Neunundzwanzig

Commander Carole Simpson saß in ihrem Büro im zwölften Stock des hässlichen Bürogebäudes aus den Sechzigerjahren, das immer wieder als »Großbritanniens einschüchterndste Polizeistation« beschrieben wurde, und hatte den Kopf in die Hände gestützt, während sie mit den Tränen kämpfte. Die Dinge entwickelten sich nicht nach Plan. Ohne Zweifel würde das hier der schlimmste Tag ihres Lebens werden.

Im Untergeschoss veranstaltete einer ihrer Assistenten für eine kleine Gruppe ausgewählter Journalisten eine Führung durch die Spezialzellen für Terrorverdächtige, die gerade für eine schlappe halbe Million Pfund renoviert worden waren. Dieses Projekt, zu dessen Ausstattung mit braunem Papier bezogene Wände – um sicherzustellen, dass die Verdächtigen nicht mit irgendwas in Berührung kamen, von dem sie später behaupten könnten, sie hätten sich daran angesteckt – und Geräte gehörten, mit deren Hilfe Filme gesehen und Musik gehört werden konnten, war Simpsons Idee gewesen. Sie hatte es gut betreut, und heute hätte sie eigentlich die Belohnung dafür einstreichen sollen, dass sie sowohl die Arbeit rechtzeitig und – mehr oder weniger – im Rahmen des Budgets zum Abschluss gebracht als auch das ganze Gestöhn der Anti-Terror-Einheiten toleriert hatte, denen diese neuen Vorkehrungen für einige von Großbritanniens meistgesuchten Verbrechern viel zu luxuriös waren.

Simpson, die alles andere als schüchtern war, wenn es um persönliche Publicity ging, freute sich seit mehreren Wochen auf einen weiteren allzu flüchtigen Moment im Rampenlicht der Medien. Sie hatte begriffen, dass sie für ihren »Stimmenanteil« in den Medien hart arbeiten musste und man sich keine Gelegenheit, Reklame für die Marke Simpson zu machen, entgehen lassen durfte. Falls sie in der Hierarchie der Metropolitan Police weiter nach oben klettern wollte, war es von entscheidender Bedeutung, sich zu profilieren. Während ihrer gesamten Karriere hatte sie Journalisten als Verbündete gesehen.

Das war vorbei.

Jetzt war sie Köder für die Haie.

An diesem Morgen war sie kurz vor sechs Uhr von zwei stämmigen, unrasierten Männern rüde geweckt worden, die an die Eingangstür ihres Hauses in Highgate hämmerten. Simpson, die immer schon einen leichten Schlaf gehabt hatte, war aus dem Bett gesprungen und hatte ihren Mann verflucht, der glücklich vor sich hin schnarchte. Sie zog die Vorhänge zurück, machte das Fenster auf und steckte den Kopf heraus.

»Verpisst euch«, rief sie, »oder ich hole die Polizei.«

»Wir sind die Polizei, Madam«, hatte einer der Männer zu ihr hochgerufen und breit gegrinst; sein Ton war angesichts der Tatsache, dass er genau wissen musste, wer sie war, noch ärgerlicher.

Sie hatte es zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen, aber die Polizisten hatten ein Kamerateam und zwei Zeitungsjournalisten im Schlepptau. Die ersten Sätze waren bereits gespeichert, die ersten Bilder schon übertragen, als Simpson nach unten ging und verlegen die Haustür öffnete. Sie war im Begriff, wie ein Tier zur Schlachtbank geführt zu werden.

Fünfundvierzig Minuten später stand sie wieder auf der Türschwelle und trank schwarzen Kaffee aus einem Becher, während sie zusah, wie ihr Mann, mittlerweile in Handschellen, von einem der Beamten auf den Rücksitz eines schwarzen Range Rover geschoben wurde. Der andere war damit beschäftigt, Kartons voller Dokumente in den Kofferraum zu laden. Vorher hatte sie ungläubig zugesehen, wie Joshua über seine Rechte informiert und ihm mitgeteilt wurde, dass er wegen des Verdachts der Verabredung zum Betrug verhaftet werde.

»Schick mir den Anwalt«, war das Einzige, was er zu ihr gesagt hatte, bevor sie ihn aus dem Haus führten.

