Siebenundzwanzig
Carlyle balancierte vorsichtig eine zerbrechliche und teuer aussehende Tasse mit Untertasse auf dem Knie und wartete darauf, dass Claudio Orb einen Schluck von seinem Tee nahm. An der Wand links von ihm hing oben ein großes Foto einer in Chanel gehüllten Frau, bei der es sich vermutlich um die derzeitige chilenische Präsidentin handelte. Licht strömte durch die Fenstertür hinter dem Botschafter herein, die auf einen kleinen Balkon führte, von dem man den belebten Platz draußen im Blick hatte.
Er war fast auf Grund einer Laune hierhergekommen. Als Henry Mills vor diesen Lieferwagen gelaufen war, hatte sich sein Fall offensichtlich von selbst gelöst. Er konnte problemlos zu den Akten gelegt werden, und niemand würde einen weiteren Gedanken daran verschwenden. Sandra Groves war Chans Problem. Carlyle konnte eine Weile die Füße hochlegen und darauf warten, dass der nächste Haufen Unrat bei ihm ankäme. Als ruhelose Seele wusste er allerdings, dass er sich damit nicht zufriedengeben konnte. Der Eindruck, dass an dieser Sache mehr dran war, als man auf den ersten Blick sah, war fest in seinem Gehirn verankert. Es war ein Gefühl, das er schon oft erfahren hatte. Er hasste die Vorstellung, verarscht zu werden – ob sich das nun Berufsstolz oder persönlicher Eitelkeit verdankte –, und er war einfach noch nicht gewillt, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.
Als er in der Botschaft auftauchte, hatte er mit Freude zur Kenntnis genommen, dass er bei seiner Ankunft weder mit Überraschung noch mit Missfallen begrüßt wurde. Nachdem er einer äußerst rudimentären Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden war, hatte man ihn allein zum Vorzimmer des Botschafters hochgeschickt, wo ihm eine sehr hübsche, sehr jung aussehende Sekretärin mitgeteilt hatte, dass Orb ihn in zwei Minuten empfangen würde. Kaum neunzig Sekunden später saß er vor dem Schreibtisch des Botschafters, während sein Gastgeber die relativen Vorzüge von Fortnum’s Smoky Earl Grey und ihrer Piccadilly-Mischung erwog. Nachdem Orb sich für Letzteren entschieden hatte, überraschte er Carlyle damit, dass er aufstand und aus seinem Büro verschwand, um den Tee selbst zuzubereiten. Als er schließlich zurückkam, hätte Carlyles Meinung von Chile und den Chilenen nicht höher sein können.
Nach einem Probierschluck setzte Orb seine Tasse wieder auf die Untertasse in der Mitte seines ansonsten sehr aufgeräumten Schreibtischs und schaute Carlyle an. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Inspector«, sagte er und lächelte. »Erzählen Sie mir doch, wie es mit Ihren Ermittlungen vorangeht.«
Carlyle machte eine unbestimmte Bewegung mit einer Hand, während er mit der anderen die Untertasse festhielt. »Man muss diesen Dingen ihren Lauf lassen.«
»Das muss man allerdings.« Orb faltete die Hände auf dem Schreibtisch zusammen, als wollte er gleich beten. »Und was ist mit dem Ehemann passiert, wenn ich fragen darf?«
Weil Carlyle genug von seinem Balanceakt hatte, stellte er seine Tasse mit der Untertasse auf den Teppich neben seinem Stuhl. »Er ist vor einen Lieferwagen gelaufen«, sagte er und richtete sich auf.
