Zwei

Agatha Mills, die immer noch angezogen und nicht müde genug war, um ins Bett zu gehen, stand an ihrem Wohnzimmerfenster und schaute auf die mit Flutlicht angestrahlte Pracht des Britischen Museums. Die Aussicht war das Beste an der Eigentumswohnung, besonders bei Nacht; sie verbrachte viel Zeit damit, seine ionischen Säulen und die Skulpturen im Giebeldreieck über dem Haupteingang zu betrachten, die den Fortschritt der Zivilisation darstellten.

Schöner Fortschritt, dachte Agatha traurig und schüttelte den Kopf.

Diese Aussicht war der Grund dafür gewesen, dass sie sich in die Wohnung verliebt hatte, als Henry und sie sie vor fast vierzig Jahren zum ersten Mal in Augenschein nahmen. Sie hatte ihn bedrängt, den in der Anzeige geforderten Preis sofort zu bezahlen, obwohl sie es sich nicht leisten konnten. Er war damals sehr mürrisch gewesen, und darüber konnte sie auch heute noch lächeln. Denn als sich im Lauf der Jahre immer deutlicher herausstellte, dass die Wohnung die einzige rentable finanzielle Investition war, die sie in ihrem ganzen Leben getätigt hatten, hatte ihr Mann eingelenkt und liebenswürdig akzeptiert, dass sie recht gehabt hatte.

Für Agatha war ihre Freude in der Great Russell Street allerdings immer von Traurigkeit getrübt gewesen. Seit diesem ersten Besuch hatte sie davon geträumt, ihre eigenen Kinder die Treppe hinunter, über die Straße und in das Museum zu begleiten. Sie hatte sich Picknicks im Innenhof und saumselige Nachmittage vorgestellt, die sie zwischen den ägyptischen Mumien oder den römischen Kunstschätzen verbrachten. Wenn sie seinerzeit gewusst hätte, dass es keine Kinder geben würde, wäre sie am Boden zerstört gewesen. Selbst heute spürte sie einen scharfen Stich des Bedauerns, von dem sie wusste, dass er nie verschwinden würde.

Doch im Haushalt der Mills herrschte ein stoischer Pragmatismus: Man musste sich mit seinem Kummer abfinden – und das hatten sie getan. Das Leben ging weiter. Sie hatten andere Dinge gefunden, mit denen sie ihre Zeit verbrachten und auf die sie sich emotional einließen. Manchmal fragte sie sich, ob Henry so enttäuscht war wie sie – schließlich war er ja ein Mann –, aber letzten Endes spielte das keine Rolle. Sie befanden sich nicht in einem Wettkampf, bei dem bewertet wurde, wer von ihnen beiden sein Herz mehr auf der Zunge trug.

Sie dachte jetzt an ihn, wie er in ihrem Doppelbett schlief, und lächelte. Er war ein guter Mann, der ihre Kämpfe übernommen und sie zu seinen eigenen gemacht hatte. Im Lauf der Jahre hatte sie begriffen, dass er ein wahrhaft bemerkenswerter Lebensgefährte war und sie von Glück reden konnte, ihn zu haben.

Eine Bewegung unten auf der Straße fiel ihr ins Auge. Als sie näher ans Fenster trat, entdeckte sie einen Stadtstreicher, der den Abfall durchsuchte, um etwas zu essen oder vielleicht weggeworfene Kleidungsstücke zu finden. Für Agatha an ihrem Fenster war es zu dieser Nachtzeit ein ziemlich normaler Anblick, der abgesehen von dem leichten voyeuristischen Reiz, unbemerkt einen anderen Menschen bei der Verrichtung seiner Geschäfte zu beobachten, keine besondere Reaktion mehr bei ihr auslöste. Da sie einen großen Teil ihres Lebens in ärmeren Ländern gearbeitet hatte, war sie daran gewöhnt, dass Menschen in Abfällen herumstöberten. Tatsächlich hatte sie viel Schlimmeres gesehen, als London zu bieten hatte. Hier hatte Agatha allerdings festgestellt, dass sie für die Notlage anderer weniger Mitgefühl aufbrachte. Vielleicht lag es daran, dass sie allmählich älter wurde, aber sie fragte sich auch, ob die Stadt sie nicht härter machte.

Wie die anderen Bewohner der Ridgemount Mansions war Agatha verärgert über den Müll, der an den meisten Vormittagen über den Bürgersteig verstreut war, nachdem ihr sorgfältig sortierter und in Beuteln verstauter Abfall von den obdachlosen Geistern systematisch seziert worden war, die mitten in der Nacht die leeren Straßen heimsuchten. Dann und wann rief jemand die Polizei, aber das war Zeitverschwendung; falls sie überhaupt auftauchten, ließen die Beamten unweigerlich durchblicken, wie wenig sie an einer derart unwichtigen Sache interessiert waren, und unternahmen nur die oberflächlichsten Anstrengungen, die Missetäter zu vertreiben.

Sie beobachtete, wie der Mann eine Auswahl von Dingen aus einem der Beutel zusammenstellte, die man aus dem Restaurant zwei Häuser weiter nach draußen gebracht hatte, bevor er im Schatten verschwand, um seine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Ein Windstoß wirbelte einige leere Behälter aus Alufolie auf die Straße. Sonst bewegte sich da unten nichts.

Als Agatha vom Fenster zurücktrat, hörte sie ein Geräusch aus der Küche. Henry hatte eindeutig wieder Probleme mit dem Schlafen. Bis vor Kurzem war es ungewöhnlich für ihn gewesen, nachts aufzustehen, aber mittlerweile kam es immer häufiger vor. Je älter er wurde, desto ruheloser wurde er.

»Henry?« Sie stapfte aus dem Wohnzimmer und spähte durch die Diele. Das Licht in der Küche war an. »Alles in Ordnung?« Das Geräusch in der Küche brach ab, aber es kam keine Antwort. Er hört von Tag zu Tag schlechter, dachte sie. Sie wurden beide alt. Das war noch ein Problem, wenn man keine Kinder hatte: Wer würde sich um sie kümmern, wenn alles zu viel für sie wurde? Agathas Mutter war am Ende in einem Heim gewesen; nicht so sehr ein Heim, eher ein modernes Irrenhaus. Für Agatha waren die Schuldgefühle und die Scham, sie dort gelassen zu haben, schlimm genug, aber das war nichts verglichen mit ihrer eisernen Entschlossenheit, dass das Gleiche nicht mit ihr oder ihrem Mann passieren würde. Ihr Vater war eines Tages mit einem Herzinfarkt umgekippt, als er unterwegs war, um ein Brot einzukaufen. Das war damals ein schrecklicher Schock gewesen, aber wenn man darüber nachdachte, war es eine deutlich bessere Art, sich zu verabschieden, als in einer Klapsmühle dahinzusiechen.

»Henry?«, wiederholte sie scharf, verärgert über ihre morbiden Gedanken. »Was machst du da? Es ist wirklich ziemlich spät.« Agatha trat in die Küche und runzelte die Stirn. Da war niemand. Sie seufzte und drehte sich nach dem Lichtschalter um, bevor sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

»Was zum Teufel …?«

Der erste Schlag traf sie eher an der Schulter als am Kopf, aber er war so fest, dass sie mit einem Krachen zu Boden fiel.

»Henry!«, wimmerte Agatha, während sie versuchte, sich an einem neben ihr stehenden Stuhl in die Höhe zu ziehen. Sie hatte es gerade bis auf die Knie geschafft, als der zweite Schlag kam. Diesmal traf er sie direkt am Hinterkopf und schickte sie endgültig zu Boden.