hinzu:
»Dieses Gebäude erinnert mich an eine Internatsschule.«
Tobias vergaß für einen Augenblick, dass es unter den Pans als unhöflich galt, nach der Vergangenheit zu fragen.
»Warst du etwa in einem Internat?«
Zu seiner großen Überraschung antwortete Ambre:
»Ja, ich wollte es sogar selbst.«
»Du wolltest ins Internat? Wieso denn das?«
»Wenn du merkst, dass deine Mutter den Loser, mit dem sie zusammenlebt, niemals verlassen wird, auch wenn der Typ sie ständig schlägt, dann bist du zu allem bereit! Ich habe meinen Stiefvater gehasst …«
Tobias starrte Ambre an. Sie hatte sich in Rage geredet.
»Das ist keine Schule«, unterbrach Matt sie. »Schaut.«
Er pochte mit dem Zeigefinger auf ein Schild im Gang. Darauf waren mehrere Räume mit Pfeilen ausgewiesen: »Empfang«, »Ruhesaal«, »Spielzimmer«, »Elternraum« und darunter: »Krankenstation A2«, »Krankenstation A3«, »Operationssäle« …
»Das ist ein Krankenhaus«, sagte er. »Ein Kinderkrankenhaus.«
»Na klar!«, rief Ambre. »Das lag doch auf der Hand! Torshan hat es uns selbst gesagt! ›Wir waren die Schwachen‹, meinte er. Und der Sturm hat das alles verändert.«
»Ist das ihr Geheimnis?«, fragte Tobias enttäuscht.
»Deswegen kannten sie sich schon vor dem Sturm.«
»Und das Krankenhaus hat sie in Chloropanphylliker verwandelt?«
Ambre schüttelte den Kopf, während die Wolke von Glühwürmchen wieder an ihnen vorbeischwirrte.
»Ihr Organismus war sehr empfindlich, daher war die Wirkung des Sturms bei ihnen stärker als bei uns.«
»Der Sturm hat die Gene der Pflanzen vollkommen verändert«, ergänzte Matt, »damit die Natur sich schneller entwickelt, kräftiger ist und ihren wahren Platz einnehmen kann. Dabei hat er auch in unser Erbgut eingegriffen, um unsere Entwicklung zu beschleunigen und uns eine Überlebenschance zu geben; so ist das Phänomen entstanden, das wir die Alteration nennen. Scheinbar waren die kranken Kinder so empfänglich, dass sie sowohl die pflanzlichen als auch die menschlichen Genveränderungen übernommen haben.«
»Und wieso halten sie das so geheim? Sie sollten doch eher stolz darauf sein«, wunderte sich Tobias.
»Ich nehme an, dass sie nicht gern über ihre Vergangenheit als Kranke reden«, meinte Ambre. »Vor dem Sturm waren sie ausgegrenzt und schwach, jetzt sind sie immer noch ausgegrenzt, aber stark. Sie sind im Einklang mit der Natur, viel mehr als wir. Erinnert euch daran, was sie uns erzählt haben: Sie haben den Eindruck, auserwählt zu sein. Ihre Vergangenheit zu erwähnen, würde heißen, ihre einstige Schwäche einzugestehen, und das muss schmerzhaft sein.«
Matt hatte ein paar vergilbte Dokumente aufgesammelt, die auf dem Boden verstreut lagen, und überflog die Blätter.
»Das ist eines der größten Kinderkrankenhäuser der Welt! Deshalb sind sie im Großen Nest so zahlreich. Wahnsinn, mehr als sechshundert Pans, die die Sprache der Bäume und des Windes verstehen können und zu außergewöhnlichen körperlichen und geistigen Leistungen fähig sind! Welch einen Vorteil uns das gegenüber den Zyniks verschaffen könnte!«
Tobias lachte auf.
»Das kannst du dir abschminken. Sie wollen uns ja nicht einmal gehen lassen, wie willst du sie dann dazu überreden, für unseren Schutz zu kämpfen? Mach dir doch nichts vor!«
»Toby hat recht«, meinte Ambre. »Das Gegenteil wäre besser: Alle Pans sollten ins Große Nest kommen dürfen, um fernab der Zyniks in Sicherheit zu leben.«
»Dazu ist nicht genug Platz, und die Chloropanphylliker würden dem niemals zustimmen!«, wehrte Matt ab. »Sie sind schon etwas komisch, das muss man zugeben. Sich für die Auserwählten des Baumes zu halten oder was weiß ich alles …«
»Aber sie haben ganz schön was auf dem Kasten«, sagte Tobias. »Vielleicht sind sie ja wirklich auserwählt.«
»Auserwählt zu was? Lass dich von ihrem Tamtam nicht so beeindrucken! Niemand ist auserwählt, es gibt einfach mehrere Gruppen von Überlebenden, die jeweils auf ihre ganz eigene Art und Weise die übermächtige Wirkung des Sturms absorbiert haben: die Erwachsenen, die Kinder und die Natur, die sich ihre Rechte wieder zurückholt.«
Die Glühwürmchen erstarrten plötzlich in ihrer Bewegung. Dann sausten sie zur Decke und verschwanden in einem tiefen Riss.