»Ein Unfall?«
»Selbstmord.«
»Oh?« Orb machte einen verblüfften Eindruck. »Aber er war Ihr Hauptverdächtiger.«
»Ja.«
»War es das also?«, fragte Orb. »Ist der Fall jetzt abgeschlossen?«
Carlyle veränderte seine Sitzhaltung. »Vielleicht.«
»Vielleicht?«, wiederholte Orb. »Zieren Sie sich nicht, Inspector. Sie sind bestimmt nicht nur wegen einer Tasse Tee hier, so nett das auch ist.«
Carlyle grinste. »Vielleicht.«
»Also …« Das Lächeln des Botschafters verblasste ein wenig, womit er zu erkennen gab, dass weder seine Zeit noch seine Geduld grenzenlos waren, obwohl sein herzlicher Empfang aufrichtig war. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Der Herr, mit dem ich Sie in der City Hall habe zusammen stehen sehen … bei dem Empfang, als wir einander vorgestellt wurden?«
Orb dachte einen Moment darüber nach. »Sie meinen den Bürgermeister, Mr Holyrod?«
»Nein. Den anderen Mann. Ungefähr Ihre Größe, Mitte dreißig, hatte einen Bart – ein gut aussehender Mann, sonnengebräunt.«
»Ach ja«, sagte Orb. »Matias Gori.«
»Wer ist er?«
»Er arbeitet hier an der Botschaft als einer unserer Militärattachés. Hat er irgendetwas mit dieser Sache zu tun?«
Carlyle ging nicht auf die Frage ein. »Ich habe mich immer gefragt«, sinnierte er, »was ein Militärattaché eigentlich macht.«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Orb hob seine Tasse an die Lippen und nippte wieder an seinem Tee; es machte ihm nichts aus, noch ein bisschen darauf zu warten, dass der Polizist zur Sache kam. »Ich bin nur der Botschafter, Inspector, deswegen ist meine Kenntnis seiner Funktionen auch sehr lückenhaft. Ich glaube, die meisten Leute würden wahrscheinlich annehmen, dass ›Militärattaché‹ nur die höfliche Bezeichnung für einen Spion ist. Aber normalerweise ist es viel banaler.«
»Nicht jeder kann James Bond sein, vermute ich.«
»Nein, besonders heute nicht. Man kann sich über die meisten Dinge im Internet informieren, angenommen man hat Lust, einige Zeit mit dem Recherchieren zu verbringen. Es ist eine erstaunliche Erfindung – meine Enkel können sich einfach nicht vorstellen, wie wir jemals ohne sie auskommen konnten.«
»Nein«, stimmte Carlyle ihm zu. »Was bleibt für einen Militärattaché dann heutzutage noch übrig? Sind Spione im Grunde überflüssig geworden?«
»Mehr oder weniger«, sagte Orb, »soweit ich sehe. Mit Sicherheit sind sie für ein kleines Land wie Chile nicht besonders wichtig. Unsere Militärattachés machen ein bisschen Marketing für unsere Rüstungskonzerne und stellen ein paar Recherchen an, um die Leute zu Hause auf dem Laufenden zu halten, was die neuesten Entwicklungen in wichtigen Märkten wie Großbritannien angeht.«
»Ist Gori schon lange hier?«
Orb leerte seine Tasse und zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich wirklich nicht. Er war schon hier, als ich ankam.« Er rechnete im Kopf nach. »Also … das heißt vermutlich, dass er seit mindestens drei Jahren hier ist.«
»Wo war er, bevor er nach London gekommen ist?«
»Wir machen alle die Runde, Inspector«, sagte Orb. »Gori hatte verschiedene Auslandsposten in den USA, Spanien, im Irak …«
»Im Irak?«
»Natürlich. Wir waren große Befürworter des Kriegs gegen den Terror.«
Carlyle setzte sich aufrecht hin. »Kann ich mit ihm sprechen?«
»Über Ihren Fall?«
»Ja.«
»Nun ja, technisch gesehen hätte er das Recht, ein Gespräch mit der Metropolitan Police zu verweigern – diplomatische Immunität und all das.« Als Orb sah, dass Carlyle wieder etwas sagen wollte, hob er die rechte Hand. »Ich habe es allerdings ernst gemeint, als ich neulich erwähnte, dass ich die Polizei gerne bei ihren Nachforschungen unterstützen würde. Falls Señor Gori mit Ihnen sprechen möchte, genehmige ich gerne ein solches Gespräch.«
»Vielen Dank.«
Orb machte eine Handbewegung, die zum Ausdruck bringen sollte, dass es nicht der Rede wert sei. »Aber Sie verstehen, dass es seine Entscheidung sein muss.«
»Ja.«
»Sehr gut.« Orb streckte die Hand aus und drückte eine Taste an seinem Telefon. »Claudia?«
»Si, embajador?«, erwiderte die Sekretärin unverzüglich.
