36. Hund und Eule

Der Fluss schlängelte sich durch Wiesen, Hügel und Wälder, ein unergründlich tiefer, dunkelgrüner Strom, der alle Schatten verschlang und das Sonnenlicht fing.

An Bord der Charon kletterten die Matrosen in die Wanten, um die Segel zu setzen. Der Kielwurm hatte sich zum Schlafen zurückgezogen, und das Schiff verlor deutlich an Geschwindigkeit.

Matt stand in der Hütte am Achterdeck und sah den Offizieren, die das Manöver überwachten, bei der Arbeit zu. Der spirituelle Berater war in seiner Kajüte, und Matt hatte gleich gemerkt, dass die Soldaten ihm nun weniger Aufmerksamkeit schenkten. Sie wussten, dass es lebensmüde war, ins Wasser zu springen, und ließen ihn unbeaufsichtigt an Deck herumspazieren.

Unter Segeln zu fahren erforderte mehr Einsatz, und so war jeder Seemann in den folgenden Stunden ganz mit seiner Aufgabe beschäftigt.

Matt sah seine Chance gekommen.

Er hatte im Vorderdeck eine Luke entdeckt, an der er seinen Erkundungsgang beginnen wollte. Wenn er sich unauffällig verhielt und nirgendwo zu lange herumschnüffelte, würde er Plusch hoffentlich davor bewahren können, seinetwegen leiden zu müssen. Es war ihm unerträglich, sie in den Händen der Zyniks zu wissen, und er hatte sich fest vorgenommen, sie zu suchen.

Falls er irgendwann fliehen würde, dann nicht ohne Plusch.

Unter Deck kannte Matt nur die Kajüten, die achtern lagen: seine eigene, gleich neben der Kabine des Beraters, und die der Offiziere. Es war unwahrscheinlich, dass Plusch dort festgehalten wurde. Wenn jedoch mittschiffs die große Luke offen stand, fiel etwas Licht in den Frachtraum im vorderen Teil des Schiffs. Matt hatte inmitten der Kisten und Fässer keinen Tierkäfig gesehen, aber in Richtung Bug schien es mehrere Kammern und Verschläge zu geben.

Da kam ihm die Luke im Vorderdeck gerade recht.

Er behauptete, sich die Beine vertreten zu wollen, und schlenderte zwischen den Taurollen an Deck herum. Die Offiziere diskutierten darüber, wie tief der Fluss in diesem Abschnitt war. Als sie gerade nicht hinsahen, klappte Matt schnell die Luke auf und kletterte hinunter.

Er hatte nicht viel Zeit.

Im Frachtraum war es stockfinster. Er tastete nach einer Packung Streichhölzer, die er neben einer Laterne entdeckt hatte, und zündete den Docht an.

Das Schiff fuhr so langsam, dass die Planken kaum ächzten und knarrten. Er durfte kein verdächtiges Geräusch verursachen.

Was soll’s, da muss ich jetzt durch.

Auf Zehenspitzen ging er zur erstbesten Tür. Sie war verschlossen.

»Das fängt ja gut an«, fluchte er leise.

Der nächste Verschlag war offen, enthielt aber nur Geräte und Werkzeugkoffer. Er wollte gerade auf die Treppe zusteuern, um ein Deck tiefer weiterzusuchen, als er jemanden hustend auf sich zukommen hörte.

Voller Panik machte er kehrt und kroch hinter einen großen Ballen Segeltuch. Er blies die Lampe aus und verwünschte den Gestank, den das Tierfett verbreitete. Wenn der Mann zu den hinteren Verschlägen wollte, würde er ihn entdecken.

Die Schritte wurden lauter.

Dann stieg der Mann zur Luke hinauf.

Matt atmete auf.

In der Ferne ertönten zwei Glockenschläge.

Der Wachwechsel, dämmerte es Matt.

Ich muss zurück, der spirituelle Berater ist meistens beim Wachwechsel dabei.

Trotzdem wollte er noch schnell einen Blick hinter die Flügeltür werfen, die zum Vordersteven führen musste. Er schob sich hindurch und nahm einen vertrauten Geruch wahr, der sein Herz höherschlagen ließ.