Jetzt, mehr als sechs Stunden später, wurde schmerzhaft klar, in was für einer riesengroßen Scheiße sie steckte. Die im Internet präsentierte Titelseite des Evening Standard zeigte ein Foto von Carole und Joshua an ihrem Hochzeitstag – wo um alles in der Welt hatten sie das aufgetrieben? – unter einer Schlagzeile, die lauthals verkündete: EHEMANN VON SPITZENCOP WEGEN 650-MILLIONEN-BETRUG VERHAFTET. Joshua wurde als »britischer Bernie Madoff« bezeichnet, nach dem amerikanischen Finanzier, der zu einer Gefängnisstrafe von hundertfünfzig Jahren verurteilt worden war, weil er der führende Kopf eines Vierzig-Milliarden-Dollar-Schwindels war, der Tausende von Investoren in den finanziellen Ruin getrieben hatte.

Als Simpson am Ende der Story angelangt war, verzog sie das Gesicht. So wie sich das Stück las, musste sie entweder eine Mitwisserin und Komplizin oder eine vollkommene Närrin sein, weil sie nicht bemerkt hatte, was genau vor ihrer Nase ablief. Sie legte die Hände flach auf den Tisch und versuchte es mit Tiefenatmung. Neben ihrer rechten Hand lag ein einzelnes DIN-A4-Blatt mit einer darauf getippten Stellungnahme, die nur zwei Absätze umfasste. Die Stammgäste des World Wide Web hatten sie bis jetzt noch nicht aufgegriffen, aber Scotland Yard hatte es zumindest geschafft, eine Presseerklärung herauszugeben, in der festgestellt wurde, dass Commander Simpson selbst auf keinen Fall im Verdacht irgendeines Fehlverhaltens stand und dass sie weiterhin ihre Pflichten erfüllen würde.

Darüber dachte Simpson einen Moment nach. Wie hatten sie es geschafft, in ihrem Fall so schnell zu einer derart eindeutigen Entscheidung zu kommen? Sie wollte nicht länger darüber nachdenken. Sowohl sie als auch Joshua mussten im Vorlauf zu seiner Verhaftung seit Langem unter Überwachung gestanden haben. Die Arschlöcher hätten bestimmt alles – Bankauszüge, Telefonunterlagen, E-Mails – ganz genau unter die Lupe genommen.

Mit zitternder Hand ergriff sie die Presseerklärung und las sie noch einmal. Was Unterstützungsbotschaften anging, erfüllte diese im Moment so ziemlich alle Wünsche, die sie haben konnte. Längerfristig gesehen, das wusste sie, war ihre Karriere vorüber. Bis jetzt waren heute exakt null Bekundungen der Solidarität von irgendwelchen Vorgesetzten bei ihr eingetroffen. Der einzige Anruf war von der Personalabteilung gekommen, die ihr einen Sonderurlaub aus familiären Gründen anbieten wollte. Simpson schnaubte bei dem Gedanken. Was glaubten die, mit was für einem Trottel sie es zu tun hatten? Sobald man sie einmal vor die Tür gesetzt hatte, würde es schwierig, vielleicht sogar unmöglich, wieder hereinzukommen. Der Urlaub würde in eine – sehr – frühe Pensionierung münden oder, schlimmer noch, in eine Versetzung auf irgendeinen hoffnungslosen Job als Verbindungsbeamtin zur Gemeinde in einem beschissenen Teil der Hauptstadt.

Commander Simpson trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch und versuchte nachzudenken. Der Familienanwalt, ein früherer Staatsanwalt namens John Lucas, der eine erstaunliche Summe von achthundert Pfund pro Stunde berechnete, traf sich gerade mit Joshua in der Polizeistation Kentish Town – wenigstens hatte man ihn nicht hierher, nach Paddington gebracht! Sobald das vorüber war, würde Simpson mit Lucas sprechen müssen, um einen kompletten Lagebericht zu bekommen. In der Zwischenzeit konnte sie nur warten.

Zu keiner Zeit kam ihr der Gedanke, dass Joshua unschuldig sein könnte. Jetzt ging es nur noch um den Prozess. In ihrem Kopf konnte Simpson hören, wie sich das Getriebe des Systems knirschend in Bewegung setzte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf der falschen Seite des Gesetzes. Ihr war kalt, und sie kam sich hilflos vor.

