46. Drei Alterationen

Matt und Tobias wurden gefesselt und in die geheime Kammer geworfen, in der sie die sieben anderen Pans und eine am Boden liegende zugedeckte Gestalt vorfanden.

Der Unschuldstrinker fasste Colin am Ohr.

»Was fällt dir eigentlich ein, mit diesen Plagegeistern auszureißen?«

»Ich dachte, Sie würden es gut finden, wenn ich ihnen helfe!«, jammerte der junge Mann und zog eine Grimasse.

»Seit wann nimmst du dir heraus, zu denken, was ich will? Ich sollte dich über Bord gehen lassen!«

»Nein, Herr! Ich flehe Sie an, ich werde alles tun, was Sie verlangen! Gnade, Gnade!«

Der Unschuldstrinker stieß ihn grob gegen die Wand.

»Mit dir befasse ich mich später. Aber komm mir bis dahin ja nicht unter die Augen!«

Die Zellentür schlug zu, und die Pans saßen im Dunkeln.

Tobias wand sich so lange, bis er das Stück Leuchtpilz aus seiner Tasche gefingert hatte und ein silbriges Licht die Kammer erhellte.

Die Gefangenen hockten eng aneinandergedrängt da.

Unter der Decke, die über die am Boden ausgestreckte Gestalt gebreitet war, regte sich etwas.

Obwohl Jon die Hände im Rücken zusammengebunden waren, schaffte er es, einen Zipfel der Decke zu packen und sie wegzuziehen.

Es war Ambre. Sie war gefesselt und geknebelt, und man hatte ihr die Augen verbunden.

»Ambre!«, rief Matt und robbte zu ihr.

Jon tastete nach dem Knebel und lockerte ihn so weit, dass sie sprechen konnte.

»Matt? Toby? Seid ihr das?«

»Ja, wir sind hier!«

»Tut mir leid, ich habe alles noch schlimmer gemacht.«

»Er hat dir doch hoffentlich nicht weh getan?«, fragte Tobias, der dem Unschuldstrinker alles zutraute.

»Er … Er hat versucht, mir einen Nabelring zu verpassen.« Ein erschrockenes Raunen ging durch den Raum. »Ich dachte schon, es wäre aus mit mir … Aber ich habe noch einmal meine ganze Gedankenkraft zusammengenommen und meine Alteration eingesetzt, um den Ring ans andere Ende der Kammer zu bewegen. Das hat ihn derart aus der Fassung gebracht, dass er von mir abgelassen hat. Er war zwar furchtbar wütend, aber irgendwie hatte er wohl auch Angst vor mir. Die Alteration ist ihm nicht geheuer! Also hat er mich nur gefesselt und hier eingesperrt.«

»Respekt«, sagte Tobias anerkennend.

»Ach was, ich bin schuld an dem ganzen Schlamassel!«

»Der spirituelle Berater bringt uns nach Wyrd’Lon-Deis«, informierte Tobias sie.

»Wisst ihr irgendetwas über diese Gegend?«, fragte Matt in die Runde.

Jons Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, so sehr schien er den Ort, von dem die Rede war, zu fürchten.

»Das ist das Herz des Reichs der Königin, dort steht die Festung, in der Malronce residiert. Es heißt, dass es dort spukt und in den Sümpfen ringsum schreckliche Ungeheuer hausen!«

»Außerdem befinden sich dort die Erzminen und die Schmieden, in denen sie ihre Waffen herstellen«, fügte Ambre hinzu. »Und ein Teil ihrer Armee.«

»Sprich, wenn man uns als Gefangene dorthin schafft, kommen wir da nie wieder raus«, fasste Tobias zusammen.

»Uns schafft niemand irgendwohin«, sagte Matt bestimmt. »Jon, wenn ich zu dir rüberrutsche, kannst du meine Fesseln aufknoten? Dann werde ich versuchen, das Schloss aufzubrechen.«

»Es gibt keins«, wehrte Ambre ab. »Die Tür lässt sich nur von außen öffnen, und eintreten kann man sie auch nicht, dafür ist sie zu massiv. Wie wäre es, wenn ihr mir erst mal dieses Ding von den Augen nehmt?«

Jon kümmerte sich erst um ihre Augenbinde und dann um Matts Fessel.

»Ich krieg den Knoten nicht auf«, sagte er, nachdem er es eine Weile vergebens versucht hatte, »er sitzt zu fest.«

Aus einer Ecke wimmerte es leise.

»Das ist Mia«, erklärte Perez, ein großer Pan mit schwarzem Flaum auf den Wangen. »Sie schläft, aber der Pfeil steckt noch in ihrem Oberschenkel, und sie verliert viel Blut.«

Matt rappelte sich mühsam auf und donnerte mit der Schulter gegen die Tür. Da sich draußen nichts rührte, machte er so lange weiter, bis sich eine dumpfe Stimme vernehmen ließ.

»He! Ist jetzt endlich Ruhe da drinnen!«

»Wir haben eine Verletzte!«, schrie Matt. »Sie muss verarztet werden. Sofort!«

Der Wärter grunzte unwirsch, stiefelte davon und kam mit dem Unschuldstrinker zurück.

»Wer ist verletzt?«, wollte er wissen.

»Mia, eins der Mädchen. Sie braucht dringend Hilfe, sonst überlebt sie die Reise nicht!«

Die Tür ging auf, und Tobias legte sich hastig auf seinen Leuchtpilz, um ihn zu verstecken.

»Ich will ihr Gesicht sehen«, befahl der Unschuldstrinker.

