Achtunddreißig
Abschließend lässt sich sagen: Es hat den Anschein, dass Mr Mills seine Frau aus unbekannten Gründen getötet und sich anschließend selbst das Leben in einem Anfall von Reue genommen hat.
Auf dieser Grundlage glauben wir, dass keine weiteren Ermittlungen erforderlich sind und der Fall abgeschlossen werden kann.
Carole Simpson las den letzten Satz sorgfältig. Sosehr sie sich auch bemühte, konnte sie keine Zweideutigkeit und keinen versteckten Nebensinn entdecken. Sie schaute Carlyle an, der mit in seinem Schoß gefalteten Händen vor ihrem Schreibtisch saß und auf dessen Gesicht ein Ausdruck zen-ähnlicher Gelassenheit lag. Falls es im Lauf der letzten zehn Jahre eine schlechtere Nachahmung eines Sängerknaben in diesem Büro gegeben hat, dann nicht in meiner Gegenwart, dachte sie säuerlich.
Sie zog die Augenbrauen hoch und ließ den Bericht auf den Tisch sinken. »Und das war’s?«
Der Inspector richtete sich in seinem Sessel gerade auf und schaute seiner Chefin direkt in die Augen. »Ja, Commander«, sagte er steif.
»Keine chilenischen Auftragsmörder?«
Carlyle lächelte. »Das war immer nur eine Theorie.«
»Was ist mit Sandra Groves und dieser …«, sie wedelte ungeduldig mit einer Hand herum, »… dieser Hartson?«
Scheiße! Woher wusste sie von denen? Carlyle spürte, wie sein Lächeln unsicher wurde. Das musste man Simpson lassen, sie war kein Trottel. »Ich habe mich im Fall Groves nicht ganz auf dem Laufenden gehalten«, sagte er leichthin. »Und was Hartson betrifft, das wird als Selbstmord geführt. Ihr Hausarzt hat bestätigt, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt.«
Ich kenne das Gefühl, dachte Simpson grimmig.
»Es hat den Anschein, als sei es ihr schon eine ganze Zeit schlecht …«
Commander Simpson unterbrach ihn mitten im Satz. »Und deshalb hat sie sich von einem U-Bahn-Zug überfahren lassen?«
Carlyle zuckte mit den Achseln. Als er es
endlich geschafft hatte, auf Hartsons Handy jemanden zu erreichen,
war eine barsche Polizistin am Apparat gewesen. Nachdem er gesagt
hatte, wer er war, erklärte sie unverblümt, die Inhaberin des
Telefons habe sich »umgebracht, indem sie sich vor eine
U-Bahn geworfen hat«. Es schien keinen Grund zu geben, dem zu
widersprechen.
»Nur ein paar Minuten nachdem sie sich mit Ihnen getroffen hat?«
»Es sieht so aus, als sei schließlich alles zu viel für die arme Frau gewesen.«
»Auf manche Leute können Sie diese Wirkung haben«, murmelte Simpson vor sich hin.
»Wie bitte?«
»Nichts.« Obwohl sie es besser wusste, bohrte Simpson weiter. »Würden Sie nicht sagen, dass es ein etwas merkwürdiges Zusammentreffen ist?«
»Der Fahrer meinte, sie sei gesprungen«, sagte Carlyle gleichmütig. »Niemand, der zu der Zeit auf dem Bahnsteig war, hat ihm widersprochen.«
»Hmmm.«
»Und die Überwachungskameras haben auch nichts erbracht.«
Commander Simpson, die sich vollkommen im Klaren darüber war, dass ihr Untergebener äußerst ökonomisch mit den Ereignissen umgehen konnte, musterte Carlyle misstrauisch. »Aber Inspector, dachten Sie denn nicht, dass Monica Hartson angesichts Ihrer Theorien in einer gewissen Gefahr schwebte?«
»Ich habe nur Vermutungen angestellt«, sagte er, um ein wenig falsche Bescheidenheit angesichts des offensichtlichen Bluffs seiner Chefin an den Tag zu legen. »Aber die arme Frau hatte wahrhaft schreckliche Dinge gesehen. Einige ihrer Erfahrungen im Irak waren grauenhaft.«
»Ja, schon gut.« Simpson wollte die blutigen Details nicht hören.
»Sie war eindeutig an einem traurigen Ort.«
»Okay.« Commander Simpson stieß einen langen Seufzer aus. Der Inspector konnte notfalls einen ganzen Tag mauern, und sie musste an Besprechungen teilnehmen.