Langsam machte der Schock einer gewissen Frustration und Wut auf ihren Mann Platz. Wie sie befürchtet hatte, hatte Joshua sich von einer gefährlichen Mischung aus Habgier und Überheblichkeit verführen lassen. Es war dieser Brief, dachte sie, dieser verdammte Brief: Lebt wohl, ihr Trottel! Mit seiner Arroganz und Gehässigkeit war er für zwei amüsante Tagebuch-Storys in der Financial Times gut gewesen, aber letzten Endes hatte er nur dazu gedient, ein paar sehr wichtige Investoren zu verärgern, die Art von Leuten, die jemanden zugrunde richten konnten. Carole spürte wieder, wie ihr die Tränen kamen. Falls Joshua wirklich gedacht hatte, er könne seine Firma zumachen und aussteigen, ohne dass irgendjemand bemerkte, dass es ein riesiges schwarzes Loch gab, musste er verrückt gewesen sein. Andererseits musste er verrückt gewesen sein, das schwarze Loch überhaupt erst zu erschaffen.

Als das Telefon klingelte, zuckte sie zusammen. Sie ließ es klingeln, bis es wieder aufhörte. Ein paar Sekunden später steckte ihre Sekretärin, eine Aushilfskraft, die erst am Tag zuvor angefangen hatte, nervös den Kopf zur Tür herein.

»Commander? Der Bürgermeister ist am Telefon«, sagte die junge Frau und fuhr angesichts der anscheinenden Katatonie ihrer Chefin gleich fort: »Er sagt, er möchte kurz mit Ihnen sprechen. Er macht einen ziemlich wichtigen Eindruck.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand die junge Frau. Ein paar Sekunden später klingelte das Telefon erneut. Simpson nahm langsam den Hörer ab. »Hallo?«

»Carole?«

Simpson zwang sich dazu, sich aufrecht hinzusetzen. »Ja?«

»Hier ist Christian Holyrod.«

Sie versuchte, sich an ihre letzte Begegnung zu erinnern. Es war vor weniger als vierzehn Tagen bei einem Empfang in der City Hall gewesen, auf den ein Dinner zur Spendenbeschaffung folgte. Joshua hatte einen lächerlichen Geldbetrag für ihren Tisch ausgegeben. Holyrod war an jenem Abend sehr liebenswürdig zu ihnen gewesen, hatte über seine Pläne gesprochen, in der nationalen Politik eine größere Rolle zu spielen. Er hatte sogar angedeutet – unverhohlen angedeutet, sobald er sich über den Scotch hermachte –, dass er Downing Street ins Visier genommen hatte. Er umriss seine »mittelfristige Wahlkampfstrategie«, Edgar Carlton als Premierminister zu ersetzen, aber es wurde eindeutig die ganze Zeit immer kurzfristiger. Die Partei war inzwischen schon eine Weile an der Regierung, und die Unterstützung ließ nach. Holyrod war nicht der Einzige, der den Spitzenjob im Auge hatte. Eingefleischte Anhänger wie Joshua – reiche Parteigänger, die einen Führungsanspruch finanzieren könnten – wurden mehr denn je umworben, während rivalisierende Interessengruppen sich auf den Kampf vorbereiteten.

All das schien mittlerweile lange her zu sein. »Ja, Herr Bürgermeister?«, sagte sie und schniefte leise. »Was kann ich für Sie tun?«

»Hören Sie, Carole, es tut mir sehr leid, von dieser … Angelegenheit mit Joshua zu hören.« Holyrod klang verlegen und abgelenkt; im Hintergrund waren Stimmen zu hören, als wäre er bei einem Mittagessen. »Ich bin sicher, es handelt sich nur um ein Missverständnis – eine böswillige Verleumdung.«

»Hoffentlich.«

»Ich bin mir sicher«, sagte Holyrod beschwichtigend. »Sie wissen, wie es heutzutage ist. Alle sind überempfindlich, wenn auch nur der leiseste Verdacht entsteht, irgendwas sei nicht ganz koscher. Wir kopieren darin nur die Amerikaner. Jeder übereifrige Ermittler da draußen ist dauernd auf der Suche nach dem nächsten großen Skalp.«

»Dieser Mann in Amerika hat hundertfünfzig Jahre bekommen«, flüsterte Simpson und versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. »Einhundertfünfzig!«

»Ja, nun«, erwiderte der Bürgermeister, »dazu wird es hier nicht kommen. Ich weiß, dass Joshua so ehrlich ist wie wenige.«

Ich wünschte, das wüsste ich auch, dachte Simpson. »Vielen Dank.«

Der Lärm im Hintergrund erstarb, weil Holyrod offenbar eine ruhige Ecke aufsuchte. »Ich habe selbst etwas Geld bei ihm investiert«, sinnierte er.