»Plusch?«, sagte er leise.

An der gegenüberliegenden Wand bewegte sich etwas Großes, Schweres. Matt hob die Laterne und stürzte darauf zu.

Plusch war in einem Bambuskäfig eingesperrt und trug einen dicken grauen Verband um den Körper.

»Wenigstens haben sie deine Wunde versorgt«, flüsterte Matt mit Tränen in den Augen. »Wenn du wüsstest, wie sehr du mir gefehlt hast!«

Die Hündin schlabberte ihm übers Gesicht, als sei es eine leckere Kugel Eis. Da vernahm er von oben laute Rufe, ohne verstehen zu können, worum es ging.

»Ich muss los, aber ich verspreche dir, dass ich dich da raushole.«

Die Hündin begann zu winseln. Matt streichelte sie tröstend und drückte einen Kuss auf die feuchte Schnauze.

»Tut mir leid, ich kann nicht bei dir bleiben. Wenn sie mich hier finden, lassen sie ihre Wut an dir aus!«

Er kraulte seine Hündin ein letztes Mal am Kopf und wandte sich schon zum Gehen, als ihm plötzlich der Griff seines Schwerts ins Auge fiel. Neben dem Käfig lag seine gesamte Ausrüstung! Instinktiv streckte er die Hand nach seiner Waffe aus, doch dann besann er sich. Er konnte sie nicht unter seiner Kleidung verbergen, und wenn die Zyniks ihn damit erwischten, würden sie wissen, dass er bei Plusch gewesen war. Widerstrebend verzichtete er auf seine zweite Haut.

Die Luke im Vorderdeck durfte er nicht mehr nehmen, das war zu riskant. Wenn sie ihn da herausklettern sahen, würde Plusch mächtig Ärger bekommen.

Matt durchquerte den Frachtraum und schlug den Gang zu den Kajüten ein. Nachdem er die Laterne in seiner Kabine verstaut hatte, stieg er mit Unschuldsmiene durch die Hauptluke.

Kaum stand er an Deck, schlossen sich von hinten zwei Hände um seine Kehle.

»Wo warst du?«, brüllte der Soldat.

Obwohl er kaum Luft bekam, versuchte Matt, ein verdattertes Gesicht aufzusetzen.

»Na, in meiner Kabine!«

»Du lügst«, drang die barsche Stimme des Beraters an sein Ohr. »Dort habe ich vor einer Minute selbst nachgesehen.«

»Da war ich gerade auf dem Klo«, behauptete Matt, ohne mit der Wimper zu zucken. »Das ist ja wohl erlaubt, oder?«

Erik baute sich drohend vor ihm auf.

»Wenn du uns hinters Licht führen willst, denk daran, dass deine Hündin dafür büßen wird.«

Die behandschuhten Hände ließen von ihm ab, und Matt rieb sich den Hals, um das Würgegefühl loszuwerden.

»Was regen Sie sich so auf? Ich kann hier ja sowieso nicht weg«, sagte er bissig.

Er stapfte davon, setzte sich auf ein Fass und betrachtete die üppige Vegetation, die am Ufer vorbeizog.

Plusch ging es gut. Eine Sorge weniger.

Aber das Fluchtproblem war damit noch nicht gelöst.

 

Nach dem Abendessen ging Matt an Deck frische Luft schnappen und setzte sich auf die Reling. Die Tischgespräche mit dem spirituellen Berater wurden immer unerträglicher. Erik bombardierte ihn mit Fragen zu den Pans und ihrer Lebensweise, und obwohl Matt die meiste Zeit schwindelte, musste er hin und wieder mit der Wahrheit herausrücken, um Plusch nicht allzu sehr zu gefährden. Während sie auf dem Fluss waren, kam er damit einigermaßen durch, weil der Berater Matts Behauptungen nicht mit den Informationen seiner Spitzel vergleichen konnte, aber früher oder später würde das ganze Lügengebäude in sich zusammenstürzen.

Lange würde das nicht mehr gutgehen.

