12.
Ratsversammlung
unter freiem Himmel
Ambre, Matt und Tobias wurden in ein kleines rundes Zimmer geführt, wo man ihnen zu essen brachte. Sie waren so viele Stufen hochgestiegen, dass sie den Eindruck hatten, an der Spitze des Baumes angelangt zu sein. Ihre Oberschenkel und Waden brannten wie Feuer.
»Sollten wir nicht den Rat treffen?«, wunderte sich Ambre.
»Doch, aber erst müsst ihr euch stärken«, erwiderte Clemantis, »damit ihr nachher nicht zu erschöpft seid.«
»Erschöpft?«, wiederholte Matt. »Was für eine Art Rat ist das denn? Ein Kampf oder was?«
Clemantis schien seine Frage sehr lustig zu finden.
»Nein«, sagte sie lächelnd. »Damit der Rat die bestmögliche Entscheidung treffen kann, wollen seine Mitglieder schon im Vorfeld so viele Informationen wie möglich zur Verfügung haben, und die werdet ihr ihnen heute Nachmittag liefern müssen.«
»Und wann treten wir vor den Rat?«, fragte Tobias.
»Heute Abend. Der Rat versammelt sich erst bei Einbruch der Nacht.«
Sie aßen zusammen eine warme Mahlzeit: helles Fleisch, das wie Hühnchen aussah, und Kartoffelbrei, der nach feuchter Erde roch. Dann verabschiedeten sich Clemantis und Orlandia und wurden von einem Dutzend Jungen unterschiedlichen Alters abgelöst. Der Jüngste war vermutlich nicht älter als acht Jahre, der Älteste etwa sechzehn. Sie setzten sich den drei Freunden gegenüber an den Tisch, und der Größte ergriff das Wort.
»Faellis hat uns die Umstände eurer Begegnung geschildert und berichtet, was ihr über eure Welt erzählt habt.«
»Das ist nicht nur unsere Welt, es ist die Welt, in der wir alle leben«, erwiderte Matt. »Der Blinde Wa … Entschuldigung, das Trockene Meer ist ein Teil davon!«
Der Jugendliche schien den Einwand nicht besonders zu schätzen, denn er musterte Matt lange, ehe er fortfuhr:
»Wie dem auch sei, jetzt befindet ihr euch bei uns, im Großen Nest, und hier gelten strenge Regeln. Nun gilt es herauszufinden, ob ihr uns willkommen seid oder ob ihr eine Gefahr darstellt.«
Diesmal wagte ihn keiner der drei zu unterbrechen, obwohl sie ihm zu gern versichert hätten, dass sie keinerlei Gefahr darstellten.
»Wir verdanken es dem Baum des Lebens, dass wir uns eine neue Existenz aufbauen konnten«, fuhr der Junge fort, »ihr müsst schwören, ihn und unseren Glauben zu respektieren.«
Ambre nickte zustimmend, Tobias schloss sich ihr an, und zuletzt zeigte sich auch Matt einverstanden.
»Sehr gut. Ich heiße Torshan. Lasst uns beginnen, indem wir ihn in eure Adern fließen lassen. Kommt.«
Torshan und seine Gefährten erhoben sich, um die drei Neulinge durch einen schmalen, in den Baum getriebenen Gang zu führen. Sie stiegen ein paar Stufen hinab und kamen in eine Art weiße Höhle, in deren Mitte eine Holzsäule stand. Eine zähe, bernsteinfarbene Flüssigkeit quoll langsam aus einer tiefen Kerbe, die natürlich zu sein schien.
»Das ist der Saft des Baums des Lebens«, verkündete Torshan und fing die Flüssigkeit mit einem kleinen Becher auf. »Ihr müsst sein Blut trinken.«
»Was … Was wird das mit uns machen?«, fragte Tobias.
»Vom Blut des Baums des Lebens zu trinken bedeutet, Teil unseres Stammes zu werden. Solltet ihr uns danach belügen, gibt es keinen Zweifel mehr, dass ihr unsere Feinde seid. Niemand hat das Recht zu lügen, wenn in ihm das Blut unseres Heiligen Baums fließt.«
Er hielt Tobias den Becher hin, und der nahm ihn nach kurzem Zögern entgegen. Sein Blick wanderte hilfesuchend zu seinen Freunden. Matt und Ambre nickten ihm aufmunternd zu. Tobias trank einen Schluck und gab dann den Becher an Ambre weiter. Der Saft schmeckte bitter und war so klebrig, dass er ihn nur mit Mühe hinunterbekam. Seine Freunde tranken ebenfalls davon, und Torshan seufzte erleichtert auf.