Orb schaute Carlyle an. »Auf Englisch, bitte.«
»Ja?«
»Könnten Sie Matias Gori bitten, auf einen Moment zu uns zu kommen?«
»Oh, Sir. Ich glaube, Mr Gori ist derzeit nicht im Haus.«
Orb zog die Augenbrauen hoch, und sein Gesicht umwölkte sich verärgert. »Wissen Sie, wo er ist?«
»Ich werde mich noch mal mit seiner Assistentin kurzschließen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er heute Morgen nach Madrid geflogen ist. Er war auf dem Rückweg nach Santiago.«
Orb seufzte. »Ich verstehe. Bitte überprüfen Sie das für mich und teilen mir mit, falls es so ist. Und finden Sie heraus, wann er wieder in London erwartet wird.«
»Natürlich.«
Orb beendete das Gespräch. »Tut mir leid, Inspector«, sagte er, schob seinen Sessel vom Schreibtisch zurück und stand auf. »Sieht so aus, als hätten Sie heute kein Glück.«
Carlyle erhob sich und machte mit ausgestreckter Hand einen halben Schritt auf den Schreibtisch zu. »Das ist okay. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Orb und gab ihm lächelnd die Hand.
Carlyle ließ sich allerdings nicht so einfach abspeisen; er hatte noch einen Wunsch. »Könnte ich mit Mr Gori sprechen, wenn er wieder in London ist?«
»Ist der Fall dann immer noch nicht abgeschlossen?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Falls er mich in der Zwischenzeit aus Santiago anrufen könnte, wäre das hilfreich.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Orb, kam um den Schreibtisch herum und geleitete Carlyle zur Tür. »Jetzt muss ich leider an einer ziemlich langweiligen Besprechung teilnehmen, sodass Claudia Sie hinausbegleiten wird.«
»Nochmals vielen Dank für Ihre Zeit.«
»Nicht der Rede wert.« Orb klopfte ihm auf die Schulter. »Ich würde gern wissen, wie es weitergeht. Ich finde das irgendwie faszinierend.«
Als Carlyle draußen auf der Straße zusah, wie sich der Verkehr ungleichmäßig um den Portman Square schlängelte, wurde ihm klar, dass die Botschaft kaum mehr als zehn Minuten zu Fuß von der Paddington-Filiale von Avalon entfernt war, dem internationalen medizinischen Wohlfahrtsverband, in dem seine Frau als leitende Verwaltungsangestellte arbeitete. Er beschloss, die günstige Gelegenheit wahrzunehmen, ging die Edgware Road hoch und stellte sich einer komatös wirkenden Empfangsdame mit einem Ring durch die Nase vor, mit dem sie noch hässlicher aussah, als sie war.
Nach einer ausgedehnten Diskussion mit Helens persönlicher Assistentin informierte die nasenberingte junge Frau Carlyle, er möge doch bitte Platz nehmen, seine Frau wäre gleich bei ihm. Fast zwanzig Minuten später tauchte sie schließlich auf, machte einen enervierten Eindruck und schien nicht besonders erfreut zu sein, ihn zu sehen.
»Was machst du hier?«, fragte sie misstrauisch.
»Ich hatte in der Nähe beruflich zu tun«, sagte Carlyle, während er sich von dem schäbigen Kunstledersofa erhob. Er war entschlossen, sich von der Verdrießlichkeit seiner besseren Hälfte nicht seine Laune verderben zu lassen. »Ich hab gedacht, wir könnten zusammen zu Mittag essen.«
»Du hättest anrufen können«, erwiderte sie und hievte eine überdimensionierte sackartige Tasche mit einem Logo, das er nicht kannte, über die Schulter, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und auf die Drehtür zuging, die auf die Straße führte.
»Das soll dann vermutlich ›Ja‹ heißen«, murmelte Carlyle in gedämpftem Ton, während er ihr in sicherem Abstand folgte.
Sobald er sie eingeholt hatte, einigten sie sich auf ein mexikanisches Restaurant, das auf halber Strecke zwischen dem Bahnhof Paddington und dem Hyde Park lag, fünf Minuten zu Fuß, wenn man zügig ging. Das Lokal war gut besucht, aber sie waren schon mal hier gewesen und wussten, dass die Bedienung zuvorkommend und schnell sein würde.