Vergangenheitsform, bemerkte Simpson.

»Er hat sich sehr gut um mich gekümmert«, fuhr der Bürgermeister fort.

Das ist es also, worum du dir Sorgen machst, dachte Simpson; die Vorstellung, dass das hier zurückkommen und dich in den Hintern beißen könnte. »Das ist schön.«

»Ja, ich war ein bisschen überrascht, als er beschloss aufzuhören, aber es ist nichts dagegen zu sagen, wenn jemand aussteigt, solange er vorn liegt. Tatsächlich sollten das mehr Leute tun.«

»Ja.«

»Grüßen Sie ihn jedenfalls herzlich von mir, wenn Sie mit ihm reden.«

»Das werde ich. Vielen Dank.«

»Und falls es irgendwas gibt, womit ich helfen kann, melden Sie sich.«

»Das mache ich.«

Es entstand eine Pause.

»Es gibt noch etwas, worüber ich mit Ihnen reden möchte«, sagte der Bürgermeister.

»Ja?«

»Mrs Agatha Mills.«

Angesichts dessen, was heute schon passiert war, brauchte Simpson mehr als einen Moment, um den Namen unterzubringen.

»Die Dame, die in der Nähe des Britischen Museums wohnte«, erklärte der Bürgermeister freundlich.

»Die Frau, die von ihrem Mann erschlagen wurde?«

»Genau die«, sagte Holyrod rasch. »Wie weit sind Sie in dieser Angelegenheit? Sind die Ermittlungen beendet worden? Ist der Fall abgeschlossen?«

Simpson hatte keine Lust zuzugeben, dass sie es nicht wusste. Sie konzentrierte sich stattdessen schnell darauf, was sie wusste. »Der Ehemann hat es eindeutig getan. Dann ist er vor ein Auto gelaufen – oder besser gesagt: einen Lieferwagen, wenn ich mich recht erinnere.« Während sie die Worte aussprach, spürte sie ein Frösteln. Joshua musste unter mindestens so großem Stress stehen wie Henry Mills. Konnte er auf ähnliche Weise reagieren? Nein, versicherte sie sich. Was immer sonst geschehen mochte, er war kein Mann, der versuchen würde, sich umzubringen. Davon war sie überzeugt. Ziemlich überzeugt wenigstens.

Sie riss sich aus ihrer Träumerei. »Der Fall ist abgeschlossen.«

»Gut«, sagte der Bürgermeister fröhlich. »Wäre es möglich, eine Kopie des Abschlussberichts zu bekommen?«

»Nun ja …« Dabei erwischt zu werden, dass sie mit offiziellen Polizeiakten Schindluder trieb, war das Letzte, was Simpson im Moment brauchen konnte.

»Bei völliger Diskretion natürlich.«

Sie dachte noch eine Weile darüber nach. Ach, was zum Geier, es war nicht so, als könnte das Loch, in dem sie bereits saß, noch tiefer werden. Vielleicht könnte etwas Wohlwollen im Büro des Bürgermeisters während der kommenden Wochen ganz hilfreich sein. »Natürlich. Ich lasse Ihnen etwas rüberschicken.«

»Vielen Dank«, erwiderte der Bürgermeister. »Und denken Sie daran, Joshua zu grüßen.«

Die Leitung war tot, bevor sie antworten konnte. Simpson legte den Hörer vorsichtig auf die Gabel zurück. Warum war der Bürgermeister so sehr an dem Fall Mills interessiert? Und warum hatte sie selbst noch kein Exemplar des Abschlussberichts gesehen? Sie stand auf, ging um ihren Schreibtisch herum zur Tür und verließ ihr Büro, wobei sie ihre Sekretärin überraschte, die in ein jämmerliches Klatschmagazin vertieft war. Simpson zog die Augenbrauen angesichts der Schlagzeile hoch – SOMMER-SONDERBERICHT FETTABSAUGUNG –, sagte aber nichts dazu. Die Sekretärin steckte das Heft in ihre Handtasche und schaute erwartungsvoll hoch.

Simpson versuchte, ihren üblichen gebieterischen Tonfall aufzubieten. »Holen Sie mir Inspector Carlyle an den Apparat.«