Außerdem war es extrem anstrengend, während der Unterhaltung alles im Kopf zu behalten, um sich später nicht in Widersprüche zu verwickeln. Das verlangte ihm jedes Mal ungeheure Konzentration ab.

Zum Glück gewährte ihm der Berater nach dem Essen eine Stunde Ausgang, zum Verdauen.

Matt wusste immer noch nicht, was die Königin von ihm wollte, aber der Berater legte offenbar Wert darauf, ihn gesund und wohlbehalten zu übergeben.

Das muss nichts heißen, vielleicht will sie mich lieber eigenhändig umbringen …

An der Ruderpinne diskutierten zwei Offiziere leise miteinander. Matt spitzte die Ohren.

»Morgen?«, fragte der eine, der einen Hut aufhatte.

»Ja, aber fragt sich nur, wann. Wenn wir es bis zum frühen Nachmittag schaffen, öffnen sie uns die Schleuse, danach können wir es vergessen. In diesem Fall sollten wir besser nicht zu nah an der Stadt vor Anker gehen.«

»Hast du schon mal einen Schattenfresser gesehen?«

»Spinnst du? Nach Einbruch der Dunkelheit setze ich in Henok keinen Fuß mehr nach draußen. Ich sag dir was: Die Draufgänger, die überall herumgeprahlt haben, was für tolle Jäger sie sind, sind jetzt nur ein Haufen Knochen in den Höhlen dieser Viecher.«

Matt sprang von der Reling und ging zu den beiden Männern hinüber.

»Was ist ein Schattenfresser?«, fragte er.

Die Offiziere beäugten ihn misstrauisch.

»Fürchtest du dich im Dunkeln?«, fragte der Mann, der am Steuer stand.

»Eigentlich nicht.«

»Nun, die Schattenfresser würden dich das Fürchten schon lehren.«

Der andere fiel in sein dreckiges Lachen ein.

Da erschien der spirituelle Berater an der Luke. Wie immer hatte er sich völlig lautlos bewegt.

»Die Schattenfresser sind Monster, die in den Höhlen über Henok hausen«, sagte er, woraufhin das Gelächter schlagartig verstummte. »Sie schwärmen erst aus, wenn es dunkel wird, und ernähren sich von den Schatten aller Lebewesen, die sie finden können. Sie jagen in Horden. Es sind schnelle, grausame und sehr geschickte Raubtiere.«

»Sie fressen Schatten?«, wiederholte Matt.

»Ein Wesen ohne Schatten ist kein angenehmer Anblick, das kannst du mir glauben. Ein Grund mehr, schön brav bei uns zu bleiben! Wenn du dich allein und völlig schutzlos in ihr Territorium wagst, hast du keine Chance, ihnen zu entkommen.«

»Und wie halten sich die Einwohner von Henok diese Dinger vom Leib?«

»Die Stadt liegt zum Großteil in einer Höhle im Berg. Bei Sonnenuntergang werden alle Luken geschlossen, und bis zum Morgengrauen darf niemand hinein oder hinaus. Deswegen wird die Charon auch ein gutes Stück vor der Stadt anlegen und bis zum nächsten Morgen warten, wenn wir Henok nicht rechtzeitig vor Anbruch der Dämmerung erreichen. Die Schattenfresser fürchten das Sonnenlicht und bleiben tagsüber in ihren Schlupflöchern.«

»Also sind sie so was wie Vampire?«

»Nein, die Schattenfresser sind noch viel schlimmer.«

Der spirituelle Berater schlenderte davon und ließ sich in einem geschützten Winkel nieder, um seine abendliche Zigarre zu rauchen. Matt hatte noch eine Stunde, bevor er zum Schlafen in seine Kabine geschickt werden würde.

Die Lage wurde immer kniffliger. Unterwegs saß er auf dem Schiff fest, und sobald sie in der Stadt waren, konnte er nur am helllichten Tag entwischen.

Matt warf einen Blick auf den Bordkompass: Seit Babylon führte der Fluss sie kontinuierlich südwärts. So wusste er wenigstens, in welche Richtung er fliehen musste, um zu den Pans zurückzukehren: geradewegs nach Norden.