Helen entspannte sich leicht, weil sie zuversichtlich war, dass sie in einer Dreiviertelstunde wieder draußen wäre. Sobald sie eine Reihe Quesadillas und Enchiladas bestellt hatten, brachte sie sogar ein Lächeln zustande. »Das ist eine nette Überraschung«, sagte sie, wenn auch mit leichter Verspätung, »besonders, weil du in der letzten Nacht so spät zu Hause warst.«
Wenigstens hat sie nicht wieder gesagt, dachte Carlyle, während er an einem Tortillachip knabberte. Weil er sich darauf konzentrierte, die leidlich fröhliche Stimmung beizubehalten, wollte er eigentlich nicht über seine Arbeit reden, aber er wusste, dass das nicht möglich war. Helen gehörte nicht zu den Frauen, die ihren Mann jeden Tag ins Büro gehen ließen und keinen weiteren Gedanken daran verschwendeten, was er tat oder wie er es tat. Sie behielt immer den Überblick darüber, was er vorhatte: sowohl was seine Fälle als auch, und noch aufmerksamer, was den unaufhörlichen Kreislauf der Interna der Metropolitan Police betraf. Carlyle wusste, dass er sich in dieser Beziehung glücklich schätzen konnte. Inzwischen war Helen mehr denn je seine wichtigste Ratgeberin. Sie war diskret, entschlussfreudig und verständnisvoll, und er traute ihrem Urteil rückhaltlos.
Da sie ihn erwartungsvoll anschaute, beugte sich Carlyle über den Tisch und redete mit leiser Stimme. Er wollte nicht, dass die Leute am Nachbartisch – zwei Mädchen, die sich gerade über unterschiedliche Handytarife unterhielten – etwas von ihrem Gespräch mitbekamen. »Es war eine ziemlich heftige Nacht …« Er lächelte matt, bevor er zu erklären begann, dass Sandra Groves und Stuart Joyce hingerichtet worden waren, während er auf der Straße ein Brötchen mampfte.
Er gab ihr die Kurzversion und ließ die Details aus, die ihr vielleicht den Appetit auf ihr Mittagessen hätten verleiden können. Doch auch so machte Helen einen zugleich blassen und wütenden Eindruck, als er mit seinem Bericht fertig war. »Gott sei Dank, dass du nicht da warst!«, zischte sie.
Aber ich war doch da, dachte Carlyle. »Was meinst du damit?«
Sie nahm das Messer vom Tisch und
wedelte damit ungefähr in seine Richtung. »Ich meine, verdammter
Inspector Carlyle, dass Sie dich ebenfalls erschossen hätten, wenn
du nicht weggegangen wärst, um dir was zum Essen zu ho-
len.«
Genau in diesem Moment kam die Kellnerin mit ihrer Bestellung, was ihn davor bewahrte zuzugeben, dass er daran nicht gedacht hatte.
Eine kurze Weile aßen sie schweigend. Nachdem sie zwei Mundvoll Enchilada vertilgt hatte, schien Helen ihren Schock wegen der Todesgefahr, in der ihr Mann geschwebt hatte, überwunden zu haben. »Und warum ist diese arme junge Frau nun erschossen worden?«
»Weiß ich nicht«, sagte Carlyle. »Das ist nicht mein Fall.«
Helen wischte sich die Mundwinkel anmutig mit einer Serviette ab. »Und wenn es nicht dein Fall ist, was hast du dann in dem Krankenhaus gemacht?«
»Nun ja …« Noch einmal erzählte Carlyle ihr die verknappte Version: eine kurze Erläuterung, was die Töchter des Dismas und seine Idee von einer möglichen Verbindung zwischen Agatha Mills und Sandra Groves anging. »Der Freund sagte, dass sie einige Seniorinnen in ihrer Gruppe hätten; die Art Frauen, die seit Jahrzehnten gegen all diesen Kram demonstriert hätten.« Er lächelte milde. »Die Art Frauen, die nach Greenham Common gegangen wären.«
»Nach Greenham Common zu gehen, war völlig in Ordnung«, sagte Helen bissig. »Schließlich hab ich das selbst auch gemacht.«
Carlyle lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt eine Hand hoch. »Ich weiß, ich weiß.«
»Und wenn ich in der vordersten Linie auf dich gestoßen wäre, hättest du in meinen Augen keine große Chance gehabt.«
Du in meinen auch nicht, dachte Carlyle.
»Ich bin froh, dass ich den Mut hatte, dorthin zu gehen«, fuhr Helen fort. »Ich hoffe, Alice hat es auch drauf.«
»Ja«, pflichtete Carlyle ihr bereitwillig bei.