Perez strich Mia die Haare aus dem Gesicht, so weit er es mit seinen gefesselten Händen vermochte, und der Unschuldstrinker musterte sie nachdenklich.

Matt spähte durch die Tür und erkannte Plusch am anderen Ende des Lagerraums. Man hatte sie an eine lange Leine gelegt.

»Was soll das?«, empörte sich Jon.

»Ich sehe mir an, ob sie die Mühe wert ist. Ja, sie ist ganz niedlich. Das könnte sich durchaus lohnen. Bringt das Mädchen in meine Kajüte, ich werde mich um die Wunde kümmern.«

Die Wachen trugen Mia weg, und die Tür fiel wieder zu.

»Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, sie mit ihm allein zu lassen«, bemerkte Ambre.

»Hier wäre sie uns verblutet«, gab Matt zurück.

»Und wir, wie kommen wir hier raus?«, fragte Tobias.

Matt seufzte.

»Ich weiß es nicht. Wir müssen uns was einfallen lassen. Und zwar schnell.«

 

Stunde um Stunde verging, und Matt sah nur einen einzigen Ausweg.

Sie brauchten Hilfe von außen.

Colin würde es sicher nicht wagen, seinen Herrn ein zweites Mal zu verraten.

»Ambre, kannst du mit Hilfe deiner Alteration aus etwa zehn Metern Entfernung einen Mechanismus betätigen?«

»Ich glaube schon, wenn er einfach zu bedienen ist und ich den Gegenstand sehe. Wieso fragst du?«

»Plusch ist am anderen Ende des Lagerraums angeleint. Wenn du die Schlaufe aus dem Haken an der Wand lösen könntest, hilft sie uns bestimmt.«

»Dafür müsste die Tür aber offen sein.«

»Darum kümmere ich mich schon. Toby, wenn der Wärter reinschaut, werde ich ihn mit irgendetwas ablenken, und du robbst zur Tür, um sie ganz aufzudrücken. Klar?«

»Klar.«

Matt hämmerte wieder mit der Schulter an die Tür, und diesmal ließ das Murren des Wärters nicht lange auf sich warten.

»Ruhe! Wenn ihr nicht sofort aufhört, verprügele ich euren Köter!«

»Es ist viel zu heiß hier drin«, rief Matt. »Wir ersticken!«

»Kann mir nur recht sein!«

»Bitte, geben Sie uns wenigstens etwas Wasser! Wenn wir am Ende der Fahrt alle tot sind, wird man Sie dafür verantwortlich machen!«

Dieses Argument zeigte Wirkung. Kurz darauf öffnete der Mann die Tür und stellte einen Eimer mit lauwarmem Wasser in die Mitte der Zelle.

Matt warf sich auf den Wärter und schob ihn in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Tobias reagierte blitzschnell und trat so fest gegen die Tür, dass sie aufschwang und gegen eine Kiste donnerte.

Ambre richtete ihren Blick auf Pluschs Leine, die an einem Karabinerhaken befestigt war.

Der Wärter rammte dem gefesselten Jungen die Faust in den Magen. Matt schnappte nach Luft und taumelte, während der Mann Tobias an den Haaren packte, ihn zurück in die Zelle schleifte und den Wassereimer mit einem Tritt umstieß.

»Untersteht euch, mir Streiche zu spielen«, sagte er höhnisch. »Mit Kindern wie euch werde ich locker fertig.«

Er wollte gerade die Tür zuwerfen, als Plusch ihn von hinten ansprang und gegen die Wand donnerte, wo er besinnungslos zu Boden sackte.

Matt zog den Dolch aus dem Gürtel des Wärters. Tobias wetzte an der Klinge seine Fesseln durch und befreite dann alle anderen.

Nachdem sie den Wärter in der Zelle gefesselt hatten, sagte Matt im Hinausgehen:

»Da hast du es wohl mit den falschen Kindern zu tun bekommen.«

 

Im Gang kamen ihnen zwei weitere Wachen entgegen, die der Krach misstrauisch gemacht hatte. Der eine umklammerte sein Schwert mit beiden Händen.

Als sie die Horde der Pans erblickten, hielten sie für den Bruchteil einer Sekunde inne.

Dieser Moment des Zögerns reichte Ambre, um sich auf das Schwert zu konzentrieren. Die Klinge schwang hoch und donnerte ihrem Träger so heftig gegen die Nase, dass der Knochen brach, während Tobias die Konserven warf, die er im Lagerraum vorsorglich eingesteckt hatte, und damit den zweiten Mann ins Taumeln brachte.

Die anderen Pans umzingelten die Wärter blitzschnell, fesselten sie ebenfalls und brachten sie in die Zelle.

»Wir brauchen unsere Waffen«, sagte Matt. »Ist der Zeppelin groß?«

»Ja, ziemlich. Ich schätze, dass die Zyniks unsere Ausrüstung an sich genommen haben. Wahrscheinlich sind sie im Aufenthaltsraum«, sagte Tobias. »Wenn sie nichts gehört haben, können wir drei sie mit unseren Fähigkeiten leicht überlisten.«

»Wir kommen mit!«, sagten zwei Pans gleichzeitig.

Jon holte ein Fischernetz, und Perez nahm das Schwert des Wärters an sich. Die anderen blieben in Deckung.

Sie schlichen weiter in Richtung Aufenthaltsraum, als plötzlich Hände von der Decke herabfuhren und Ambre an den Haaren und Schultern zu sich emporzogen. Mit einem Aufschrei verschwand sie auf dem Dach der Gondel.

Der Feind hatte eine Geisel genommen.