43. Der Unschuldstrinker

Ambre starrte unverwandt in den nachtschwarzen Himmel. Sie versuchte zu erkennen, ob es am östlichen Horizont schon heller wurde, verfolgte die Bahn des Mondes und zählte die Stunden.

Als sie es nicht mehr aushielt, schlich sie auf den Gang hinaus und suchte im Lagerraum nach irgendetwas, mit dem sie den Unschuldstrinker in seiner Kajüte einsperren konnte. Sie hätte ihm auch einfach erklären können, dass sie den Zeppelin ins Tal steuern mussten; wenn er wirklich darauf aus war, Matt in die Finger zu bekommen und auszufragen, hätte er wohl nichts dagegen einzuwenden gehabt. Doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es besser war, ihm unter keinen Umständen zu vertrauen.

Schließlich wurde sie fündig: ein Schraubstock, der an einem langen Brett befestigt war.

Sie klemmte die Klinke der Kajüte zwischen die Backen des Schraubstocks und zog ihn so fest wie möglich an. Das Brett lag zu beiden Seiten an der Außenwand auf und blockierte so die Tür. Wenn er die Klinke herunterdrücken und die Tür nach innen öffnen wollte, würde das Brett dagegenhalten.

Danach huschte sie in die Luftschleuse. Als Erstes musste sie die Leinen lösen.

Durch das Bullauge spähte sie in die Nacht hinaus. Nichts als die hölzerne Brücke, die zum Turm hinüberführte. Keine Monster weit und breit.

Sie entriegelte die Luke und kletterte, mit einem Messer bewaffnet, nach draußen. Kaum war die Meduse befreit, stieg sie sanft in die Höhe. Ambre stürzte zurück auf die Brücke und zog sich an Bord, bevor das Luftschiff endgültig abhob.

Dann setzte sie sich ins Cockpit.

Es gab nicht viele Schalter und Hebel, und sie dachte angestrengt an die Erläuterungen des Unschuldstrinkers zurück.

»Mit dem hier steuert man nach rechts, und mit dem nach links, und hier drücke ich, um höher zu steigen … Ja, ich glaube, ich weiß es wieder. Ich schaffe das. Nur Mut, Ambre, du kriegst das hin!«

Da hörte sie hinter sich einen dumpfen Schlag.

Die Bewegung der Gondel hat ihn aufgeweckt.

Ein zweiter Hieb gegen die Tür. Wie lange würde das Brett standhalten?

Ambre versuchte, nicht auf das Hämmern zu achten, konzentrierte sich wieder auf die Schalttafel und betätigte einen Hebel. Wie erhofft schwenkte die Meduse nach links.

Aber noch bevor Ambre sich darüber freuen konnte, tauchte der Unschuldstrinker hinter ihr auf.

»Was machst du da? Hast du den Verstand verloren? Du wirst uns umbringen!«

»Tobias und Matt warten unten im Tal auf uns, wir müssen sie dort aufsammeln!«

»Und deswegen hast du mich eingeschlossen? Du kleines Biest, lass sofort das Steuer los!«

Ambre klammerte sich so fest an den Pilotensitz, dass der Unschuldstrinker sie nur mit Gewalt herunterzerren und die Gondel stabilisieren konnte. Als er sah, dass Ambre weglaufen wollte, drückte er sie gegen die Wand.

»Ich bin der Kommandant an Bord!«, brüllte er und besprühte dabei ihr Gesicht mit Speichel.

»Wollen Sie den Jungen, den die Königin unbedingt haben will, immer noch zu sich holen? Dann tun Sie es jetzt!«

Der Unschuldstrinker brach in schallendes Gelächter aus.

»Ach, wie naiv du doch bist, du armes Ding.«

»Sie haben versprochen, uns zu helfen!«

»Gerade diese Treuherzigkeit, diese süße Unschuld liebe ich so an euch anderen.«

»Aber … Ich … Ich habe mich vor Ihnen ausgezogen!«

»Ah ja«, erwiderte er mit einem schmierigen Grinsen. »Und dafür danke ich dir auch vielmals. Wenn du wüsstest, welches Vergnügen du mir damit bereitet hast!«

Außer sich vor Wut und Scham, rammte Ambre ihm das Knie zwischen die Beine. Der Unschuldstrinker schrie auf, ließ sie aber nicht los. Ambre versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, und verdrehte ihm mit einem Ruck den Arm.

»Genug ist genug! Ich bin sicher, dass der Ring deinen Wert nicht mindern wird. Komm mit, du kleine Nervensäge!«

Er packte ihre Handgelenke und zerrte sie in den hinteren Bereich des Luftschiffs. In der geheimen Kammer kettete er sie an die Wand, öffnete eine Schatulle aus Eisen und legte eine lange Hakenpinzette, eine Lochstanze und einen Nabelring bereit.

»Das wird dir ein für alle Mal den Mund stopfen.«

»Nein! Nicht! Tun Sie das nicht!«

»Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«

Mit einer groben Handbewegung riss er ihre Bluse von unten her auf, bis ihr Bauchnabel zu sehen war, und wollte mit der Pinzette zustechen, doch das Mädchen kreischte und wand sich so wild, dass er die Stelle nicht erwischte.

»Wirst du wohl stillhalten!«

Er verpasste ihr eine so heftige Ohrfeige, dass Ambre ein paar Sekunden lang nichts hörte, aber als sie ihn mit der Lochstanze näher kommen sah, begann sie wieder zu strampeln.

»Jetzt reicht es aber«, schnaubte er.

Er ohrfeigte sie ein zweites und drittes Mal, doch ihr Lebenswille war stärker als der Schmerz. Sie trat mit dem Fuß nach ihm, und der Unschuldstrinker schlug zurück.

Ihre Ohren sausten, ihre Wangen brannten wie Feuer, aber Ambre wehrte sich weiter.

Bis ihre Kräfte nachließen und sie so benommen war, dass ihr die Sinne schwanden.

Als sie nicht einmal mehr wimmern oder mit den Fingern zucken konnte, sah sie, wie er nach seinen Folterwerkzeugen griff und sich zu ihr beugte.

Sie dachte an all die Stimmen zurück, die sie vor dem Unschuldstrinker gewarnt hatten.

Dass niemand gegen ihn gewinnen konnte.

Dass er durch und durch böse war.

Sie hätte ihn niemals um Hilfe bitten dürfen.