Die drei Freunde blickten sich besorgt um. Das Verhalten der Tiere gab ihnen zu denken.
»Irgendetwas scheint das Gebäude betreten zu haben«, murmelte Ambre.
»Ich glaube, ich habe auch etwas gehört«, flüsterte Tobias.
»Okay, wir zischen ab«, beschloss Matt und rannte in Richtung Treppe.
»Wenn sie gemerkt haben, dass wir ihre Pfeife geklaut haben«, meinte Ambre, »dann ist ihr Vertrauen für immer zerstört!«
Sie liefen zögerlich zur Brüstung und spähten ins Erdgeschoss. Unten leuchtete kein Licht.
»Aber ich schwöre euch, dass ich ein Geräusch gehört habe«, beharrte Ambre flüsternd.
Tobias beugte sich weit vor und hielt die Schale in die Höhe, um die Eingangshalle mit der weichen Substanz zu erhellen.
Zu Anfang sah er nichts Besonderes, nur den staubbedeckten Marmor, das große Eingangstor … Aber dann hob er den Kopf.
Zwei unheimliche, wagengroße Spinnen hingen an den Kronleuchtern, genau auf Höhe der drei Freunde. Geifer tropfte aus ihren ungeheuerlichen Mäulern, und sie starrten die Appetithappen vor sich aus sechs hervorstehenden, schleimigen Augen an. Ihre Kieferklauen öffneten sich und gaben schreckliche Scherenwerkzeuge frei.
Die weiche Substanz zitterte mehr und mehr. Plötzlich entglitt Tobias die Schale.
Ihre einzige Lichtquelle verschwand in der Tiefe, und schon umhüllte Dunkelheit die beiden furchtbaren Wesen und ihre menschliche Beute.
Da hielt die Leuchtkugel auf einmal im Fall inne und sauste wieder nach oben in Ambres Hände, während die Schale klirrend auf dem Marmorboden aufschlug.
Das war das Signal. Matt packte Tobias an der Jacke, und die beiden Jungen sprinteten los. Sofort sprangen die Spinnen auf die Brüstung, und Matt begriff, dass sie sich direkt hinter ihm befinden mussten, denn er hörte ihre glitschigen Leiber über den Stein rutschen. Er lief, so schnell er konnte, bald überholt von Tobias. Ambre war einen Meter hinter ihm.
In höllischer Geschwindigkeit trappelten die Spinnenbeine über den Boden.
Matt hatte keine Waffe.
Wenn ihm jetzt nichts einfiel, waren sie verloren. Im flackernden Schein der Substanz, die Ambre umklammerte, sah er sich nach allen Seiten um.
Feuerlöscher. Rote Schränke. Zimmertüren.
Rote Schränke!
Matt stürzte darauf zu, schlug mit dem Ellbogen das Sicherheitsglas ein und packte den Nothammer. Dann drehte er sich zu den beiden Riesenspinnen um.
Die erste warf sich sofort auf ihn.
Matt hieb mit aller Kraft auf sie ein.
Der Hammer drang in das weiche Fleisch, fuhr durch den Knorpel und krachte auf den Fliesenboden.
Aus dem gespaltenen Körper stieg ein ekelerregender Gestank auf.
Die zweite Spinne agierte listiger und versuchte, Matt mit den Krallen am Ende ihrer behaarten Beine zu erwischen. Der Junge machte einen Satz nach hinten und trennte die Kralle mit einem schnellen Hieb vom Bein.
Das Monster stieß ein wutentbranntes Kreischen aus und zog sich ein Stück zurück. Da Ambre hinter Matt stand, konnte er die Bewegungen des Ungeheuers nur undeutlich erkennen.
Doch als es seine Glieder krümmte, wusste Matt, was ihm blühte. Er holte seinerseits zum Schlag aus, die Waffe an der Schulter, und als die Spinne sich mit weit aufgerissenem Maul auf ihn stürzte, pfiff der Hammer mit der Wucht eines Harpunengeschosses durch die Luft und bohrte sich so tief in den Kopf des Monsters, dass es vor seinen Füßen zusammensackte.
Matt keuchte vor Anstrengung.
Seine Muskeln waren wie gelähmt.
»Oh Gott!«, stöhnte Ambre.
Matt hob den Kopf und nahm am Ende des Ganges schemenhafte Gestalten wahr. In der Eingangshalle wimmelte es vor Spinnen. Offenbar hatten die Schreie ihrer Artgenossen sie angelockt.
Sie waren so zahlreich, dass Matt einen Moment lang glaubte, die Mauern bewegten sich.
Und alle krabbelten auf sie zu.