Helen beobachtete ihn aufmerksam, um zu sehen, ob er darauf verzichten könnte, sich über ihren jugendlichen Idealismus von damals lustig zu machen. Als sie überzeugt war, dass er ausnahmsweise der Versuchung widerstanden hatte, sie aufzuziehen, sagte sie: »Wie war noch mal der Name dieser Frauengruppe?«
»Die Töchter des Dismas.«
»Von denen hab ich noch nie was gehört.«
»Dafür gibt es auch keinen Grund.« Carlyle zuckte mit den Achseln. »Dismas war irgendein alter frommer Typ in der Bibel. Hat mit Jesus rumgehangen – so was in der Art. Sie sind nur ein Haufen von religiösen Irren.«
»Aber ich kenne jemanden, der bestimmt von ihnen gehört hat.« Helen griff unter den Tisch und zog ihre Schultertasche auf den Schoß. Nachdem sie ein paar Sekunden darin herumgekramt hatte, zog sie ihr Handy heraus und begann, in ihrem Telefonverzeichnis zu suchen. Die Mädchen am Nachbartisch hatten das Thema Technik abgehakt, sprachen jetzt über Sex und waren gerade dabei, beiläufig Geschlechtskrankheiten miteinander zu vergleichen. Carlyle versuchte, nicht zuzuhören, und sah zu, wie Helen auf die Ruftaste tippte, während er darüber nachdachte, ob er sich einen Teller churros y chocolate bestellen sollte.
»Clara, hier ist Helen! Hallo! Wie geht’s den Jungs? … Gut, ja, uns geht’s allen prima.« Sie grinste Carlyle an. »Ja, er ist immer noch Polizist. Ich weiß, ich hab die Hoffnung aufgegeben, dass er jemals einen anständigen Beruf ergreift.«
Carlyle schnitt eine Grimasse, und sie streckte ihm die Zunge raus.
»Hör mal, Clara, entschuldige bitte, dass ich beim Mittagessen störe, aber ich wollte nur schnell etwas überprüfen. Hast du schon mal von einer Organisation namens Töchter des Dismas gehört – Dismas. Sie ist eine internationale Kirchenvereinigung gegen Armut. Ich müsste wissen, ob eine Frau namens …«
»Agatha Mills«, steuerte Carlyle bei.
»Ob eine Frau namens Agatha Mills zu den Mitgliedern gehört. Ich glaube, es ist ziemlich dringend, deshalb hab ich angerufen … Das ist sehr lieb von dir … Ja, auf dem Handy. Ich höre von dir – tschüs!«
Clara? Carlyle konnte sie nicht unterbringen, aber das war keine große Überraschung. Er schenkte Helens Netzwerk von Freunden, Bekannten, Kollegen und Ansprechpartnern, das sehr viel größer war als sein eigenes, nur ganz am Rande Beachtung. »Wer war das?«, wollte er wissen.
»Niemand, der je bereit wäre, mit dir zu sprechen«, sagte Helen mit zuckersüßer Stimme. »Beruflich, meine ich natürlich.«
»Das grenzt es nicht sonderlich ein.« Carlyle grinste. »Lust auf einen Nachtisch?«
»Für mich nur einen grünen Tee«, erwiderte sie, »aber wenn du ein Auge auf die Schokoladen-Donuts geworfen hast, will ich dich nicht abhalten.«
Die Kellnerin räumte den Tisch ab. Mit einer gewissen Anstrengung beschränkte sich Carlyle auf einen doppelten Espresso. Die Getränke kamen innerhalb weniger Minuten, und er nahm gerade den ersten Schluck, als Helens Handy auf dem Tisch zu vibrieren begann. Sie hielt es sich ans Ohr. »Clara? Meine Güte, das ging aber schnell … Ja, okay … interessant. Hör mal, tausend Dank, dass du mich so schnell zurückgerufen hast. Falls ich noch irgendwas in dieser Sache brauche, kann ich mich dann noch mal bei dir melden? Super. Noch mal vielen Dank. Wir müssen uns bald sehen. Tschüs!«
Sie beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder in ihre Tasche.
»Und?«, fragte er.