»Jetzt seid ihr zumindest für eine gewisse Zeit Kinder des Baums des Lebens. Kommt, unsere Unterredung kann beginnen.«
Die Gemeinschaft der Drei wurde mit Fragen überhäuft. Stundenlang antworteten sie auf alles: woher genau sie kamen, wie sie es in die Abgründe des Trockenen Meeres verschlagen hatte, wie sie sich kennengelernt hatten, was sie über die anderen Stämme wussten. Das Verhör zog sich ins Unendliche, jede Antwort führte zu einer neuen Frage. Die Jungen gingen dabei freundlich und respektvoll zu Werke; dennoch spürte Matt, dass sie eine gewisse Distanz wahrten und ihr Lächeln reine Höflichkeit war.
Es gab Matt einen Stich, von Plusch zu erzählen. Seine Hündin fehlte ihm schrecklich.
Torshan leitete das Gespräch, auch wenn er den anderen völlig freie Hand bei der Wahl ihrer Fragen ließ. Bald war klar, dass jeder seine persönlichen Vorbehalte einbrachte. Der Jüngste machte keinen Hehl aus seinen Zweifeln, ließ sich aber nicht beirren, während Torshan viel listiger vorging und seine Fragen geschickt verkleidete.
Als Matt auf die Kreaturen angesprochen wurde, aus deren Fängen sie befreit worden waren, zögerte er. Seine erste Reaktion war, die Existenz des Torvaderon für sich zu behalten. Doch er wusste, dass er nicht lügen durfte. Wenn er erwischt wurde, drohte die sofortige Verbannung, ohne eine zweite Chance.
Wie sollen sie wissen, dass ich lüge?
Matt antwortete immer noch nicht.
»Na, was jetzt?«, murrte der Chloropanphyll, der ihm gegenübersaß. »Wisst ihr, was euch da angegriffen hat und warum?«
»Das waren Stelzenläufer«, erwiderte Matt zu Tobias’ Verblüffung.
Ambre zwinkerte ihm anerkennend zu, und Matt hatte den Eindruck, so etwas wie Stolz in ihrem Blick zu lesen.
»Es sind Späher«, fügte er hinzu. »Die Vorhut einer mächtigen und sehr gefährlichen Kreatur, dem Torvaderon.«
»Den Namen hab ich noch nie gehört. Vielleicht nennen wir sie anders, beschreib uns dieses Wesen.«
»Nicht nötig, ich kann euch versichern, dass ihr es noch nie gesehen habt. Es kommt aus dem Norden, und … es ist hinter mir her.«
»Warum ausgerechnet hinter dir?«
»Ich weiß es nicht. Ich spüre es einfach, es ist, als nähme irgendetwas in mir das Böse in ihm wahr. Er ist von grenzenloser Zerstörungswut erfüllt, und ich bin überzeugt, dass ich ihm auf keinen Fall in die Hände fallen darf. Durch eure Rettungsaktion und die Fahrt auf dem Mutterschiff habe ich mich weit von ihm entfernt. So schnell wird er mich nicht wieder finden, und dafür danke ich euch.«
Torshan warf ihm einen prüfenden Blick zu, bevor Matt auf den Grund ihrer Reise zu sprechen kam: Sie seien nach Süden aufgebrochen, um vor dem Torvaderon zu fliehen, aber auch, um mehr über die Zyniks und die entführten Pans herauszufinden – und um zu verstehen, warum in der Ausrüstung eines Zynik-Regiments ein Steckbrief mit seinem Konterfei steckte.
»Du scheinst recht begehrt zu sein, Matt Carter«, meinte Torshan.
»Ich will ehrlich mit euch sein: Meine Anwesenheit kann euch über kurz oder lang in Schwierigkeiten bringen. Meine Freunde und ich wollen auch gar nicht hierbleiben, wir möchten uns nur ausr …«
Torshan unterbrach ihn mit einer abwehrenden Geste.
»Eure Wünsche könnt ihr zu gegebener Zeit vorbringen. Jetzt geht es nicht darum, was ihr wollt, sondern darum, wer ihr seid.«
Das Verhör setzte sich bis zum Abend fort. Am Ende waren die drei völlig erschöpft und litten unter Kopfschmerzen.
Die Jungen ließen sie allein, und man servierte ihnen eine weitere Mahlzeit. Danach konnten sie sich ein wenig erholen und in Ruhe über alles nachdenken, was sich seit dem Vorabend ereignet hatte.
Einige Stunden später kam man sie holen. Matt war sicher, dass es schon mitten in der Nacht sein musste; er hatte geschlafen, als Torshan in den Raum trat und sie bat, ihm zu folgen.
Sie wurden zu einer weiteren Treppe geführt und stiegen zu einem Vorplatz empor, der unter freiem Himmel lag.