»Wären wir dann so weit?« Carlyle legte die Hände auf die Stuhllehnen und machte Anstalten, sich zu erheben.
Simpsons Gesichtsausdruck war gequält. »Ich denke schon.« Sie pochte mit dem rechten Zeigefinger auf den Bericht, und er konnte sehen, dass der Fingernagel fast bis zum Fleisch abgekaut war. »Aber warum haben Sie es für nötig gehalten, persönlich hierherzukommen, nur um das abzuliefern?«
»Nun ja …« Carlyle räusperte sich und versuchte, genau den richtigen Tonfall zu treffen. »Ich wollte mich für die Verspätung entschuldigen, mit der Sie unterrichtet wurden – und mich vergewissern, dass Sie mit dem Endergebnis zufrieden sind.«
Etwas, das einem Lächeln nahekam, zog langsam über Simpsons Gesicht. »Vielen Dank, John«, erwiderte sie, »aber eine E-Mail wäre völlig akzeptabel gewesen. Ich weiß, wie viel Sie zu tun haben, deshalb mussten Sie sich nicht die Zeit nehmen.«
»Ich weiß«, erwiderte Carlyle, »aber unter den Umständen …«
Sie legte den Kopf schräg.
»… hatte ich den Eindruck«, fuhr er fort, wobei er den Blick an die Decke richtete, »dass ich die Gelegenheit ergreifen sollte, Ihnen zu sagen, dass, äh, nun ja …«, er schluckte, »… ich weiß, dass dies eine schwierige Zeit für Sie sein muss, aber dass alle hier in Charing Cross der Ansicht sind, dass Sie ein guter Copper sind und eine respektierte Kollegin, und dass Sie uns bitte sagen, falls wir irgendetwas für Sie tun können.«
Wo zum Teufel war das hergekommen? Es sah ganz so aus, als hätte er nach all diesen Jahren eine neue Möglichkeit entdeckt, ins Fettnäpfchen zu treten. Während er spürte, dass er leicht rot wurde, konzentrierte er sich darauf, den Mund zu halten.
Als er schließlich das Gefühl hatte, Simpson wieder ins Gesicht sehen zu können, schien sie genauso verwirrt über seine kleine Ansprache zu sein wie er selbst. »Nun ja, vielen Dank, John.« Während ihre Wangen sich röteten, räusperte sie sich. »Dies sind die ersten richtigen Worte der Unterstützung, die ich seit Joshuas Verhaftung gehört habe.«
Er starrte auf einen Punkt an der Wand hinter ihrem Kopf. »Die Jungs in der Station dachten, es sei wichtig, dass es mal gesagt würde.« Hoffentlich würden »die Jungs« nicht rauskriegen, dass er sich spontan zu ihrem Sprecher aufgeschwungen hatte.
»Und ich weiß ihre Ansichten sehr zu schätzen.« Sie stand auf und wartete darauf, dass er es ihr nachtat. »Und vielen Dank für den Bericht. Es ist gut zu wissen, dass der Fall Mills abgeschlossen ist.«
»Ja.«
»Und was machen die Ermittlungen im Royal Opera House für Fortschritte?«
Carlyle runzelte die Stirn. Der Stapel mit den unvollständigen Befragungen der Puccini liebenden Opfer angeblicher Raubüberfälle war nicht mal angerührt worden. »Zähe.«
»Ah, gut.« Simpson nickte, während sie um den Schreibtisch herumging. »Diese Dinge brauchen einfach ihre Zeit.«
»Ja«, erwiderte Carlyle, der angesichts der untypischen Laisser-faire-Haltung seiner Chefin ziemlich verdutzt war. Er kam sich wie ein Idiot vor, während er verlegen lächelte und rasch zur Tür ging.
Er verließ Simpsons Büro und ging auf dem Flur bis zur nächsten Herrentoilette, um sich zu beruhigen und darüber klar zu werden, was er gerade getan hatte. Und warum er es getan hatte. Bestenfalls hatte er Commander Simpson immer für eine zutiefst unsympathische und mit Fehlern behaftete Kollegin gehalten. Jetzt, da die selbstsüchtige Karrieristin auf dem Bauch gelandet war, wo blieb da seine Schadenfreude? Zu ihrer Unterstützung herbeizueilen, war so weit von seinem üblichen Stil entfernt, dass er sich fragte, ob er sich nicht vielleicht irgendwas eingefangen hatte. Da sich keine schnelle Antwort fand, spritzte er sich etwas Wasser ins Gesicht, bevor er sich hinaus in das nachmittägliche Gewühl Londons begab.