»Sieh mal einer an, Inspector.« Sie grinste und nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Du scheinst schließlich doch mal auf der richtigen Spur zu sein. Agatha Mills war nicht nur Mitglied der Töchter des Dismas, sie hat sogar ein paar Jahre für sie gearbeitet.«
»Hier in London?«
»In Chile.«
Verdammt, dachte Carlyle, das ist wirklich interessant.
Helen nahm noch einen großen Schluck Tee, hievte sich die Tasche über die Schulter und stand auf. »Ich muss zurück zur Arbeit«, sagte sie und beugte sich über den Tisch, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. »Versuch heute Abend mal, früh zu Hause zu sein.«
»Mach ich.«
»Gut«, sagte sie und schob sich zwischen den Tischen hindurch. »Vielen Dank für das Mittagessen. Ich glaube, ich hab es mir verdient.«
Nachdem Carlyle brav die Rechnung bezahlt hatte, nahm er die U-Bahn zurück zur Tottenham Court Road und ging zur Charing Cross Police Station. Als er in die William IV Street einbog, sah er zu seiner Überraschung, dass die Straße abgesperrt war und sich eine kleine Menschenmenge davor versammelte. Er ging an den Schaulustigen vorbei, duckte sich unter dem Absperrband hindurch und zeigte seinen Ausweis einer jungen Polizistin, die er nicht kannte.
»Was ist los?«, fragte Carlyle.
»Ich bin mir nicht sicher, Sir«, sagte die aufgeregte Beamtin, »aber vor ungefähr einer Stunde wurden alle aufgefordert, das Gebäude zu verlassen.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Ship and Shovel an der Ecke. »Die meisten sind in den Pub gegangen.«
Das war zu erwarten, dachte Carlyle. Als er eine Hand auf der Schulter spürte, drehte er sich um.
»Hallo, Boss.« Joe Szyszkowski steckte die Hand wieder in die Tasche seines Jacketts und wiegte sich sacht auf den Absätzen.
»Was ist hier los?«, wiederholte Carlyle.
»Das liegt an Dennis Felix.«
»An wem?«
»Das war der Bongospieler an der Piazza.« Joe zog ihn von der Polizistin weg, sodass sie jetzt in der Mitte der leeren Straße standen. »Offensichtlich«, sagte er mit einem Bühnenflüstern, »hatte er sich mit Anthrax infiziert.«
Carlyle kratzte sich am Kopf. »Herr im Himmel!«
»Kann man wohl sagen. Man nimmt an, dass er sich an den Tierhäuten angesteckt hat, mit denen die Bongotrommeln bezogen waren.«
»Pech gehabt«, sagte Carlyle, der versuchte, Informationen darüber, was Anthrax war und wie genau man es sich einfing, aus den Tiefen seines Gehirns ans Licht zu holen. Soweit er sich erinnern konnte, atmete man Sporen ein, aber er hatte keine Ahnung, was das mit Tierhäuten zu tun haben sollte. Zum Teufel noch mal! Plötzlich fragte er sich: Könnte er sich nicht auch angesteckt haben? Soweit er sich erinnern konnte, hatte er die Trommeln tatsächlich nicht berührt, war aber ziemlich nah herangegangen, um sie sich genauer anzusehen. So beiläufig wie möglich rieb er sich die Kehle und hustete kurz. Vielleicht fühlte er sich doch nicht ganz auf der Höhe?
»Sie haben zwei Typen mit Chemikalienschutzanzügen reingeschickt«, fuhr Joe fort, der von den privaten medizinischen Sorgen seines Chefs nichts mitbekam, »die die Bongos aus der Asservatenkammer rausholen sollen. Die Station ist vor einer halben Stunde evakuiert worden.«
»Herr im Himmel.« Carlyle rieb sich diesmal noch heftiger an der Kehle.
»Das hat einen ziemlichen Aufruhr verursacht.«
»Kann ich mir vorstellen«, erwiderte Carlyle, der sich mittlerweile Sorgen wegen des leichten Kratzens machte, das er bei jedem Schlucken im Hals spürte.