Aber war der Zweck seiner Reise schon erfüllt? Der Berater weigerte sich, Matts Fragen zu beantworten, und die Männer waren in seiner Gegenwart nicht sonderlich gesprächig.

Um wirklich aufschlussreiche Informationen zu gewinnen, musste er seine Suche fortsetzen.

Malronce würde ihm alle Antworten liefern können.

Aber zu welchem Preis? Und werde ich danach jemals wieder zurückkehren?

Da vernahm er ein Geräusch, das er zunächst für das Knattern eines Segels im Wind hielt, bevor ihm einfiel, dass der Kielwurm gerade seine Arbeit verrichtete und die Segel gar nicht aufgezogen waren. Er drehte sich um und sah eine Eule mit großen gelb-schwarzen Augen auf der Reling sitzen.

Unwillkürlich wich er vor dem Raubvogel zurück.

Waren Eulen seit dem Sturm auch wild und gefährlich geworden?

Doch das Tier wirkte nicht aggressiv, es starrte Matt nur aus runden Augen an.

Also beschloss er, es einmal anders zu versuchen, und holte den Apfel hervor, den er beim Abendessen eingesteckt hatte, falls er in der Nacht Hunger bekäme. Mit dem Fingernagel kratzte er ein Stück aus der Frucht heraus und hielt es der Eule hin, doch die rührte sich nicht.

In diesem Moment entdeckte er den zusammengerollten Zettel, der ihr um den Fuß hing.

Diese Methode kenne ich doch! So verschicken die Zyniks geheime Nachrichten!

Er sah sich um, ob sonst noch jemand den Vogel bemerkt hatte, und trat näher. Wenn er die Eule erschreckte, würde sie sicher sofort wegfliegen, und die Botschaft ginge verloren. Das geschähe den Zyniks nur recht …

Kurz bevor er die Hände hob, um den Vogel zu verscheuchen, kamen ihm Zweifel.

Nein, das passt nicht zu den Zyniks. Solche Botschaften konnten sie vor dem Angriff auf die Carmichael-Insel nur verwenden, weil Colin mit ihnen unter einer Decke steckte und seine Alteration benutzte.

Und wenn Colin bei den Zyniks angeheuert hatte, um für sie Vögel abzurichten?

Unmöglich, er ist ertrunken!

Matt streckte vorsichtig die Hand nach dem Zettel aus. Er hatte Angst vor dem spitzen Schnabel der Eule.

Die kleine Papierrolle ließ sich leicht abziehen, und er stellte sich neben eine Laterne, um die Nachricht zu lesen.

»Wir sind hinter dir, mach dich bereit zur Flucht. Bei nächster Gelegenheit greifen wir ein. Ambre und Tobias.«

Unglaublich. Sie waren ihm tatsächlich gefolgt!

Aber Matts Freude erstarb sofort, als er an die vielen bewaffneten Soldaten an Bord dachte. Er musste seine Freunde warnen.

Hier durften sie auf keinen Fall zuschlagen.

Matt hielt vergebens nach einem Stift Ausschau. In seine Kabine konnte er nicht gehen, ohne den Berater misstrauisch zu machen. Womöglich flog die Eule in der Zwischenzeit davon, oder die Zyniks fingen sie ein, um sie in den Kochtopf zu werfen.

Nein, er musste nehmen, was sich an Ort und Stelle bot. Matt ging zu einem hervorstehenden Nagel, über den er vorhin fast gestolpert wäre, kniete nieder und drückte seinen Zeigefinger so lange auf die Spitze, bis ihn ein jäher Schmerz durchzuckte und Blut hervorquoll.

In krakeligen roten Buchstaben schmierte er auf die Rückseite des Zettels:

»Nein, Schiff wird bewacht. Haue in Henok ab, bereitet Fluchtmittel vor. Freue mich!«

Er rollte den Zettel wieder zusammen, schob ihn unter das Gummiband am Fuß der Eule und stupste das Tier an.

Es breitete seine großen Flügel aus und flog in die Dunkelheit davon.

Matt konnte nur hoffen, dass es seinen Auftrag begriffen hatte.