Sechs Schalen enthielten jene weiche Substanz, die ein silbriges Licht verbreitete. Es gab keine Tür, nur eine drei Meter hohe Mauer, die den gesamten Hof einfasste.
Matt wurde unbehaglich zumute. Er hatte den Eindruck, in einer Arena zu stehen, wie ein Verurteilter im antiken Rom, der darauf wartet, dass man die hungrigen Löwen hereinlässt.
Aus dem Schatten über der Mauer erhob sich auf einmal eine Mädchenstimme, als gäbe es dort einen Balkon. Matt starrte in die Dunkelheit, aber außer den Ästen der Eiche, die in den Himmel ragten, konnte er nichts erkennen. Die Stimme schien aus dem Laub zu kommen.
»Ihr befindet euch vor dem Rat der Frauen.«
Eine andere Stimme, gleich neben der ersten, fuhr fort:
»Unsere Berater haben uns eure Antworten vorgetragen.«
»Jetzt ist die Stunde der Entscheidungen gekommen«, verkündete eine Dritte, die deutlich jünger klang.
»Nach allem, was uns berichtet wurde«, sagte die Erste, »sind wir der Auffassung, dass es in unserer Pflicht steht, euch Gastfreundschaft zu gewähren. Der Baum des Lebens hat uns geholfen, doch er gehört uns nicht allein; alle Lebewesen dürfen bei ihm Zuflucht suchen, solange sie mit reinen Absichten kommen, ohne Hintergedanken. Fühlt euch also hier wie zu Hause.«
»Torshan wird euch beim Einzug behilflich sein. Er wird auch feststellen, wie ihr am besten zum Wohl der Gemeinschaft beitragen könnt.«
Ambre hob die Hand wie in der Schule.
»Sprich«, sagte ein Mädchen.
»Ihr müsst wissen, dass wir nicht auf Dauer … Also, eigentlich wollen wir nicht bleiben, sondern uns nur erholen, bevor wir weiterziehen. Und dabei bitten wir euch um Hilfe.«
»Niemand verlässt das Große Nest freiwillig.«
»Aber wir befinden uns auf einer Art Mission, das hat man euch bestimmt mitgeteilt. Und wir können hier nicht allzu lange verweilen, ohne eure Sicherheit zu gefährden.«
»Das Wesen, das euch verfolgt, kann nicht ohne fremde Hilfe aus den Abgründen aufsteigen. Seid unbesorgt, selbst wenn es die Gefahren überlebt, die dort unten lauern, wird es nicht herausfinden, dass ihr hier seid.«
Matt verzog das Gesicht. Diesen Optimismus teilte er nicht. Es war nur eine Frage von Tagen, Wochen oder vielleicht Monaten, bis der Torvaderon wieder in seine Gedanken eindringen und ihn dadurch orten würde.
»Wir müssen unsere Reise fortsetzen, es geht um das Überleben unseres Volkes, der Pans«, rief er laut, um sich verständlich zu machen.
Totenstille trat ein.
»Wir bitten euch nur«, erklärte Matt, »uns zu helfen, das südliche Ende des Trockenen Meeres zu erreichen.«
»Das ist ein weiter Weg«, rief eine vierte Stimme entsetzt.
»So ist es«, ergriff wieder die Erste das Wort. »Ein sehr langer Weg. Dazu kommt die Zeit, die wir brauchen werden, um eine Entscheidung in dieser Sache zu fällen, welcher Natur sie auch sein wird. Ihr scheint klug zu sein, unser Wohlergehen ruht auf den Schultern von Kindern wie euch. Wenn ihr im Großen Nest bleibt, arbeitet ihr an der Zukunft mit, die wir aufbauen. Wir sind alle aufeinander angewiesen.«
»Meine Schwester hat recht, liebe Reisende. Nehmt euch die Zeit, euch hier einzuleben und über eure Suche nachzudenken. Ihr habt von jetzt an fünf Tage, um euch zu entschließen, ob ihr bleiben oder weiterziehen wollt. Sollte Letzteres der Fall sein, werdet ihr gute Argumente vorbringen müssen, denn wir riskieren nicht ohne triftigen Grund unser Leben, um euch in die Ferne zu begleiten.«
»Richtig: hervorragende Argumente! Wenn ihr uns nicht überzeugen könnt, bleibt ihr hier. Zu unserer, aber auch zu eurer eigenen Sicherheit.«
Es raschelte leise im Laub, als der Rat der Frauen den Ort verließ.
Matt warf seinen Gefährten einen Blick zu.
Auch sie wirkten sehr besorgt.
Alle drei fragten sich, wo sie da gelandet waren. Das Große Nest schien ein goldener Käfig zu sein.
Ein beeindruckender Ort, aber nichtsdestoweniger ein Gefängnis.