»Und Dave Prentice ist zu einem Check-up ins Krankenhaus geschickt worden.«
Prentice? Was ist mit mir? Carlyle sagte sich, dass er nicht so ein Waschlappen sein solle, und dachte daran, dass er es gewesen war, der Prentice angewiesen hatte, die verdammten Bongos in die Station zu bringen. Er hatte ja nicht wissen können, dass sie ein Gesundheitsrisiko darstellten, aber falls Prentice krank wurde oder, was Gott verhüten möge, starb, konnte Carlyle sich ohne große Mühe vorstellen, dass es am Ende seine Schuld sein könnte. Er spürte, wie sein Herzschlag sich leicht beschleunigte. »So ernst kann es nicht sein, oder?«
»Nee«, erwiderte Joe, der einen nicht völlig überzeugten Eindruck machte. »Du weißt, wie es mit diesen Sachen ist – eine Panik auslösen, den Leuten eine Scheißangst machen und dann weitergehen. Das ist der Lauf der Dinge.«
Das wollen wir hoffen, dachte Carlyle.
»Wie dem auch sei«, sagte Joe, »ich glaube, ich mache Schluss für heute. Die Missus macht heute Abend ein Curry. Bis morgen.«
»Okay, bis morgen.« Carlyle sah zu, wie Joe sich auf der Straße entfernte, und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Er war noch zu keinem bestimmten Ergebnis gekommen, als Joe stehen blieb, kehrtmachte und die halbe Strecke wieder zurückkam.
»Fast hätt ich’s vergessen«, rief der Sergeant. »Eine Fiona Singleton hat für dich angerufen.«
Carlyle verzog das Gesicht, um zum Ausdruck zu bringen, dass ihm der Name nichts sagte.
»Sie ist Sergeant in Fulham«, erklärte Joe.
Singleton, fiel Carlyle jetzt wieder ein, war die Beamtin, mit der Rosanna Snowdon über ihren Stalker gesprochen hatte, einen Loser namens … Carlyle versuchte, sich an ihr Treffen in der Patisserie Valerie und daran zu erinnern, wie der Kerl hieß, aber das war noch ein Detail, das ihm entfallen war. Vielleicht spielte Anthrax seinem Gedächtnis einen Streich. »Hat sie gesagt, worum es geht?«
»Nein.« Joe schüttelte den Kopf.
Wenigstens ist sie diskret, dachte Carlyle. Er gab Joe ein Zeichen mit der Hand. »Okay, ich werde sie zurückrufen. Vielen Dank. Bis morgen.«
»Klar, keine Ursache.« Joe drehte sich um und machte sich wieder auf den Heimweg. Diesmal blieb er nicht mehr stehen. Carlyle sah ihn um die Ecke verschwinden, holte sein offizielles Diensttelefon aus der Jackentasche, fand die Nummer, die er suchte, und hörte dem Klingelton zu. Er hatte sich schon fast damit abgefunden, eine Voicemail zu hinterlassen, als sich am anderen Ende ein wirklich lebendiger Mensch meldete.
»Hallo?«
»Susan?«
»Ah, John.« Die Frau lachte. »Lassen Sie mich raten: Sie stehen auf der Agar Street und fragen sich, was zum Teufel los ist.«
»In Wahrheit«, sagte er zu ihr, »stehe ich direkt um die Ecke und frage mich, was zum Teufel los ist.«
»Nicht schlecht geraten, oder?«
»Susan Phillips – so viel mehr als bloß eine Feld-Wald-und-Wiesen-Rechtsmedizinerin.«
»Ich verstehe das als Kompliment.«
»Es ist auch eindeutig als Kompliment gemeint. Was zum Teufel ist denn los? Mein Sergeant sagt mir, es wäre ein Anthrax-Alarm. Soll ich zum nächsten Krankenhaus oder zum nächsten Priester laufen?«
»Zu keinem von beiden, ehrlich.« Phillips seufzte, von Gelächter war in ihrer Stimme jetzt nichts mehr zu spüren. »Was sich bei euch abspielt, ist eine komplette Überreaktion. Der arme Mr Felix ist tatsächlich gestorben, weil er Anthraxsporen eingeatmet hat, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den Häuten an seinen Trommeln stammen.«
»Wie hat er das hingekriegt?«
»Er war ein Typ, der gerne in der Weltgeschichte rumgereist ist, und ich nehme an, dass er die Häute in Afrika gekauft hat. Es kommt ziemlich oft vor, dass Tiere beim Grasen die Sporen aufnehmen oder einatmen. Befallene Tiere können Menschen mit Anthrax infizieren. Vielleicht hat er ihr Fleisch gegessen oder, was wahrscheinlicher ist, ein paar Sporen eingeatmet, während er die Trommeln mit der Haut bespannt hat.«
»Die arme Sau«, sagte Carlyle voll Mitgefühl.
»Er hat sehr, sehr großes Pech gehabt«, pflichtete Phillips ihm bei. »Es ist nicht völlig ausgeschlossen, aber das Risiko für jeden anderen muss eigentlich sehr gering sein.«
»Was ist dann mit den Jungs in den ABC-Anzügen?«, fragte Carlyle.
»Gute Frage«, antwortete Phillips. »Jemand hätte vorbeikommen und die Beweismittel in aller Ruhe mitnehmen sollen. Dann hätte ich noch ein paar Tests anstellen können, und wir hätten jeden im Auge behalten können, von dem wir glaubten, bei ihm bestünde auch nur eine winzige Chance, dass er irgendwas abgekriegt hätte. Auf diese Weise in die Station zu gehen, war erheblich übertrieben.«
»Wessen Entscheidung war das?«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. »Was meinen Sie denn?«
»Simpson?«
Phillips senkte ihre Stimme ein wenig. »Commander Carole Simpson, jedermanns liebste Bürokratin.«
»Aber wie ist dieses Problem so weit oben auf ihrem Schreibtisch gelandet?«
»Sie wissen doch, wie diese Dinge laufen, John«, sagte Phillips. »Niemand wollte eine Entscheidung fällen, und deshalb wurde es auf dem Befehlsweg so weit nach oben geschoben, bis es bei jemandem ankam, der den Schwarzen Peter nicht mehr weitergeben konnte und irgendwas tun musste.«
»Safety-first-Simpson.«
»Das hier ist nicht Safety first«, höhnte Phillips, »das ist blinde Panik. Sie ist wahrscheinlich gelähmt vor Angst, sie könnte von jedem verklagt werden, der innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden einen Fuß in die Charing Cross Station gesetzt hat.«
»Kann gut sein«, stimmte Carlyle zu. »Vielleicht sollte ich sie selbst verklagen.«
Phillips lachte. »Vielleicht sollten Sie das. Ich bin überzeugt, Ihr Gewerkschaftsvertreter würde Ihnen nur zu gern helfen.«
»Keine Frage.«
Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Phillips sagte zu jemandem: »Keine Sorge, ich komme gleich«, und dann gab es eine Pause, während sie einer Antwort zuhörte. »John«, sagte sie wieder ins Telefon, »ich muss jetzt hier weitermachen. Aber keine Sorge. Glauben Sie mir, es besteht kein Risiko. Zweifellos wird es in den nächsten Stunden noch ein ziemliches Chaos geben, aber morgen früh sollte alles wieder beim Alten sein. An Ihrer Stelle würde ich mir den Rest des Nachmittags freinehmen.«
»Gute Idee!« Carlyle war erfreut, dass seine Befürchtungen zerstreut worden waren. »Danke für den Tipp. Hat gutgetan, mit Ihnen zu sprechen, Susan. Bis bald.«
»Ganz meinerseits, John. Machen Sie’s gut.«
Die Leitung war tot, und Carlyle stand einen Moment da und musterte den Schauplatz. Es hatte sich nicht viel geändert: Immer noch stand dieselbe Polizistin auf einer Seite des Absperrbands und eine kleine Gruppe von Schaulustigen auf der anderen. Dann sah er aus der Richtung St. Martin’s Lane ein Kamerateam auf sich zukommen. »Das ist das Zeichen für meinen Abgang«, sagte er zu sich und brach auf in die entgegengesetzte Richtung, auf die Piazza zu, wo Dennis Felix seine letzten Trommelschläge gemacht hatte.
Als er die King Street erreichte, schaute er auf seinem Handy nach der Uhrzeit. Er hatte gerade noch Zeit für eine schnelle Trainingseinheit im Fitnesscenter Jubilee Hall und würde trotzdem rechtzeitig nach Hause kommen, um Alice zu treffen, wenn sie aus der Schule kam. Das war die Art metrosexuelles Multitasking, das Helen mehr beeindrucken würde, als dass er es nach Paddington zum Mittagessen geschafft hatte. Zumindest hoffte er das. Ein Lächeln spielte auf seinen Lippen, als er das Handy ans Ohr nahm, um ihr die gute Nachricht zu überbringen.